Literarische Spuren in Mostindien
Der Thurgau sei der am meisten unterschätzte Schweizer Literaturkanton, schrieb das Schweizer Wochenmagazin «Die Weltwoche» (Zürich). Vielleicht habe der Randkanton ohne Zentrum nicht die namhaftesten Schriftsteller hervorgebracht, aber doch die meisten von ihnen beherbergt. Auf deren Spuren begibt sich nun Albert Maurice Debrunners «Literaturführer Thurgau». Und bietet so literarische Archäologie mit Erlebniswert – lesenswert nicht nur für Liebhaber ansprechender Texte, sondern auch für Liebhaber historischer Schauplätze rund um den Bodensee
Wo lebten Hans Leip, Ludwig Hohl oder Golo Mann? Wo wurde Carl Gustav Jung geboren? Auch Sigmund Freud kam an den Bodensee. In seiner Kuranstalt und Sanatorium «Belle-Vue» in Kreuzlingen bot etwa der Psychoanalytiker Ludwig Binswanger dem großen Sigmund Freud und nach 1914 vielen emigrierten Literaten Unterkunft. Auch der Künstler Adolf Dietrich sowie Hermann Hesse, Emanuel von Bodman, René Schickele und viele andere fand Einzug in Debrunners Buch. Eddy Ganders leider geschlossener Landgasthof «Sonne» in Hüttwilen wiederum frequentierten Dürrenmatt, Frisch und öfter auch Niklaus Meienberg.
Der Basler Germanist mit Thurgauer Wurzeln, Dr. Albert M. Debrunner, porträtiert im «Literaturführer Thurgau» (Huber Verlag) auf 180 Seiten alle literarisch ergiebigen Orte und belegt eindrucksvoll, dass in diesem Kanton nicht nur Most aus der Presse kommt. Auch der Einband mit einer expressiven Ansicht vom Bodenseedorf Uttwil des Dresdner Maler Conrad Felixmüller von 1925 lädt zur Lektüre ein (s. Foto).
«Ist das wirklich passiert?»
Wer lebte aber wo genau im Randkanton, am See, in welcher Straße und in welchem Haus? Diesen Fragen geht der «Literaturführer Thurgau» nach. Im handlichen Werk kann man den Spuren vieler Künstlern zu ihren Wohn- und Wirkungsstätten folgen. Auf die große Frage zur Literatur «Ist das wirklich passiert?» fand Erich Kästner einst eine ebenso einfache wie viel sagende Antwort: «Wahr ist eine Geschichte dann, wenn sie genauso, wie sie berichtet wird, wirklich hätte passieren können.» Diese poetische Wahrheit, die mit dem Ort und der Zeit seiner Geschichte zu tun hat, können Literaturinteressierte am Beispiel des Kantons Thurgau erkunden lernen. Ein für Kulturinteressierte verfasster Führer zur literarischen Topographie des Ostschweizer Kantons Thurgau erschließt die klassische Moderne und Literaturgeschichte bis in die Gegenwart in einer spannenden Mischung aus Besichtigung und feinster Lektüre zu Hause.
Von Adolf Dietrichs Malstube in Berlingen über Paul Ilgs vergessenen Geburtsort Salenstein, wo auch René Schickele eine Zeit lebte, oder im Hotel-Restaurant «Adler» in Ermatingen, einem der ältesten Gasthäuser der Schweiz. Im Gästebuch finden sich viele prominente Namen wie Königin Hortense, Charles Louis Napoléon (Napoléon III, daher auch der Name «Auberge Napoléon»), François René de Chateaubriand, Alexandre Dumas père, Kaiserin Eugénie, J. V. Scheffel, Thomas Mann, Wilhelm von Scholz, Ludwig Finckh, Graf Zeppelin, Thomas Mann, Hermann Hesse, Gerold Späth und andere. Golo Mann frequentierte lieber das Gasthaus «zur Krone» in Altnau, wo er seine «Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts» schrieb. Die überaus detaillierten Texte führen zu einer literarischen Archäologie mit Erlebniswert.
Landschaft und Literatur
Die Verbindung von Landschaft und Literatur ist spannend und eröffnet neue Zugänge. In «Mostindien» gibt es viele Spuren zu entdecken: Goethe, Hesse, Glauser, Schickele, Sternheim, Ilg, Schröder, die Manns, van de Velde, Hölderlin, Mörike, Meienberg, Rachmanowa, Jung, Huggenberger, Jacques, Droste-Hülshoff, Keller, Bodman, Heer, Dumas, Hardekopf, Brechbühl, Dutli-Rutishauser und und und. Der literarische Führer ist ein demokratisches Buch: Er verortet Berühmtheiten gleichermaßen wie Autoren, bei denen die Frage, wer sie gewesen seien, noch brennender ist als diejenige, wo sie gewesen seien. Auf den Spuren von Eduard Mörike oder Olga Diener lässt sich’s genauso wandeln wie man in die Fußstapfen des Heimatdichters Alfred Huggenberger treten kann. Prominent werden unter anderem die Orte Altnau, Amriswil, Arbon, Berlingen, Bischofszell, Dozwil, Erlen, Ermatingen, Ettenhausen Frauenfeld, Gerlikon, Glarisegg, Gottlieben, Hauptwil, Hüttlingen, Hüttwilen, Ittingen, Kesswil, Kreuzlingen, Lengwil, Salenstein, Sirnach, Steckborn, Tägerwilen und Uttwil beleuchtet.
Schriftsteller, Musiker, Wissenschaftler oder Maler – von Friedrich Glauser über René Schickele und Hans Leip bis Julie Weidenmann – alle haben eines gemeinsam: Sie alle lebten mal im Thurgau. Für die einen war der Randkanton eine Wahlheimat, für die anderen eine wichtige Lebensstation. Autor Albert Maurice Debrunner: «Wer sich im Thurgau auf den Weg macht, wird immer irgendwo ankommen, am Rand oder in der Mitte.»
Autor: Urs Oskar Keller, Text und Fotos/Pro Litteris, 2012
Albert M. Debrunner: «Literaturführer Thurgau». 182 Seiten, Klappenbroschur. Rund 100 s/w-Fotos von Urs Oskar Keller und anderen. SFr. 39.80 / Euro 26.50. ISBN 978-3-7193-1478-1. Verlag Huber Frauenfeld …