Statt eines Nachrufs: Über die Autobiografie von Gilbert Ziebura
Gilbert Ziebura, in den 1970iger Jahren (unbeugsam) kritischer Politikwissenschaftler an der Universität Konstanz, ist Ende Februar gestorben. Ein Weggefährte jener Tage, der Konstanzer Historiker Ernst Köhler, hatte ihm noch im Vorjahr eine Rezension seiner Autobiografie „Kritik der Realpolitik“ (erstmals erschienen in: „Kommune“, 2/12 unter der Überschrift: „Die Erfahrung des freien Denkens. Autobiografie eines Vorachtundsechzigers“) gewidmet, die wir statt eines Nachrufs veröffentlichen
Niemand wird behaupten, dass die Tradition der politischen Kritik von links in der Bundesrepublik von den Achtundsechzigern begründet worden sei. Bis auf sie selbst vielleicht. Aber der Anspruch war immer verstiegen und unhistorisch, wie die von Gilbert Ziebura (s. Foto) vorgelegte Autobiografie in großer Anschaulichkeit vergegenwärtigen kann. Der Autor ist Jahrgang 1924, seine Erinnerung als Erwachsener reicht über die ganze politische Geistesgeschichte der Bundesrepublik.
Vor den typischen Linksintellektuellen der Studentenbewegung, so führt uns dieser dichte, durchweg prägnant und direkt formulierte autobiografische Essay vor Augen, gab es in unserem Land bereits weniger typische, einzelgängerische, jeweils auf eigene Rechnung denkende Liberale im politischen (oder amerikanischen) Sinn des Wortes, die nie zu verdrängen bereit waren, dass der neue westdeutsche Staat ein Produkt des Kalten Krieges war. Und die im Laufe der weiteren Entwicklung scharf und streitbar zu unterscheiden lernten zwischen der im Grundgesetz verankerten demokratischen Ordnung des Landes und der kapitalistischen Gesellschaftsform darunter oder dahinter oder darüber.
Noch später dann zu unterscheiden zwischen Amerika als einer klassischen liberalen, das heißt rechtstaatlich gezügelten Demokratie, und Amerika als einer Weltmacht mit einer skrupellosen Geopolitik und ökonomisch-militärischen Machtentfaltung. Das meint das bereits im Titel des Buches verwendete Wort „linksliberal“. Es hat nichts Affirmatives. Es ist kein Selbstlob, wie es für die 68er charakteristisch war. Es meint schlicht ein politisches Unterscheidungsvermögen. Besser: eine Differenzierungsbereitschaft; denn in den Schoß ist sie keinem gefallen. Es gab keine enthusiastische, emotional zusammenschweißende „Bewegung“, keine süffige Kollektivität, die sie einem abgenommen hätte. Es gab kein fertiges Denksystem, kein obligatorisches Theorieangebot, keine Orthodoxie, an die man den eigenen Kopf hätte abtreten können. Der Marxismus war nur hochinteressant – und das auch nur in seinen Originaldokumenten, nicht etwa verbindlich.
Es kennzeichnet den vorliegenden Text von der ersten bis zu letzten Zeile, dass er die Bewegung, die Erfahrung des Denkens selbst sichtbar macht – unvermeidlich mühselig, methodisch oft zuerst noch unreif, vorläufig, aber immer reell. Den durus labor des historischen und politikwissenschaftlichen Forschens in seiner anfänglichen Unbedarftheit, in seinem Mangel an historiographischem Horizont, aber auch in seiner Intensität, Selbstvergessenheit – und immer in der wie selbstverständlichen Anerkennung größerer Geister. Mit Jean Améry zu sprechen, sind es „Unmeisterliche Wanderjahre“, die wir hier vor uns haben. Sie haben ein Leben lang angedauert.
Auseinandersetzungen mit den Vätern
Oft ist es die Kindheit, die in solchen Lebensgeschichten am lebendigsten erzählt ist. In diesem Fall ist es die „zweite Sozialisation“, der Neuanfang des jungen Mannes nach Kriegsende in Berlin und in Frankreich. Hier eine bezeichnende Bemerkung über den geachteten und geliebten Vater, den er dabei zurücklassen muss: „Er fühlte sich im Stallgeruch der sich ganz dem Wiederaufbau hingebenden Gutmenschen im sich verstärkenden Adenauer-Konformismus, dem er soviel verdankte, rundum wohl…Mein Vater ließ sich nach all den Katastrophen, die er erlebt hatte, ins Netz endlich gefundener und, wie es schien, definitiver Geborgenheit fallen.“ Mild und nachsichtig ist das nicht, freilich auch nicht so verständnislos und feindselig, wie es 20 Jahre später dann unsere eigenen Auseinandersetzungen mit den Vätern sein werden. Das hindert den Autor nicht daran, die bekannte Rechtfertigung eines Hermann Lübbe für dieses massenhafte Abtauchen und Schweigen der Deutschen in den späten 40er, 50er und noch frühen 60er Jahren als „perfide“ zurückzuweisen. Das Versagen selbst ist das eine, ein anderes die Apologetik im Nachhinein.
Vom Keim neuer Kriege
Ebenso ernst und kompromisslos ist eine andere Lehre, die der tief desillusionierte (und armamputierte) junge Kriegsheimkehrer damals aus den Erfahrungen mit sich selber zieht: „Die Erkenntnis, dass Nationalismus eines der effektivsten zur Konditionierung und Disziplinierung der Gesellschaft ist, gehört bis heute zum festen Kernbestand meiner politischen Überzeugungen. Auch die Meinung, er gehöre zur Identitätsfindung der Völker…teile ich nicht, weil er zwangsläufig zum Absolutheitsanspruch führt, dem Keim neuer Kriege:“ Auch wer das so nicht unterschreiben kann und – sogar auch für die verbrecherischen Jugoslawienkriege der 90er Jahre – auf der Erscheinungsvielfalt und Kontextabhängigkeit der konkreten Nationalismen besteht, wird die Authentizität dieser Sätze nicht anzweifeln.
Überhaupt: Wer sich mit der traumatisch geprägten und allzu provinziellen Nationalismuskritik des liberalen und linken Deutschland auseinandersetzen möchte, muss schon bei glaubwürdigen politischen Denkern wie Gilbert Ziebura ansetzen.
Der grenzenlose geistige Hunger und Nachholbedarf dieser jahrelang isolierten und manipulierten jungen Leute ist oft beschrieben worden. Es ist mehr als nur ein leidenschaftlicher Bildungswillen. Die reale Welt schien auf einmal offen – der Gestaltung durch die Menschen, durch den normalen Einzelnen ohne Ressourcen, ohne Sozialstatus, ohne Macht zugänglich. Der Mensch schien sich selbst machen zu können. Auch im besetzten Berlin, wo Gilbert Ziebura seinen Weg jetzt neu zu entwerfen beginnt, ist der libertäre Existenzialismus der unmittelbaren Nachkriegszeit präsent. Das eigentlich Besondere an diesem Lebensbericht ist aber, dass er dieses kurzzeitige, unwahrscheinliche, fast utopische und dann sehr bald „realpolitisch“, im Zuge des Kalten Krieges wieder annullierte, erstickte Freiheitsversprechen nach Ende des Krieges festhält und zur Perspektive, zum Anliegen eines ganzen intellektuellen Lebens macht. So lässt sich die „Vision“ verstehen, von der im Text leitmotivisch die Rede ist. Inspiriert scheint ursprünglich von der Erinnerung an das, was man für einen Moment schon einmal hatte – zu haben geglaubt hatte.
Aber es gibt schon bald auch gewisse Zeichen der Ernüchterung und des unabweisbaren gesellschaftspolitischen Realismus. Der überragende Mentor und Demokratietheoretiker seiner Studenten- und Assistentenzeit, der aus der Emigration zurückgekehrte Ernst Fraenkel mit seiner paradigmatischen Analyse des totalitären nationalsozialistischen Unrechtsstaates, verliert auch für Gilbert Ziebura mit der Zeit an Überzeugungskraft. Der Fraenkelsche Demokratiebegriff mit seiner Fixierung auf das Gefüge demokratischer und rechtstaatlicher Institutionen, mit seiner geradezu hermetischen Ausblendung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse vermag auf die Dauer auch diesen Enthusiasten der demokratisch gesicherten Freiheit nicht mehr zu überzeugen. Aber zu dieser Distanzierung bedurfte es weder der Studentenbewegung von 1967/1968 noch des spätestens mit der krisenhaften wirtschaftlichen Entwicklung seit 1973 auch in der Bundesrepublik und ihrer sozialwissenschaftlichen Szene an Einfluss gewinnenden neomarxistischen Systemdiagnosen.
Politische Geschichte ist immer auch Sozialgeschichte
Seine persönliche gedankliche Wende weg von einem Demokratiebegriff ohne Gesellschaftsbegriff erarbeitet sich Gilbert Ziebura auf ganz anderen Wegen – in Frankreich, in historischen Arbeiten zuerst über das Deutschlandbild im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis hin zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges und dann über die politische Tragik eines Léon Blum Mitte der 30er Jahre. Ziebura hat das Glück, in Hans Rosenberg einen unbestechlichen Kritiker dieser Studien zu finden. Der große Historiker, der dann das bahnbrechenden Werk „Große Depression und Bismarckzeit“ (1967) vorlegen wird, erklärt dem Nachwuchsforscher mit unnachahmlicher Luzidität, dass politische Geschichte immer auch Sozialgeschichte ist. Aber die Darstellung dieser Begegnung, dieses Gedankenaustauschs über geschichtswissenschaftliche Methoden, über die Fragwürdigkeit der konventionellen Geschichtsschreibung und ihres flachen, nein: ideologisch verflachten Gegenstandes muss man selber lesen. Wie überhaupt alle Abschnitte über Gilbert Ziebura in Frankreich. Sie stellen unzweifelhaft den Kern und den Höhepunkt des ganzes Buches dar. Die Entdeckung Frankreichs ist die große Herausforderung und die entscheidende Tiefenlotung dieses deutschen Gelehrten. Man muss lesen, wie er sich hier seine in Deutschland schon längst wieder unter Druck geratene Vorstellung von einer freien Gesellschaft rettet, konkretisiert und noch potenziert.
Eine Offenbarung ist für den jungen deutschen Katholiken mit seinen schlesischen Wurzeln schon allein die frappierende Beobachtung, dass in Frankreich Christen, Katholiken ohne weiteres mit Kommunisten zusammengehen können. Dieser erzdemokratische Linkskatholizismus, den er hier so unbefangen am Werke sieht, war aber bereits ein genuines, kräftiges Ferment im Selbstverständnis dieses Liberalen. Später dürfte es wesentlich zu seiner Distanz und Festigkeit gegenüber den Fehlentwicklungen der Studentenbewegung und ihrer Zerfallsprodukte beigetragen haben.
Realpolitik führt in Sackgassen
Zur Zeit der Großen Koalition unter Bundeskanzler Kiesinger wird Gilbert Ziebura – als jetzt bereits renommierter Frankreichexperte und Berater im Bonner Bundeskanzleramt – gegen eine erinnerungslose, indifferente, letztlich borniert nationale und antieuropäische Routinediplomatie und die schleichende Aushöhlung der Versöhnung und Freundschaft zwischen den beiden Ländern ankämpfen: plastisches Beispiel für den Typus von „Realpolitik“, gegen die Gilbert Ziebura Stellung bezieht, wo immer er auf sie trifft.
Im Vorwort des hier angezeigten Buches findet sich eine knappe Definition von „Realpolitik“: „Sie setzt nach außen auf die Durchsetzung von Machtinteressen und nach innen auf die Stabilisierung bestehender Machtverhältnisse, obwohl Ökonomie und Lebenswirklichkeit sie permanent unterhöhlen. Ihr ist es zuzuschreiben, wenn sich Gesellschaften, ob im nationalen oder globalen Rahmen, immer wieder in Sackgassen finden, aus denen sie nur mit hohen Kosten wieder herauskommen.“ Heute ist sie zumindest nicht mehr so unangefochten – nicht mehr so schon zum Verzweifeln allgegenwärtig, wie sie es nach dem Zeugnis dieser Autobiografie für Gilbert Ziebura über Jahrzehnte gewesen sein muss.
In Nordafrika und im Nahen Osten ist der bedenkenlosen Stabilitätspolitik des Westens soeben von den aufständischen arabischen Massen der Boden restlos entzogen worden. Und in Europa stößt die Reduzierung des europäischen Projekts auf den Euro, wie sie federführend von der gegenwärtigen deutschen Regierung betrieben wird, auf ein großes Unbehagen und einen tiefgreifenden Dissens. Diese nagenden Zweifel, diese Verunsicherung – selbst im neudeutschen, neo-nationalistischen Deutschland – müssten jemand wie Gilbert Ziebura, für den die europäische Einigung immer absolut vorrangig ein übernationales politisches Friedenswerk war (bis zur Zeitenwende von 1989 gedacht als ein autonomer Verbund zwischen den beiden schwerbewaffneten Blöcken des Kalten Krieges), doch eigentlich das Herz erwärmen.
Menschenverachtende Globalisierung
Eine skeptische bis pessimistische Sicht auf die Weltpolitik und ihre Erneuerungsfähigkeit hat immer gute, ausgezeichnete Argumente. Zudem verfügt sie über eine ganze Reihe von erhellenden, inzwischen zu Unrecht wieder auf Expertenkreise abgeschobene Theorieansätzen – bei Ziebura, der hier den Rahmen, das Genre der Autobiografie arg strapaziert, findet man sie noch einmal versammelt, kritisch durchdacht und auf den Punkt gebracht. Es geht darin um eine gewalthafte, menschenverachtende, die Welt gnadenlos – und gleich mehrfach – in Gewinner und Verlierer spaltende Form der Globalisierung oder ihrer Protoformen.
Aber wir wollen unseren Autor – einem freien Geist von seltener Aufrichtigkeit im Umgang mit sich selbst – zum Schluss lieber an eine Frage erinnern, die er sich angesichts der unerwarteten Zeitenwende von 1989 im Prinzip schon selber gestellt hat: Gibt es nicht auch die klägliche Überschätzung, Hypostasierung, um nicht zu sagen: Anbetung des Status quo, der herrschenden Machtverhältnisse aus geballter analytischer Rationalität, aus einer vermeintlich überlegenen Skepsis und Wirklichkeitsnähe heraus? 2011 und 1989 – es ist jetzt immerhin schon das zweite Mal innerhalb von nur gut zwei Jahrzehnten, dass wir eine allen Ernstes für epochal, für säkular gehaltene Welt zusammenstürzen sehen. Das müsste doch langsam zu denken geben.
Woher stammt der anscheinend unwiderstehliche, wahnhafte Denkzwang, das faktisch Mächtige jeweils zum unbesiegbar Mächtigen zu stilisieren? Was die deutsche Ostpolitik angeht, so war es kruder, geschichtsphilosophisch garnierter Pragmatismus der nationalen Eigensucht – auf Kosten vor allem der Polen, wie es Timothy Garton Ash – anders als die allermeisten aufgeklärten, liberalen, fortschrittlichen Beobachter und Kommentatoren bei uns, einschließlich Gilbert Ziebura – in einer klassischen Studie aufgezeigt hat. (Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München, Wien 1993)
Autor: Ernst Köhler
Gilbert Ziebura: Kritik der „Realpolitik“. Genese einer linksliberalen Vision der Weltgesellschaft. Autobiografie, Berlin 2009 (LIT Verlag)