Eine Schweizer Geistesgeschichte der besonderen Art

Foto: Ilja Mess

Peter von Matt liebt die Schweiz, das Land zwischen Idylle und Globalisierung, zwischen alpiner Tradition und Hightech-Tunnel. Doch in seinem jüngsten Buch „Das Kalb vor der Gotthardpost“ liest er Politikern und Landsleuten seiner Heimat die Leviten. Und – wie auch das Theater Konstanz mit seiner aktuellen Inszenierung „Der Besuch der alten Dame“ (s. Foto) – zeigt Abgründigkeiten von Demokratie auf: Ernst Köhler über Peter von Matts Ansichten zur Literatur und Politik in der Schweiz

„Gibt es noch mögliche Geschichten, Geschichten für Schriftsteller? Will einer nicht von sich erzählen, romantisch, lyrisch sein Ich verallgemeinern, fühlt er keinen Zwang, von seinen Hoffnungen und Niederlagen zu reden, durchaus wahrhaftig, und von seiner Weise, bei Frauen zu liegen, wie wenn Wahrhaftigkeit dieses alles ins Allgemeine transponieren würde…, dann wird das Schreiben schwieriger und einsamer, auch sinnloser…“. So fängt die berühmte, schwarze Erzählung „Die Panne“ von Friedrich Dürrenmatt an. (1956). Wie Peter von Matt, der Doyen der Schweizer Germanistik, in seinem neuen Essay-Band zur „Mentalitätsgeschichte“, zur politischen Geistesgeschichte seines Landes aufzeigt, sind diese Sätze gegen Max Frisch geschrieben, den anderen überragenden Autor der Schweizer Literatur der Nachkriegszeit.

Die Differenz, die Spannung, die Auseinandersetzung zwischen dem „liberalen“ Frisch und dem „konservativen“ Dürrenmatt ist eine der Achsen des neuen Buches, das die auch bei uns kraftvoll eingeschlagenen „Tintenblauen Eidgenossen“ (2001) mit einer weiteren Gabe funkelnder literarischer Kennerschaft fortsetzt. Dürrenmatt ist ungerecht. Er verfehlt das Werk seines Antipoden Frisch. Aber „Die Panne“ erzählt von einem privaten Gerichtsverfahren jenseits aller Gesetze und regulären Institutionen. Die monströse Geschichte von einem Herrenabend mit großem Fressen und Todesurteil bildet eine Menschenwelt ab, die sich auf ewig gleich bleibt, immer gleich schlecht, hoffnungslos verdorben, jedem Fortschritt, jeder Aufklärung unerreichbar – jeder noch so leidenschaftlichen und schonungslosen Arbeit eines Menschen an der Vervollkommnung seiner selbst und seiner gesellschaftlichen Umwelt, wie sie Max Frisch inspiriert.

Von Matt steht klar auf der Seite von Frisch, dem er auch persönlich eng verbunden war und den er gegen jede Schubladisierung in Schutz nimmt – auch die von Seiten Dürrenmatts. Vor allem aber gegen die rechtspopulistische Ausgrenzung und Diffamierung, der sich Max Frisch zumindest in der Öffentlichkeit der Nachkriegsschweiz ausgesetzt sah. Über Friedrich Dürrenmatt schreibt dieser Literaturwissenschaftler andererseits so – aus einer solchen Nähe zum spezifischen Schaffensprozess dieses Autors, dass der Leser die eigene liberale oder linksliberale Weltsicht am liebsten stehen und liegen ließe. Man lese nur den Text „Wenn Dürrenmatt Geschichten erzählt“, der zu den schönsten der ganzen Sammlung gehört.

Der gelöste, wagemutige Nonkonformismus ist überhaupt charakteristisch für die hier zusammengestellten Essays, Reden, Kritiken, Vorworte und Zeitungsartikel. Die Deutung von großer Literatur im Kontext sich wandelnder politischer Konjunkturen ist mitreißend unängstlich. Sie lässt sich von keiner political correctness einzwängen – so nahe das in einer Zeit der aufgeputscht „wehrhaften“ direkten Demokratie mit Minarettverbot und verschärftem Ausländerrecht in der Schweiz liegen mag.

So lässt Peter von Matt keinen Zweifel daran, was er von der „Vergangenheitsbewältigung“ des Landes hält. Die Auseinandersetzung der Schweiz mit ihrer Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg stehe noch aus. Die vorbildlichen wissenschaftlichen Untersuchungen über diesen Gegentand habe das breite Schweizer Publikum an sich ablaufen lassen wie einen Sprühregen. Zugleich plädiert von Matt aber für eine faire Würdigung der Rückbesinnung, der Versteifung der kleinen, neutralen Schweiz auf sich selbst in der Epoche der Herrschaft Hitlers in Deutschland und Europa. Wie man eine alle verfügbaren Register ziehende Identitätspolitik hinterher wieder los wird, ist eine andere Frage.

In dem großen Essay über die „Schweiz zwischen Ursprung und Fortschritt“ der den Band eröffnet, der gleiche Zugriff. Nur geht er hier aufs Ganze – auf die „Seelengeschichte einer Nation“ im historischen Längsschnitt. Die Argumentation setzt ein mit einer stupenden Interpretation des in der Schweiz jedem Kind vertrauten Gemäldes „Die Gotthardpost“ (1873, von Rudolf Koller), das dem Buch auch seinen Titel gibt. Die Kernfrage des virtuos mäandrierenden Textes lautet: Auch ein sich wie rasend entwickelndes, hochmodernes, durch und kapitalistisches Land wie die Schweiz kommt offenbar nicht ohne seine Ursprungsmythen aus. Oder gerade ein solches Land. In diesem Fall nicht ohne das Bild von einem wohlgeordneten, harmonischen, friedlichen, gerechten kleinen sozialen Kosmos im Schutze der Alpen. Es hatte niemals einen Bezug zur Realität. Warum ist es dann so unverwüstlich?

Zuspitzend ließe sich vielleicht sagen: Die bukolische Fiktion vom selbstbestimmten, gesitteten, egalitären, demokratisch verfassten Männer-Gemeinwesen im abgeschiedenen Alpental ist so zählebig, weil es auch eine Utopie ist, ein kontrafaktischer Maßstab, ein Halt – in einem Land, das aus Erfahrung sehr genau weiß, was Demokratie real ist oder doch werden kann.

Peter von Matt erinnert in diesem Zusammenhang an „Dogville“, den Film von Lars von Trier (2003) über eine abgelegene Ortschaft in den Rocky Mountains, die eine flüchtige Frau (gespielt von Nicole Kidman) zuerst aufnimmt, dann ausbeutet, dann versklavt und massenhaft sexuell missbraucht. Das alles nach demokratischer Beratung und in mentaler Balance. Grass roots-Demokratie, direkte Demokratie, die sich im bewährten demokratischen Verfahren für die Vernichtung eines wehrlosen Menschen entscheidet. Man muss aber nicht zur Parabel des dänischen Regisseurs greifen. Die Schweiz hat selbst eine Weltliteratur hervorgebracht, die sich wie kaum eine andere der Abgründigkeit von Demokratie stellt – von der „Schwarzen Spinne“ Jeremias Gotthelfs bis zu Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“. Wer könnte an diesen Texten so subtil wie Peter von Matt zeigen, was ein biederes demokratisches Kollektiv sich einfallen lässt, um mit ruhigem Gewissen morden zu können?

Autor: Ernst Köhler

Peter von Matt, Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik in der Schweiz. München 2012 (Carl Hanser Verlag), 152 Seiten, 21,90 € /29,90 sFR