Wie uns eines schönen Tages der echte Sigmund Freud begegnet ist
Erich Fromm hat einen großen Namen. Er ragt hoch aus dem Kreis der prominenten Neo-Freudianer heraus. Er scheint für die liberale, reformerische Überarbeitung, Weiterentwicklung, Erneuerung der Psychoanalyse zu stehen. Der Konstanzer Historiker und Publizist Ernst Köhler hat darüber für die Zeitschrift Kommune und seemoz eine autobiografische Arabeske verfasst
Nach verbreitetem Verständnis jedenfalls hat Erich Fromm die klassische Psychoanalyse Sigmund Freuds von ihrer doktrinären Starrheit befreit – vom theoretischen Ballast des „Materialismus“, des Biologismus, überhaupt vom szientistischen Erbe des 19.Jahrunderts. Er hat sie in dieser Sicht aus ihrer ursprünglichen Gesellschaftsferne herausgeholt. Er hat sie aus dem bürgerlichen, exklusiven, elitären Wien des Fin de Siècle heraus – und mitten in unsere aktuelle Welt hineingeführt.
So ganz aktuell klingt das freilich nicht. Hier eine Kostprobe aus „Die Kunst des Liebens“: „Als Teil eines Heeres von Arbeitern oder bürokratischen Armee der Angestellten und Manager ist der Mensch nur noch eine Nummer. Er braucht kaum mehr Initiative, seine Aufgaben werden ihm durch die Organisation der Arbeit vorgeschrieben: es ist fast kein Unterschied mehr zwischen jenen, die oben auf der Leiter, und denen, die unten stehen. Sie alle führen Aufgaben aus, die durch die ganze Struktur der Organisation vorgeschrieben sind, und zwar nicht nur in einem vorgeschriebenen Tempo, sondern auch in einer vorgeschriebenen Art. Selbst die Gefühle sind vorgeschrieben, Fröhlichkeit, Toleranz, Zuverlässigkeit, Ehrgeiz und die Fähigkeit, mit jedem ohne Schwierigkeit auszukommen.“
Das Zitat stammt aus dem Kapitel über die „Theorie der Liebe“. Der Autor spannt hier, wie man sich erinnert, einen kühnen Bogen von der conditio humana: von der angeborenen, vorgegebenen, existenziellen Einsamkeit, der„Getrenntheit“ des Menschen über sein verzweifeltes, angstgetriebenes Streben nach der Vereinigung mit anderen Menschen durch alle Zeiten und Räume – bis hin zur gesellschaftlich erzwungenen wie psychisch nicht ungern ertragenen Konformität unserer kapitalistischen Lebenswelt.
Wenn man den arbeitenden Massen Erich Fromms etwa die „Angestellten“ Siegfried Kracauers gegenüberstellt, kann einem schon ein bisschen schlecht werden. Kracauer gibt den Leuten ein Gesicht – Fromm präsentiert uns eine Masse. Das Buch von Kracauer über die Menschen der sozial degradierten, politisch wie kulturell „obdachlosen“ neuen „Mittelschicht“, die keine ist, war im vorwärts rasenden Berlin bekanntlich schon Ende der 20er Jahre geschrieben worden. Für Erich Fromm offenkundig vergeblich. Wem seine Darstellung der Lage in „Die Kunst des Liebens“ flach, abgestanden vorkommt – wie im Überflug über das kapitalistische Zeitalter hingehauen, darf nicht vergessen, dass der Text zuerst 1956 auf amerikanisch erschienen ist.
Als er dann rund zwanzig Jahre später bei uns populär wurde, hätte der Hinweis auf Ort und Zeit aber auch nichts genützt. Der Text passte gerade mit seiner knalligen Sozialkritik zu gut in unser Amerikabild, als dass uns ihre eklatante Klischeehaftigkeit groß aufgefallen wäre. Das Ressentiment gegenüber Amerika hat bisher bei uns noch jede Form der Kapitalismuskritik legitimiert – auch noch die vulgärste. Immerhin hätte sich vielleicht die Frage aufgedrängt, welche Chance unter den Bedingungen dieser plattmachenden Fremdbestimmung, dieser geradezu totalitären Gleichschaltung und Gleichmacherei das Erlernen der „Kunst des Liebens“ wohl haben könnte? Fromm räumt selbst ein, dass „Menschen, die der Liebe fähig sind,…innerhalb des gegenwärtigen Systems eine Ausnahme“ bilden. Aber die Ausnahme scheint für ihn keineswegs die Regel zu bestätigen. Eher erscheint sie als ein vielversprechender Silberstreifen am Horizont. In ihrer Zukunftsbedeutung sind die Ausnahmeerscheinungen rätselhaft unabhängig von ihrem faktischen sozialen Gewicht. Wie soll man das nennen: ein Konglomerat von linker Systemanalyse und optimistischer, pädagogischer Ich-Psychologie?
Heute ist die Herde, die Erich Fromm aus seiner Vogelperspektive zu erkennen meint, sowieso versprengt. Wenn sie denn je zusammen war. Jeder hat Richard Sennetts „Der flexible Mensch“ gelesen. Das Management der amerikanischen Unternehmen delegiert danach seine Verantwortung typischerweise nach unten – die ganze möglichst. Für sich behält es nur noch die Macht, die ganze. Die Macht bleibt regelmäßig oben, kein Fitzelchen davon kommt nach unten. Was das für die unten heißt, erschließt sich dem gesunden Menschenverstand nicht ohne weiteres.
Dass in einem Buch über die Liebe der Kapitalismus vorkam, war bestechend. Das ist nachvollziehbar. Man war in dieser Hinsicht nicht gerade verwöhnt. Aber es gab auch in der Hohen Zeit der Fromm-Rezeption bei uns nicht nur Beifall. Die 70er Jahre waren im Gegenteil von einer grundsätzlichen, weit über die Fachkreise hinausreichenden Kontroverse um das Werk Sigmund Freuds und das seiner angeblich aufgeklärteren, fortschrittlicheren, humaneren Epigonen bestimmt. Das antiautoritäre Feuer hatte sich noch nicht ganz ausgebrannt. Es hatte sich nur in die sanftere Flamme des Spontiwesens verwandelt. Die Prosa und die Poesie der 68er kamen erst jetzt aufs Papier – ein halbes Jahrzehnt und mehr nach der Revolte. Es war die Zeit der sog. Neuen Subjektivität – auch in der schönen Literatur der DDR, wo sie anders als bei uns riskant, politisch war und wo wir sie daher deutlicher ausmachten als bei uns selbst.
Diese Variante des Zeitgeistes gab dem Interesse an den Texten von Erich Fromm kräftigen Auftrieb. Aber ganz ebenso provozierte sie auch ein wachsendes Misstrauen in diesen Denker, der wie seine Mitstreiter die „Persönlichkeit“, das „Selbst“, das autonome „Ich“ neu erfinden zu wollen schien. Der es darauf anzulegen schien, den entfremdeten, abhängigen, psychisch verarmten, leidenden Durchschnittsmenschen, den wir von Karl Marx und Sigmund Freud kannten, auf einmal wieder als ein intaktes, handlungsfähiges, autonomes, seiner selbst bewusstes und seiner selbst mächtiges Subjekt erstehen zu lassen – aus der Asche gewissermaßen. Nur dürfe man, so der Einspruch, diese Wendung zum „positiven“ Denken nicht unbedingt in den explizit politischen Aussagen dieser Autoren suchen – die könnten – wie bei Erich Fromm – durchaus unzimperlich antikapitalistisch ausfallen. Das sei gerade das Irreführende und Zwiespältige an dieser einflussreichen Denkschule der Psychologie. Das Problem liege in den psychologischen Begriffen Erich Fromms und seiner Geistesverwandten. Das 1978 auch auf deutsch erscheinende Buch des amerikanischen Historikers Russell Jacoby „Soziale Amnesie. Eine Kritik der konformistischen Psychologie von Adler bis Laing“ war ein produktiver Schock für uns – für uns schon längst wieder entpolitisierte Früh-Alt-68er.
Vor allem Kapitel II, überschrieben mit „Revisionismus: Die Unterdrückung einer Theorie“. Dort heißt es :
„Selbst wenn Freud die Kultur letztlich rechtfertigt, hat er über ihren antagonistischen und repressiven Charakter genug gesagt, um sie in Frage zu stellen. Für die Revisionisten galt das Gegenteil: jegliche Kritik, die sie an der Gesellschaft vorbringen, wird durch die Begriffe und Formulierungen entschuldigt, die auf Gesundheit und Harmonie hinweisen. Um es zu wiederholen: Freud war keineswegs ein bloßer Reaktionär. Insbesondere seine Abhandlung Die ‚kulturelle’ Sexualmoral und die moderne Nervosität ist ein Plädoyer für Änderungen in der Sexualmoral, das sich auch in vielen anderen Schriften findet: ‚…wir haben es unmöglich gefunden, für die konventionelle Sexualmoral Partei zu nehmen, die Art, wie die Gesellschaft versucht, die Probleme des Sexuallebens zu ordnen, hoch einzuschätzen. Wir können es der Gesellschaft glatt vorrechnen, dass das, was sie ihre Sittlichkeit nennt, mehr Opfer kostet, als es wert ist.’…Freud selbst stand indes auf der Seite einer modifizierten Form von Unterdrückung, auch wenn dies für seine Begriffe nicht zutrifft.
Kritische Theorie denkt durch diese Begriffe hindurch; sie bewertet Freud als einen nicht-ideologischen Denker und Theoretiker von Widersprüchen – Widersprüchen, die seine Nachfolger zu fliehen und zu verschleiern suchten. In diesem Sinn war er ein ‚klassischer’ bürgerlicher Denker, während die Revisionisten ‚klassische’ Ideologen waren. ‚Die Größe Freuds’, schrieb Adorno, ‚besteht wie die aller radikalen bürgerlichen Denker darin, dass er solche Widersprüche unaufgelöst stehen lässt und es verschmäht, systematische Harmonie zu prätendieren, wo die Sache selber in sich zerrissen ist. Er macht den antagonistischen Charakter der gesellschaftlichen Realität offenbar.’“
Man muss unsere Aufregung und Begeisterung über solche Sätze verstehen. Sie trafen uns, nachdem wir jahrelang über die „Arbeiterklasse“ sinniert hatten. Und über uns in Verbindung und solidarischer Nähe zu ihr. Wir hatten etwa André Gorz gelesen, und er hatte uns regelrecht ergriffen. Auf unserem Sofa hatte uns der Gedanke überkommen, wir könnten nicht weiter bloß darauf hinarbeiten, gute Fachkräfte zu werden. Wir müssten uns öffnen für die Schicksale der Arbeitermassen in unseren sogenannten Demokratien. Oder richtiger: Das Adorno-Zitat über Freud traf uns in einem Moment, da dieser ganze heroisierende Kitsch seinen Bann über uns bereits verloren hatte. Unser Konzept von Fortschrittlichkeit stand inzwischen unbehaglich zur Disposition. Und da tauchte dieser meisterhaft klar formulierende Psychologiehistoriker auf und warf einen Mainstream-Intellektuellen vom Range eines Erich Fromm vor unseren Augen in das Säurebad der Kritischen Theorie.
Alle diese unvergleichlichen, aber damals schon wieder halb verblassten oder entrückten Denker: Herbert Marcuse, Max Horkheimer, Theodor Adorno schienen einander übertreffen zu wollen in der Würdigung Sigmund Freuds und seiner Leistung. Marcuse besonders rückhaltlos: „Im Unterschied zu den Revisionisten hält Marcuse an Freuds quasi-biologischen Begriffen fest, entfaltet sie indes überzeugender als Freud selbst – und gegen ihn. Die Revisionisten führen Geschichte, die gesellschaftliche Dynamik über soziale Werte, Normen und Ziele gleichsam von außen in die Psychoanalyse ein. Marcuse findet die Geschichte in den Begriffen. Er deutet Freuds ‚Biologismus’ als zweite Natur, versteinerte Geschichte. Das Kapitel Die historischen Grenzen des geltenden Realitätsprinzips in seinem Buch Triebstruktur und Gesellschaft stellt eine historische Lesart der Freudschen Begriffe her.“
Aber wichtiger als die Details dieser grandiosen Verteidigung der klassischen Psychoanalyse gegen die Neo- und Nach-Freudianer und ihren gereinigten schönen neuen Menschen – ohne Libido, ohne infantile Sexualität, ohne belastende Gewalterfahrung, ohne Verdrängung – war der Gedanke, dass das Bürgertum große, furchtlose Denker hervorgebracht hatte. Vielleicht kann man sie „tragisch“ nennen – Denker, die die fundamentalen, unentrinnbaren Widersprüche und Gegensätze der Gesellschaft erfassen und sie nicht weglügen.
Das war etwas, das aus unserer kleinen biografischen Erfahrung, aus unserer gefühlten Zeitgenossenschaft einigermaßen herausfiel. Hatten wir doch – als wir in den frühen 60er Jahren aufwachten – das Gefühl, die Zeit sei in eine dynamische, unaufhaltsame, selbstläufige Bewegung zum Besseren hin geraten. Und wir, die Kinder der Adenauer-Ära, müssten uns verdammt sputen, um da nicht persönlich zurückzufallen. Wir müssten unsere Vernarbungen und Verhärtungen hinter uns lassen. Wir müssten uns emanzipieren. Wir müssten. Wir müssten.
Autor: Ernst Köhler