Was ein frühes Stück eines späteren Nazis erzählen kann
Es wird der Höhepunkt der Spielzeit: In einer Woche, am 7. Juni, hat „Der Jude von Konstanz“, das Trauerspiel in fünf Aufzügen von Wilhelm von Scholz, unter der Regie von Stefan Otteni im Stadttheater Konstanz seine Premiere. Seit Monaten, seit Erscheinen zweier Bücher über den Konstanzer Dichter, wird im Städtle wieder über den Blut-und-Boden-Dichter gestritten – mit viel Polemik und mancher Ungenauigkeit. Die Dramaturgin dieser Aufführung, Miriam Reimers, weiß zu dem Stück dennoch Neues und Gescheites zu berichten
Wilhelm-von-Scholz-Preis, Wilhelm-von Scholz-Weg, Wilhelm-von-Scholz-Grab, Wilhelm-von-Scholz-Ausstellung. In regelmäßigen Abständen ist der Konstanzer Dichter Wilhelm von Scholz am Bodensee in aller Munde – weniger wegen seines schriftstellerischen Werkes als wegen seiner Nähe zum Nationalsozialismus, von dem er sich bis an sein Lebensende nicht endgültig lossagen mochte. Nun soll auch noch ein Stück von ihm auf die Bühne des Konstanzer Stadttheaters gebracht werden und ausgerechnet eines über Juden. Kann das gutgehen?
Klar ist heute, dass von Scholz mehr als ein Mitläufer gewesen ist: Er unterzeichnete schon 1933 das Treuegelöbnis deutscher Schriftsteller für Adolf Hitler, verfasste glorifizierende Elogen auf den Führer und patriotische Kriegs- und Durchhaltelyrik in Konstanzer Zeitungen. Künstlerisch wie finanziell hat er im »Dritten Reich« prosperiert. Seine Dramen wurden auch während des Kriegs weiter aufgeführt, er erhielt die Ehrendoktorwürde der Universität Heidelberg und eine Schenkung der Reichsregierung in Höhe von 30.000 Mark. Schließlich nahm Adolf Hitler ihn im August 1944 in die »Gottbegnadeten-Liste« der wichtigsten Schriftsteller auf.
Außenseiter im Konstanz des 14. Jahrhunderts
Doch wie sieht es mit seinem Stück »Der Jude von Konstanz« aus, das knapp 30 Jahre vor der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten, nämlich 1905, entstanden ist? Schauen wir zunächst auf den Plot: Schauplatz ist Konstanz im 14. Jahrhundert. Der jüdische Arzt Nasson ist zum katholischen Glauben konvertiert – nicht aus religiöser Überzeugung, sondern weil er sich nach einer Heimat sehnt und nur als Christ das Recht hat, ein Haus zu erwerben, ein Krankenhaus zu bauen und als Arzt für die ganze Stadtgemeinschaft zu wirken. Doch die zwischen den Glaubensgemeinschaften schwelenden Konflikte eskalieren immer mehr, bis Nasson selbst zwischen den Fronten zerrieben wird. Denn inzwischen ist er für beide religiösen Gruppen ein Außenseiter.
Überraschend ist, dass das Stück durchaus keine antisemitischen Züge trägt. Tatsächlich musste sich Wilhelm von Scholz in den 30er Jahren sogar für den mangelnden Antisemitismus in seinen jungen Schaffensjahren rechtfertigen. Das Stück ist – neben der genauen historischen Recherche, die von Scholz offensichtlich betrieben hat – geradezu um Ausgewogenheit zwischen den beiden Parteien des Stückes bemüht. Einem hetzenden Christen wird ein unversöhnlicher Jude gegenüber gestellt, einem versöhnlichen Bischof steht ein Menschlichkeit predigender Rabbiner gegenüber. Dazwischen steht Nasson, der weder als Jude noch als Christ sein Glück finden möchte, sondern einfach als Mensch. Es gibt also von der politischen Aussage des Dramas her keinen Grund, es nicht auf die Bühne zu bringen.
Wo spannen wir die Grenze zu dem Fremden?
Umso mehr gibt es einen inhaltlichen Grund, es zu tun. Von Scholz entwickelt in seinem Stück anhand der Situation der Juden im Mittelalter einen fast philosophischen Essay über die Frage, was Heimat sein kann und was es bedeutet, heimatlos zu sein. Nasson verlässt seine »Heimat« – sein Volk und seine jüdische Religion –, um eine »Heimat« zu finden – in einer Einbürgerungsurkunde, einem Haus, einer festen Wirkungsstätte als Arzt. Indem der Text das Verhältnis zwischen Juden und Christen in einen größeren historischen Rahmen spannt, ermöglicht er eine weiterführende Diskussion. Wie entsteht Zugehörigkeit in einer Gesellschaft? Was sind wir bereit, für sie zu opfern? Wo spannen wir die Grenze zu dem Fremden? Und wo machen wir es uns zu Eigen? Das Stück thematisiert derart auch heute hochaktuelle Fragen von Fremdenhass und Ausgrenzung von Minderheiten sowie die Möglichkeiten von Integration.
Dabei vertritt Nasson eine sehr moderne Haltung, indem er sich nicht ausschließlich über die eine oder die andere Religionszugehörigkeit definieren lassen möchte. Heute würde man ihn wohl als Freidenker oder Humanisten bezeichnen, der den Menschen dienen möchte, unabhängig von einem bestimmten Gott. Er sucht nach einer Position jenseits der festgefahrenen Glaubenssysteme, nach einem Mittelweg also in einer immer noch schwarz-weiß denkenden Welt, in der man entweder Jude oder Christ ist, entweder Freund oder Feind.
Nasson ist eine Vermittlerfigur, genau wie Lessings »Nathan der Weise« – aber im Gegensatz zu Nathan scheitert Nasson. Desillusioniert von der nicht enden wollenden Spirale von Gewalt und Gegengewalt, die immer neues Misstrauen hervorruft, blickt er in die Gesichter seiner Mitbürger, der Juden wie der Christen, und konstatiert: »Die Welt hat ihre Kraft verloren, Heimat zu sein. Meine Heimat ist nur das Grab.« In einer Welt, in der das Menschsein unmöglich gemacht wird, weil Ideologien, Dogmen und Stigmatisierungen an der Tagesordnung sind, kann und will Nasson nicht länger leben.
Die alltägliche Diskriminierung von Minderheiten
Auf einer weiteren Ebene setzt sich das Stück ganz konkret mit einem Stück Konstanzer Zeitgeschichte auseinander. Von Scholz selbst hat sehr akribisch in den Geschichtsbüchern und alten Chroniken recherchiert und ein fundiertes Bild der Situation der Juden im Mittelalter in dieser Stadt gezeichnet. Erschreckend ist dabei die Kontinuität, mit der das jüdische Volk über die Jahrhunderte hinweg bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auch in Konstanz immer wieder ausgegrenzt, verfolgt und ermordet wurde. Diese wiederkehrenden Muster von Ausschluss, Diskriminierung, rassistischen Ausschreitungen und Gewalt, wie sie sich auch jetzt wieder – um nur ein Beispiel zu nennen – in Ungarn Bahn brechen, gilt es, in der Konstanzer Inszenierung von 2013 aus dem alten Text herauszuschälen – und somit auch den Dichter Wilhelm von Scholz in seiner Negierung der Geschehnisse zwischen 1933 und 1945 nicht ganz ungeschoren davonkommen zu lassen.
Denn was könnte Theater besser als zu graben: in Geschichten, in Figuren, in unser aller Geschichte? Im besten Falle bleibt ein bisschen Sand übrig, der für einen kurzen Moment das Getriebe der Gesellschaft zum Knirschen bringt. Oder – um es treffender mit den Worten von Aleida Assmann zu sagen: »Die Auslöschung und Abtragung von Geschichtsschichten ist meines Erachtens nicht der Weg zu einem kritischen historischen Bewusstsein, das uns dazu verhilft, unsere eigene Position in dieser Geschichte zu erkennen. Nicht Verschweigen und Vergessen, sondern umgekehrt die sinnliche Erfahrung von Geschichte als Alterität, die Anstöße bereithält für immer neue Fragen über die eigene Herkunft und die Geschichte des Landes, in dem man lebt, enthält wichtige Voraussetzungen für eine bewusste Orientierung für die Zukunft.«
Autorin: Miriam Reimers