Klangmagier unter sich

Park Hye-ohn

Es war angenehmerweise ein Festival der etwas anderen Art: Die „Bludenzer Tage zeitgemäßer Musik“ vom 21. bis 24. November haben vor allem Spaß gemacht – brillante MusikerInnen, gesprächsfreudige Komponisten, ein gastfreundliches Städtchen. Für vier Tage gab es in der lauschigen Bludenzer Remise eine Art Familientreffen musikbegeisterter Menschen, die von zeitgenössischer Musik ebenso angetan waren wie von traditionellen koreanischen Klängen

„Solitaires. Klavierconcerti und Korea“ war das Motto des 25. Jahrganges der „Bludenzer Tage zeitgemäßer Musik“ (BTZM), der neue Musik mit traditioneller koreanischer Musik kombinierte. In drei Konzerten gab es dabei neben aktuellen „westlichen“ Konzerten für Soloklavier und Ensemble fernöstliche Musik in wechselnden Besetzungen zu hören. Nachdem im Eröffnungskonzert zwei Werke von Wolfram Schurig im Blickpunkt standen, bot das Abschlusskonzert ein rein koreanisches Programm. Eine ungewöhnliche Konstellation, die sich einem Studienaufenthalt des Intendanten Alexander Moosbrugger in Südkorea verdankt und großen Anklang fand.

Klangpoesie

Der kanadische, in Berlin lebende Komponist Marc Sabat hat sich intensiv mit den akustischen und mathematischen Grundlagen der Tonerzeugung und mit Intonationssystemen wie der reinen Stimmung und Mikrotönen (Intervallen, die kleiner als Halbtöne sind, also etwa Fünfteltöne) beschäftigt. Seine Auftragsarbeit „Lying in the grass, river and clouds“ für Klavier und 15 Soloinstrumente wurde in Bludenz vom Ensemble Contrechamps Genève unter Leitung von Michael Wendeberg mit dem Pianisten Daan Vandewalle uraufgeführt und spiegelt diese Beschäftigung mit allen Aspekten der Intonation wider.

Sabat versteht in diesem Stück die beteiligten Musiker einschließlich des Dirigenten als frei agierende Solisten. Die Ensembleparts sind fest fixiert, auch rhythmisch, nur das Soloklavier kann seine Noten frei innerhalb vom Dirigenten definierter Zeitabschnitte platzieren. Der Komponist wünscht sich einen freien Fluss der Interpretation und verlangt dabei nicht nur dem Dirigenten einiges ab: Das Tempo ist extrem langsam mit nur einem Schlag alle 1-3 Sekunden und wird von komplexen Rubati (Verlangsamungen) geprägt. Die Instrumentalisten müssen äußerst aufmerksam aufeinander hören, um ihre mikrotonalen Töne so aufeinander abzustimmen, dass Intervalle wie etwa reine Septen zu einem bestimmten anderen Instrument entstehen. Da diese Bezugspunkte aber ständig wechseln und obendrein mit der temperierten Stimmung des Klaviers korrespondieren, stellt das Werk an die Ohren und die Intonation höchste Ansprüche, aber bei einem Ensemble wie Contrechamps überrascht es nicht, dass dabei eine schlüssige Aufführung entstand.

Das alles hört sich fürchterlich kompliziert an und ist es auch, zumindest in der Theorie und für die Ausführenden. Als Marc Sabat im Gespräch direkt vor dem Konzert sein Konzept für dieses Stück erläuterte, konnte ihm wahrscheinlich niemand unter den anwesenden Profis wie Nicht-Profis so recht folgen; auf die Frage eines Laien, wie denn ein Geiger sauber einen Fünftelton spielen könne, verwies Intendant Moosbrugger auf Husserls Phänomenologie, ehe Sabat durchaus auskunftswillig Tiefen der Akustik beschrieb, die sich jedem Normalsterblichen verschließen.

Sabat, der durch seine dicke Elton-John-Brille auf eine Welt mikrotonaler Verrückungen blickt, ist ein in Sachen Musik schwärmerischer, in seinem Herzen reiner, auf Anhieb überzeugender Mensch, der seinen Gesprächspartnern schnell ein höchst individuelles und äußerst reiches Universum musikalischen Denkens eröffnet. Solche Begegnungen sind es, die einen Besuch in Bludenz so wertvoll machen.

Marc Sabats Musik ist anders als seine Selbstbeschreibungen: Sie klingt überhaupt nicht kompliziert, aber sie passt natürlich zu ihm. Anders als etwa Ives‘ Stücke für Vierteltonklavier hört sich das alles nicht schräg an, sondern riecht duftig, Klangfarben wie von Henri Dutilleux locken das Ohr, ab und zu gibt es eine Sommerwiese, der Pianist jazzt gelegentlich – Sabat ist aus europäischer Perspektive ein Musiker der Neuen Welt, dessen Musik nicht schwer daherkommt. Zumindest in diesem Stück ist er kein Komponist der Extreme, er hätte mit seinem Instrumentarium auch Feuer und Schwefel komponieren können. Hat er aber nicht, denn er ist ein Poet, der einen immensen kompositorischen Aufwand betreibt, ein Stück wie dieses zu schreiben, das tiefgründig ist, leicht klingt und gelegentlich auch die existentielle Geworfenheit des Menschen aufblitzen lässt. Letzteres weniger, ersteres mehr. Bei ihm gewinnt man den Glauben zurück, Musik könne auch mal einfach nur schön sein und müsse nicht unbedingt an der bröckelnden Oberfläche der – je nach Blickwinkel verworrenen oder bedrohlichen – Wirklichkeit kratzen. So ganz von dieser Welt ist diese Musik nicht, und das macht sie so hörenswert.

Radikalität

Marc Sabat beschrieb sein eigenes Stück als „es ist wie bei Eichmann, nur zart“. Ein nicht ganz ernst gemeintes Bonmot Sabats, denn Dietrich Eichmann Musik klingt gänzlich anders als jene Sabats.

Eichmanns Konzert „Entre deux guerres“ für Klavier und 14 Musiker (darunter Akkordeon, Saxofon und E-Gitarre) wurde bei den BTZM zum ersten Mal in Österreich gespielt, und zwar ebenfalls vom Ensemble Contrechamps unter Leitung von Michael Wendeberg, dieses Mal aber mit dem Pianisten Stefan Wirth. Das 1999 uraufgeführte Werk ist komplett durchkomponiert. Eichmann hat aber „konsequent Zufallsoperationen zur Findung sowohl der großen formalen Anlage, der einzelnen klanglichen, rhythmischen, harmonischen usw. Bestandteile“ verwendet. „Die so entstandenen Strukturen habe ich in einem weiteren Arbeitsprozess, dem Material gegenüber gewissermaßen die Haltung eines improvisierenden Musikers einnehmend, ausgearbeitet […]“. Das Verblüffende daran: Am Ende entstand bei diesem Verfahren keine in irgendeinem Sinne beliebige Musik, sondern ein echter Eichmann, das heißt, ein radikales Stück bis zur Atemlosigkeit dichter Musik.

Solist, Dirigent und Ensemble gingen Eichmanns Werk sehr musikantisch an, insbesondere Stefan Wirth gab weniger den Grübler an den Tasten als vielmehr den Virtuosen, der mit großer Begeisterung ein durchaus vertracktes Stück Musik in die Hände nimmt und es auch gern mal krachen lässt. Selbst der Dirigent Michael Wendeberg wippte gelegentlich auf den Fußspitzen, als wolle er mehr Swing in die Musik bringen.

Diese Herangehensweise bekommt dem Werk durchaus, es wird zugänglicher, und die ruhigeren Passagen treten deutlicher hervor. „Entre deux guerres“ ist nicht nur ein großer Wurf, dessen Titel „Zwischen zwei Kriegen“ auf die Entstehungszeit zwischen zwei Balkan- und zwei Golfkriegen verweist, sondern bietet auch ein gutes Beispiel für den Eichmannschen Humor. In der Partitur heißt es in Takt 273 „Pianist geht (unauffällig) zum Tamtam“. Stefan Wirth gönnte sich auf diesem Weg erst mal eine kleine Auszeit für ein lauwarmes Bier neben der Bühne, ehe er den Gong ebenso leidenschaftlich bearbeitete wie zuvor und später wieder das Klavier. So viel Zeit muss selbst in der ernsthaftesten Musik sein.

Sanjo und Sinawi

Wem koreanische Musik – vielleicht abgesehen vom gerade so populären Gangnam Style – rätselhaft erscheint, der konnte in Bludenz einiges dazulernen. Das Instrumentarium der vier Musikerinnen, die bei den Konzerten mit westlicher Musik im Duo, beim Abschlussabend, den sie allein bestritten, schließlich im Quartett auftraten, wirkt auf den ersten Blick eher schlicht. Grundlage bildet die Sanduhrtrommel Janggu, deren Spielerin Lee Sang-kyung während der Stücke eine Art musikalischer Regie führte. Kim So-yeon spielte die sechssaitige Zither Geomun’go, die Bambusquerflöte Daegeum wurde von Park Hye-ohn geblasen, und Lee Inhwa spielte auf der Bambusoboe Piri sowie auf dem umwerfenden schalmeienartigen Blasinstrument Taepyeongso, das durchaus geeignet ist, die Mauern von Jericho und noch einiges andere zum Einsturz zu bringen.

Alexander Moosbrugger hatte die Programme geschickt zusammengestellt: Die eher stille Musik von Marc Sabat kombinierte er mit dem melodiösen Duo Daegeum und Janggu, Eichmanns klangpralles Konzert hingegen mit den lauteren Piri sowie Taepyeongso im Duo mit der Janggu und dem Becken Bara, und das ergab jeweils einen stimmigen Abend.

Lee Inhwa

Die Koreanerinnen präsentierten Musik, die nicht aus einer adligen, sondern aus der Volkstradition herstammt und beispielsweise im Rahmen religiöser Zeremonien erklang. Zwei Merkmale sind für europäische Ohren in dieser Musik besonders auffällig. Erstens ist es die oftmals variable Tonhöhe. Während in der europäischen Tradition ein Ton möglichst exakt gespielt und seine Tonhöhe höchstens minimal durch ein Vibrato variiert wird, boten die Koreanerinnen auf Blas- und Zupfinstrumenten harte Arbeit an einzelnen Tönen, deren Höhe um bis zu eine Quarte variiert werden kann – entfernt vergleichbar dem Glissando auf europäischen Instrumenten. Zweitens ist diese Musik ursprünglich nicht notiert, sondern mündlich überliefert worden. SchülerInnen lernten diese Stücke über Jahre hinweg bei einem Meister und veränderten sie später gegebenenfalls. Nachdem die koreanische Kultur unter der japanischen Besatzung 1910-1945 ziemlich unterdrückt wurde, besteht heute das Bedürfnis, dieses musikalische Erbe, das früher oft auch Raum für Improvisationen ließ, zu fixieren, um es zu bewahren, zumal die traditionelle Volksmusik in Korea selbst wohl nicht mehr sehr populär ist.

Die Musikerinnen spielten an den Abenden mit westlicher Musik jeweils im Duo Sanjos, Stücke, die Matthias R. Entreß im Programmheft so charakterisiert: „Nur ein Melodie-Instrument und eine Trommel, lange, komplizierte Melodien, deren jeder Ton im Klingen noch eine Umfärbung erfährt – das ist Sanjo, eine gehobene Unterhaltungsmusik, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufkam. Das Sanjo ist keine Alte Musik im strengen Sinne des Wortes, jedoch die letzte genuin traditionelle Musikform, die im Einklang mit der damaligen Kultur entstand.“ Dabei entstehen teils an Naturstimmungen oder Vogelgesang erinnernde Passagen ebenso wie sehr bewegte und je nach Instrument teils auch sehr laute und schrille Abschnitte, in denen man Lebensfreude und auch ein gerüttet Maß derben Humors zu vernehmen meint.

In ihrem Abschlusskonzert brachten die vier Musikerinnen dann Sinawi, die Musik schamanistischer (Toten-)Zeremonien, zu Gehör. Diese Musik wurde ursprünglich improvisiert und besteht aus einem Wechsel von Passagen, in denen alle gemeinsam spielen, mit Soli einzelner Instrumente. Ähnlich wie beim Sanjo gelten auch hier strenge rhythmische Muster, die aber für westliche Ohren nur schwer zu erkennen sind.

Das Publikum war begeistert, und das ist kein Wunder, denn dies ist eine Musik, in die man sich nach wenigen Minuten eingehört hat – und von der man schon bald wünscht, sie möge nie wieder aufhören…

Autor: Harald Borges

Website: Bludenzer Tage zeitgemäßer Musik: www.btzm.at

Der ORF hat zwei Abende mitgeschnitten. Ein Sendetermin steht schon fest: Am 04.12. um 23.03 Uhr gibt es Marc Sabats Stück „Lying in the grass, river and clouds“ in der Sendung „Zeit-Ton“ zu hören: http://oe1.orf.at/programm/321876

Dietrich Eichmanns „Entre deux guerres“ ist in einer Aufnahme des SWR von der Uraufführung 1999 mit dem Pianisten Christoph Grund, dem Dirigenten David R. Coleman sowie Solisten des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg auf CD erhältlich (www.oaksmus.de und www.amazon.de). Das Ensemble Contrechamps wird dieses Werk erneut am 04.12. in Genf spielen (http://www.contrechamps.ch/concert-dirige-3).

Quellen: Matthias R. Entreß, Sanjo und Sinawi – Kunstvolle Konzertformen der Musik koreanischer Volkstraditionen, in: Programmheft der Bludenzer Tage zeitgemäßer Musik 2012. Zitate von Dietrich Eichmann ebenda.