Wie Zeitungen die Armut verschweigen
Wie kommentieren Journalisten Armut und Reichtum? Ob sie von der Bundesregierung oder von Wohlfahrtsverbänden in Auftrag gegeben werden, macht keinen Unterschied: Berichte zur Lebenslage der Bevölkerung werden in Deutschland wieder als Armuts- und Reichtumsberichte geschrieben. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie der Journalismus die soziale Ungleichheit kommentiert. Eine aktuelle Untersuchung von Wolfgang Storz (s. Foto) und Hans-Jürgen Arlt
Zwei Befunde nennt die Studie im Titel: „Portionierte Armut, Blackbox Reichtum“. Die Kommentare thematisieren Armut – nicht besonders häufig, doch immer wieder einmal. Sie setzen sich aber nicht mit dem Problem der Armut auseinander, sie lösen es auf in Problemgruppen. Kommentarpraxis ist es, Armut zu zerlegen in Kinder-, Alters-, Migranten-, Langzeitarbeitslosen-, Schwerbehinderten-, Hartz-IV- und Alleinerziehenden-Armut; Frauen sind in den untersuchten Texten nur als Mütter arm. Nachdem die Verarmung so portioniert wurde, empfehlen die Kommentatoren den einzelnen Gruppen, sie mögen sich bilden und engagiert auf die Suche nach einer guten Arbeitsstelle begeben. Wer sich bildet, hat bessere Chancen auf eine gute Arbeit und wer Arbeit hat, der kann Armut hinter sich lassen – auch in Anbetracht unverändert millionenfacher Arbeitslosigkeit und zunehmender Fragilität der Arbeitsverhältnisse wird dieser Rat als Dogma vorgetragen; kritisch befragt oder gar relativiert wird er öfter in der Berliner Zeitung, in den anderen Tageszeitungen selten bis gar nicht.
Arbeitgeber bleiben außen vor
Den Betroffenen wird also nahegelegt, sich mehr anzustrengen, und der Politik, sie solle weniger reden und mehr tun. Die Arbeitgeber, welche die niedrigen Löhne zahlen und die prekären Arbeitsplätze anbieten, bleiben außen vor; sie können nicht anders, sind sie doch den nicht in Frage gestellten `Sachzwängen` der Globalisierung und des Wettbewerbes ausgeliefert. So einfach macht es sich vor allem die FAZ, auch der Spiegel, der Tagesspiegel und die SZ haben eine ausgeprägte Neigung dazu. [Zur FAZ publiziert carta am XXX einen gesonderten Beitrag der beiden Autoren.]
Nun zum Umgang mit dem Thema Reichtum. Wer hat mehr massenmediale Aufmerksamkeit erzeugt, der Berliner Eisbär Knut, der einstige Bundespräsident Christian Wulff oder die Offshore-Leaks? Wie schnell die globalen Schwarzgeld-Schatzkammern – trotz der sorgfältigen und verdienstvollen Aufbereitung unter anderem von der Süddeutschen Zeitung – aus den Medien wieder verschwinden, ist nur ein weiteres Indiz, das den Befund unserer Studie stützt. Die untersuchten Medien unternehmen keine Anstrengung, sich mit Ursachen und Folgen der Akkumulation riesigen Reichtums in wenigen Händen auseinander zu setzen.
Reichtum als eigenständiges Kommentarthema gibt es nicht; er wird nur `aufgerufen` als Gegenpart, wenn ein Aspekt von Armut mal wieder kommentiert wird. Die Potentiale, die ein Milliardenvermögen in privater Hand eröffnet, um die Welt um sich herum zu dominieren, der enge Zusammenhang von Reichtum und Macht (und von Armut und Ohnmacht) werden nicht problematisiert. Die Ausnahmefälle, in welchen Vermögen für wohltätige Zwecke gespendet wird, werden dagegen gerühmt. Das gilt auch für die Form der Produktiv-Vermögen: Die Debatte über die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen findet neben und außerhalb der Reichtums- und Armutsthematik statt.
Erben-Gesellschaft als randständiger Aspekt
Schließlich erscheinen auch die Privilegien des großen Geldes den weitaus meisten Kommentatoren nicht fragwürdig. Dass viel Geld viele Lebensmöglichkeiten eröffnet und in allen Bereichen Vorteile verschafft – ob es um Gesundheit, Mobilität, Bildung, soziale Beziehungen, sexuelle Kontakte, kulturelle Zugänge geht – wird wie die Schwerkraft als ein Naturgesetz vorausgesetzt. Obwohl niemand in der Lage ist, Einkommensunterschiede, die das Hundertfache übersteigen, mit persönlichen Arbeitsleistungen zu erklären, lassen nicht wenige Kommentare genau diesen Leistungsbezug ausgesprochen oder unausgesprochen mitlaufen. Das wird restlos absurd, sobald es um die Vermögensverhältnisse geht, wo sich ererbte Milliardenvermögen und Armseligkeit trotz jahrzehntelanger Arbeit gegenüber stehen.
Die sich seit Jahren herausbildende Kapital- und Erben-Gesellschaft, in der leistungslose Einkommen und Vermögen in Form von Dividenden, Zinsen und Erbschaften zur Regel werden, ist kein prominenter, sondern nur ein randständiger Aspekt. Ernsthaft beunruhigen von diesen verschiedenen Aspekten lässt sich nur Die Zeit, die sich mit der sozialen Kluft sehr differenziert und kontinuierlich kritisch auseinandersetzt.
Dazu passt, dass grundsätzliche Fragen höchst selten angesprochen werden: Hängen die Zunahme von privater Armut und privatem Reichtum miteinander zusammen? Drückt sich in der Zunahme der Staatsverschuldung ein Mehr an öffentlicher Armut aus? Oder doch nur, wie in sehr vielen Kommentaren unterstellt, die unverantwortliche Verschwendungssucht der Politik. Ist diese Gesellschaft mit ihren Strukturen im Prinzip auf Gerechtigkeit oder auf Ungerechtigkeit `eingestellt`? Zugegeben: Für tagesaktuelle Medien, auch wenn es sich um die besten in Deutschland handelt, können solche Fragen nicht zum Alltag gehören. Aber über Jahre hinweg könnte man sich wenigstens immer mal wieder an das spannende Grundsätzliche heranwagen.
Mitverantwortung der Journalisten
Rein quantitativ ergibt sich: Große und häufige Kommentarthemen sind Reichtum, Armut und die soziale Kluft offenbar nicht. Um Themen von besonderer Brisanz scheint es sich in den Augen der Redaktionen nicht zu handeln. Sie werden vor allem behandelt, wenn die Arena der offiziellen Politik aktuelle Anlässe dafür liefert; ob Armuts- und Reichtumsberichte oder Auseinandersetzungen vor dem Bundesverfassungsgericht. Das Interesse von Regierungen wiederum, Anlässe für die öffentliche Thematisierung sozialer Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu bieten, hält sich in sehr engen Grenzen. Die Abhängigkeit von den Interessen der aktuellen Politik könnte verringert werden, wenn die soziale Frage im redaktionellen Konzept einen eigenständigen Stellenwert innehätte und nicht nur das «Hobby»` von einzelnen Redakteuren wäre. Ob Gesichtspunkte sozialer Ungleichheit und sozialer Gerechtigkeit präsent sind, hängt beispielsweise bei der Süddeutschen Zeitung, so unser Eindruck, von den Arbeits- und Urlaubszeiten einzelner Redakteure ab. Die Wochenzeitung Die Zeit dagegen hat ein Wirtschaftsressort, für das es in geradezu vorbildlicher Weise zu den ständigen «Hausaufgaben» gehört, die sozialen Dimensionen der Ökonomie mit auszuleuchten.
Ein Vergleich zwischen Spiegel und Zeit auf diesem Themenfeld lässt den Spiegel schlecht aussehen. Der Spiegel will Eindeutigkeit, darin ist er strukturell, nicht intellektuell der Bild-Zeitung ähnlich. Dieser Eindeutigkeit der Darstellung opfert er zu viel. Er stöbert auch gerne im Thema Reichtum, allerdings nur, um den Schatz aus Prominenz und Lifestyle zu heben. Im Vergleich dazu hat die Zeit den längeren Atem, die sachlichere Sicht, die detailliertere Darstellung, die unkonventionellere Vielfalt an Perspektiven und das konsequentere Bemühen um Zusammenhänge.
Der Journalismus kann nicht für die Antworten zuständig sein, die Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Kultur schuldig bleiben. Aber er trägt eine Mitverantwortung dafür, dass die Probleme nicht unter den Tisch gekehrt werden und die Debatte im Gang bleibt. Dazu leistet, so unser Befund, die Zeit beachtliche Beiträge, der Spiegel gelegentliche.
Der Volltext der Studie ist auf Anfrage bei der Rosa Luxemburg Stiftung erhältlich und seit 20. April 2013 abrufbar unter http://www.rosalux.de/publication/39364
Autor: Wolfgang Storz und Hans-Jürgen Arlt