Mal wieder Nabel der Musikwelt

Die Donaueschinger Musiktage verstehen sich als die weltweit bedeutendste Leistungsschau des Komponistenhandwerks, und in der Tat ist es beachtlich, welche zu Klassikern gewordenen Werke hier seit 1921 uraufgeführt wurden. 2012 gab es an drei Tagen bei 10 Veranstaltungen 28 Uraufführungen von Künstlern aus 15 Nationen. Das teils furiose Abschlusskonzert am gestrigen Sonntag präsentierte teils große Orchestermusik, Stand 2012

Ganz leicht hat es die sogenannte neue oder zeitgenössische Musik derzeit nicht. Sie hängt am Tropf des Staates, und nur wenige lebende KomponistInnen schaffen es, sich beim breiteren Publikum einen Namen zu machen. Aus dem Komponistengenie der Romantik ist im Laufe des 20. Jahrhunderts der (gelegentlich durchaus wohlbestallte) Kompositionsprofessor geworden. Selbst etwas wie ‚Tage für neue Musik‘ mussten sich erst in den letzten hundert Jahren herausbilden, nachdem das Publikum ab etwa 1900 begann, sich von der zeitgenössischen E-Musik abzuwenden. Bis dahin hatte es nach Novitäten geradezu gelechzt, und viele Werke wurden schon aufgeführt, während die Tinte der Notenkopisten noch feucht war.

Donaueschinger Musiktage als Karriereschritt

Ein paar Großkomponisten gibt es aber auch in den letzten Jahrzehnten noch, und so manche dieser Laufbahnen wie etwa jene Wolfgang Rihms oder Karlheinz Stockhausens ist auch mit Donaueschingen verbunden, denn bei den Musiktagen werden – wie bei jedem Jahrmarkt der Eitelkeiten – natürlich auch Beziehungen geknüpft und Karrieren gemacht. In Donaueschingen uraufgeführt zu werden, ist für jüngere KomponistInnen eine große Chance und stellt eine echte Referenz dar, nicht zuletzt dank der Rundfunkaufnahmen des Mitveranstalters SWR, die von anderen Rundfunkanstalten in aller Welt ausgestrahlt und teils auf CD veröffentlicht werden.

Man darf aber angesichts der Fülle der Uraufführungen auch nicht vergessen, dass sich die meisten Werke, die in Donaueschingen das Licht der Welt erblicken, nicht durchsetzen und – oft mit einigem Recht -– der Vergessenheit anheimfallen. Unter dem Vorwand hochphilosophischer Stille wird gelegentlich auch hörbar Leerlauf produziert und schlichtweg Zeit geschunden. Oder wie ein sichtlich entnervter Musiker nach einer Uraufführung anmerkte: „Jetzt haben wir das Ding tagelang geprobt und einmal gespielt, und jetzt kann man’s endlich vergessen.“ Gerade dass man kaum vorhersehen kann, was einen erwartet, macht einen Besuch in Donaueschingen oft spannend.

Abschluss mit großem Orchester

Das Abschlusskonzert, das traditionell vom weltweit für seinen Einsatz in Sachen zeitgenössischer Musik bekannten SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg bestritten wird, lieferte einen guten Eindruck davon, was Komponisten heute an Klangvorstellungen haben und den Musikern und dem Publikum zuzumuten bereit sind. Nach dem Ende der Nachkriegsavantgarde, die bis in die sechziger Jahre hinein Paradigmen dafür abgab, wie zeitgenössische Musik zu klingen hatte, befindet sich die Komponistenszene seit Jahrzehnten in einer Zeit des „Anything goes“, und selbst ein vereinzelter Dreiklang würde heute wohl niemanden mehr dazu bringen, den Urheber als hinterwäldlerischen Reaktionär zu brandmarken. Als Ideal gilt heute vielmehr ein individuelles Klangbild, das viel Platz für Überraschendes lässt und durchaus auch die Grenzen zu U-Musik, Folk oder zum Jazz ignorieren kann. Der musikalischen Phantasie und der musikalischen Sprache sind scheinbar keinerlei Grenzen mehr gesetzt, eine Tendenz, die durch den zumindest in Donaueschingen oft massiven Einsatz von Elektronik nur verstärkt wird, der dieses Jahr die Konzerte der kleineren Ensembles prägte.

Derzeit herrscht also eine stilistische Vielfalt, die die Ausgangssituation für die Schöpfer neuer Musik wahrlich nicht einfacher macht, denn es gibt eigentlich nichts mehr, gegen das man sich noch effektiv auflehnen könnte. Wie einfach hatte es da doch noch ein Schönberg! Als er um 1909 in freier Tonalität zu komponieren begann, konnte er sich wenigstens noch sicher sein, einen Skandal auszulösen, der ihm mindestens ein paar Jahrzehnte lang den geballten Hass aller reaktionären Holzköpfe dieser Welt eintragen würde. So kam es denn bekanntlich auch, und ein Publikum, das Ausstellungen mit moderner Malerei von Picasso oder Kandinsky zu Hunderttausenden stürmt, wendet sich weiterhin voll Grausen ab, wenn es um die musikalische Entsprechung zu dieser Malerei geht, also etwa die Musik Schönbergs.

Wie sieht es also mit den drei Uraufführungen des Abschlusskonzertes aus, Werken, die übrigens allesamt ein (gelegentlich gegenüber dem romantischen um einige Instrumente und Klangquellen erweitertes) Orchester verwenden, aber keine Elektronik einsetzen? Wo stehen diese Komponisten, was unterscheidet, was verbindet sie mit den Altvorderen, seien es nun die Romantiker wie Schumann oder die Klassiker der Moderne wie Schönberg & Co.?

Drei Positionsbestimmunger neuer Musik

Seit man Werke nicht mehr ganz einfach als „2. Sinfonie“ oder als „Klavierkonzert No. 3“ bezeichnet, geben die oft kryptischen Werktitel kaum Aufschluss darüber, womit man zu rechnen hat, sondern versuchen vor allem, das Werk als ein individuelles Musikstück aus der Masse der anderen Werke heraus zu heben – was nicht immer gelingt und gelegentlich sogar zu Titeln führt, die bestenfalls unfreiwillig komisch sind.

Der Hardrocker

Bernhard Gander (*1969), der sich als Heavy-Metal-Anhänger outet, hat sein Werk „hukl“ genannt und will damit auf die Comicfigur Hulk anspielen. „Wann immer er gereizt wird,“ so Gander, „«explodiert» er vor Wut. Ähnlich möchte ich mit dem Klang/Musiker umgehen: infizieren, reizen, explodieren lassen.“ Das ca. 20-minütige Werk für großes Orchester setzt vor allem auf kleine, rhythmisch stark akzentuierte Strukturen, die es aneinanderreiht und durch verschiedene Instrumente wieder aufnehmen lässt, ehe eine komplett andere, ebenfalls meist rhythmisch akzentuierte Struktur an ihre Stelle tritt. So entsteht weniger eine Entwicklung, die auf eine Einheit des Werkes abzielt, die sich von Anfang bis Ende des Stückes entfaltet. Es ergibt sich vielmehr eine Aneinanderreihung von Einzelteilen, eine Art postmodernen Flickenteppichs, der allerdings nicht so beharrlich dicht aus Wiederholungen gewoben ist wie manche Werke der Minimal Music. Dadurch, dass Gander darauf verzichtet, immer wieder einmal aus seinem Schema auszubrechen, liefert er mit diesem Stück eine Art unablässiger Aufeinanderfolge einzelner kurzer Riffs, und dieses Konzept trägt vielleicht über 10 Minuten, wirkt aber irgendwann im zweiten Drittel des Stückes zermürbend – der Hörer ahnt (und das schon bei der Uraufführung!), wie es in den Minuten 10-17 weitergehen wird. Diese Musik explodiert also ganz und gar nicht, der von Bernhard Gander beschworene Hulk hat sich offensichtlich bei seinen ersten Sprüngen einen Hexenschuss geholt.

Klangpoesie

Von ganz anderer Machart waren die beiden weiteren Werke des Abends, vom SWR Sinfonieorchester unter Leitung seines Chefdirigenten François-Xavier Roth kongenial aufgeführt. Beiden Stücken gemeinsam ist gegenüber dem Werk von Gander eine etwas traditionellere Herangehensweise, die die Einheit des Werkes über seinen ganzen Verlauf zu bewahren trachtet. Während das Werk von Bernhard Gander aus Mosaiksteinen besteht, die man teils auch in einer anderen Reihenfolge anordnen könnte, hat Aureliano Cattaneos „Blut“ einen zwingenden Verlauf in der Zeit, der das Stück zusammenhält. Das Opus des 1974 geborenen Italieners ist für das „Trio Accanto“ (Klavier, Saxophon, großes Schlagzeug) und Orchester geschrieben, stellt das Trio aber nicht als Solisten einem eher begleitenden Orchester gegenüber, wie es etwa in einem klassischen Tripelkonzert geschieht, sondern nutzt es als ergänzendes Instrumentarium des Orchesters. „Blut“ ist ein feinsinniges, etwa 19-minütiges Klanggewebe, hier und da etwas verhangen und verschwommen, so dass man sich an „impressionistische“ Orchestermusik erinnert fühlt. Auf jeden Fall ist es aber ein Stück, das atmet und durchaus einen romantischen Gestus hat. Man würde seinem Schöpfer jedenfalls auf der Stelle abnehmen, dass er Natureindrücke, Lichtreflexe oder Liebesempfindungen verarbeitet hat – sofern es Sinn macht, so etwas in Musik „verarbeiten“ zu wollen. Jedenfalls weckt Cattaneos Musik starke poetische Assoziationen, dieses Werk mit seinem leisen Ausklang ist eine musikalische Delikatesse, vielleicht manchmal ein Tickchen zu süß, aber das ist Geschmackssache.

Expression

Nicht ganz so delikat, sondern mit einem deutlichen Hang zur intellektuell gestalteten Explosivität kommt das abschließende „Itself“ für Orchester daher. Der 1971 in Paris geborene Franck Bedrossian selbst charakterisiert sein Werk mit Begriffen wie „Sättigung“, „Exzess“, „Farbe“ und „Dichte“, und für einmal (so selten das auch ist) hält hier ein Komponist, was er zuvor versprochen hat. Das Werk ist ein 25-minütiger, höchst spannender Orchesterexzess, der aber nicht in die Phrase abrutscht, dazu ist sich Bedrossian in der Benutzung seiner kompositorischen Mittel bis ins Details hinein zu sicher. Er versteht es bei aller nicht nachlassenden Spannung und stellenweisen akustischen Gewalttätigkeit immer wieder, ganz unerhörte Klänge zu erzeugen, so dass man manchmal zweifelt, ob nicht doch dem Orchestergetümmel elektronische Klänge beigemischt werden. Ein großes Orchester, verstärkt durch diverses Schlagwerk sowie unter anderem durch MusikerInnen, die Styroporplatten mit einem Geigen- oder Cellobogen streichen, kann wirklich zu einem derartig gewalttätigen Klangapparat werden, dass einen eine Gänsehaut packt.

Bedrossian tastet sich nicht ein wenig verhalten durch seine musikalische Welt, wie es Cattaneo teils tut, sondern durchschreitet oder durchstürmt sie, wird dabei aber nie atemlos – er türmt dabei teils unerhörte Klanggebilde auf, die er bei aller Vielgestaltigkeit immer im Griff behält und nicht einfach nur wie glückliche Fundstücke vorzeigt, ehe er dann die nächsten Pretiosen auspackt. Sein Werk hat bei aller brillanten Klangmagie eine innere Logik, und auch hier ist der romantische Gestus des sich selbst entäußernden Künstlers ebenso unüberhörbar wie die Bereitschaft, sich der Komplexität der Welt zu stellen – und dabei vor allem am Schluss dem Affen auch ein wenig Zucker geben. Aber das gehört halt zum Handwerk. Das Publikum war’s zufrieden, und auch das Orchester dankte herzlich und verlieh Franck Bedrossian seinen Preis für das beste Orchesterstück der Donaueschinger Musiktage 2012.

Protest!

Die Verschmelzung des SWR Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart mit dem SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg ab 2016 ist seit ein paar Wochen beschlossene Sache. Ziel ist es, die Zahl der Musiker nach der Verschmelzung bis 2025 durch natürliche Fluktuation (Gang in den Ruhestand, Wechsel zu anderen Orchestern) deutlich zu verringern.

Dagegen regte sich auch bei den Donaueschinger Musiktagen heftiger Protest. So verlas Chefdirigent François-Xavier Roth zu Beginn des Konzertes (und wahrscheinlich auch der Liveübertragung in SWR 2) einige knappe Worte des Protests, wobei er gleich noch den direkt bevorstehenden Untergang Deutschlands mitbeschwor, und forderte das Publikum zu einer Schweigeminute auf. Anlässlich der Verleihung des Orchesterpreises beklagten auch zwei Orchestervorstände einen schwarzen Tag für die Kultur nicht nur Deutschlands, sondern weit darüber hinaus, einen Tag, der aber der Beginn einer breiten Widerstandsbewegung werden müsse – es fehlte nicht viel, und diese befrackten Herrschaften hätten vor versammelter Mannschaft die Systemfrage gestellt. Das klang ein bisschen zu unverhohlen nach Hybris an einem zweifellos ganz furiosen Orchesterabend – weniger Tränendrüse und vor allem Pathos, und diese Reden hätten wesentlich mehr Sympathie für die gerechte Sache erzielt. Franck Bedrossians „Itself“ hatte es doch gerade so schön vorgemacht.

Autor: Harald Borges