Brief an meine Kinder: Wenn Unrecht zu Recht wird …

Diesen Bericht hat ein Vater aus Singen nebst Fotos an seine Töchter geschrieben. Als attac-Mitglied war der Vater – er ist der seemoz-Redaktion persönlich bekannt, möchte aber seinen Namen nicht nennen (!) – am vergangenen Wochenende mit anderen Attacis aus der Bodensee-Region auf der Blockupy-Demonstration in Frankfurt. Aus Angst, ihm könnte bei dem gewalttätigen Polizei-Einsatz etwas passiert sein, informierte er seine Kinder – und via seemoz auch unsere Leser

Liebe Kinder,

ich denke, dass Euch das vielleicht auch interessiert und deshalb hänge ich Euch einen Artikel an, der recht gut schildert, was am letzten Samstag bei der Blockupy-Demonstration in Frankfurt passiert ist. Aber nicht nur attac beschreibt den Tag treffend und, was den harten Polizeieinsatz angeht, kritisch…nein, auch FAZ, Spiegelonline und andere, als „seriös“ geltende Medien beschreiben die Situation diesmal deutlich kritischer als sonst.

http://www.attac.de/aktuell/neuigkeiten/detailansicht/?tx_ttnews[tt_news]=6979/

Nun denn, ich war samt mehreren Freunden mittendrin. Wir haben uns direkt hinter den  „antikapitalistischen  Block“ eingereiht, bei dem auch Abgeordnete aus Bund und Ländern mitgelaufen sind. Dieser Block ist die Gruppe mit den vielen bunten Regenschirmen vorne, die ihr sicher auch gut auf dem Foto erkennen könnt.

Wie ihr wisst, gehe ich für die Einhaltung unserer demokratischen Staatsform, einer sozialen Marktwirtschaft und der unserem Wohlstand entsprechenden Erhaltung des Gemeinwohls seit einigen Jahren auf die Straße. In der Regel sind das keine ultralinken und kommunistischen Demonstrationen, sondern breite Bündnisse, die von Leuten wie mir unterstützt werden. Und die notwendig sind, damit unser Rechtsstaat, der meiner Meinung nach immer mehr zu bröckeln droht, erhalten bleibt. Gerne kann ich Euch dazu Beispiele nennen, aber der jüngste Umgang unseres Staatsapparates mit der NSU, V-Leuten, von Behörden geschredderten Akten, der Umgang mit nationalem und internationalem Steuerrecht etc. zeigt auch jedem aufmerksamen Nachrichtenhörer/seher/leser, inwieweit sich hier schon Unrecht in Recht verwandelt hat und das Gemeinwohl auf der Strecke bleibt.

Diese bisherigen Demonstrationen waren in der Regel friedlich, bunt und kreativ. Der Einsatz der Polizei mit ihrer Montur (die letztlich mit Strumpfmaske, Helm, Visier, die Erkennungsnummer in der Regel hinten angebracht, doch wohl auch eine echte Vermummung darstellt und mit dem Schild und den Knüppeln auch Gewalt ausstrahlt) und die Hundertschaften samt ihrer Bereitschaftswagen, die in Reih und Glied Stoßstange an Stoßstange geparkt waren und ein vielleicht mal notwendiges Durchkommen von Demonstrationsflüchtigen nicht ermöglichen werden, erschien mir immer unverhältnismässig, und ich habe mich gefragt, wovor die sogenannte Obrigkeit Angst hat? Vor Menschen wie mir, die für ihre Rechte eintreten?

Nun denn, am Samstag konnte ich erleben, warum die Polizei all‘ diese Dinge braucht. Ich weiß nicht, ob ihr es verfolgt habt. Aber der letztjährige Blockupy-Protest war ein großer Erfolg für die Veranstalter, weil ALLE vorhergesagten „bad szenarios“ der Polizei und hessischen Regierung NICHT eingetroffen sind. Die Blockupy-Tage waren kreativ und vor allem friedlich.

So war es auch in diesem Jahr! Es ist ein Armutszeugnis für den Staat, wenn die Innenstadt gesperrt wird, Haltestellen von Bus und Bahn geschlossen werden und z.B. die Geschäfte auf der Haupteinkaufsstrasse schließen, weil sie Angst vor Menschen wie mir haben, die sich letztlich für unser aller Rechte einsetzen.

Sei es drum, auch dieses Jahr wurde die Demonstrationsroute vorbei an EZB und Deutscher Bank zunächst vom Ordungsamt in Frankfurt nicht genehmigt. Das hessische Verwaltungsgericht hat sie jedoch erlaubt!

So hat, und das ist meine Meinung nach den gestrigen Vorkommnissen, die Polizei einen anderen Weg gefunden, um den Demonstrationszug zu stoppen und die bunte Bewegung in ein schlechtes Licht zu rücken: An taktisch hervorragend gewählter Stelle, deren Wirkung schon bei Caesar unter „De Bello Gallico“ sehr gut beschrieben wird, wurde der vordere Teil des Demonstrationszuges unter schwerstem Polizeiaufgebot umstellt, sehr übel behandelt und kriminalisiert. Ein Teil der Demonstranten wurde für mehr als 8h Dauer in einem sogenannten „Kessel“ gehalten, in dem es weder Versorgung noch Telefongespräche oder Bewegungsfreiheit gab.

Taktisch hervorragend und nach meiner Ansicht vollständig vorher von den Behörden geplant, weil die Polizisten für die Absperrung nach vorne rechts und links zunächst unsichtbar seitlich hinter den Häuserblocks standen und weil der Raum hinter den Häuserblocks, in dem wir uns befanden, rechts und links ebenfalls mit Hundertschaften abgeriegelt war (weitere Einheiten der Polizei standen wartend um die Ecke, von oben bis unten geschützt und mit Gummiknüppeln und Pfefferspray ausgerüstet). Entkommen im vordersten Teil der Demo nach vorne oder nach hinten war also unmöglich, und rechts und links wurde das Geschehen durch die Häuserzeilen begrenzt. Drüber schwebte 6h lang dauerhaft ein Hubschrauber mit Überwachungskameras, die Online-Bilder an die Einsatzleitung lieferten, und auf dem Gebäude links waren in oberster Zeile mehrere Polizisten damit beschäftigt, das Geschehen mit Foto und Film auch aus der Nähe zu dokumentieren. Es gibt in der ganzen Umgebung nur einen Ort, an dem das so möglich war: Eben genau da.

Ich beschreibe das nicht noch näher, weil es in sehr vielen Medien und Blogs auch gut beschrieben ist. Nur eines, ich war dabei. Ich muss mich also nicht auf die Aussagen der Presse und Behörden verlassen, sondern ich konnte mit eigenen Augen sehen, was da abging. Um ein Haar hätten wir auch zu den Eingekesselten gehört. Mit unserem Banner, dessen Stöcke auch als Waffe hätten deklariert werden können. Ich hatte Glück, blieb polizeimässig unbehelligt und habe mich mit den mehreren Tausend anderen Demonstranten mit den Menschen, die als „schwarzer Block“ eingekesselt wurden, solidarisiert, d.h. wir haben uns nicht trennen lassen. Die Demonstration haben wir gemeinsam gestartet, und sie sollte auch gemeinsam beendet werden.

9 Stunden lang (!) …sind wir quasi auf einem Fleck gestanden. Die Demonstration wurde nach 500m gewaltsam angehalten. Die Menschen aus den umliegenden Wohnhäusern haben Wasser und Essen gebracht oder für die im Polizeikessel Stehenden sogar aus den Fenstern abgeseilt und sich damit solidarisch gezeigt. Ob sich die Polizei eine Straßenschlacht gewünscht hat, die es dann nicht gegeben hat? Ob sie auf Eskalation gehofft hat? Nichts davon ist geschehen, es blieb friedlich bis zum Schluss.

Momentan bin ich noch ein wenig mehr desillusioniert, was unsere Demokratie angeht. Die soziale Ungerechtigkeit in Deutschland macht sich locker weiter breit. Ihr hättet auch sehen müssen, wie das Hotel Interkontinental von rund 50 in voller Montur samt heruntergezogenem Visier und Schild bekleideten Polizisten „beschützt“ wurde. Es ist im übrigen unser Steuergeld, das auch dafür herangezogen wird.

Ich ahne, dass die Polizei, demnächst auch die Bundeswehr (neue Gesetze machen das möglich) keine Ressentiments hätte, auf Menschen wie mich einzuknüppeln, wenn ich mich nicht konform mit ihren Interessen zeige und wenn ich auf Unrecht aufmerksam mache. Oder wenn ich undemokratische Entwicklungen der Politik benenne. Nach allem, was ich bisher erlebt habe, sehe ich, dass sich die Situation verschärft. Und ich möchte zu den Menschen gehören, die die Zustände (um mal so ein globales Wort zu gebrauchen) nicht nur wahrnehmen, sondern auch ernst nehmen und daraus Handlungen ableiten.

Mal schauen, ob ich mit meiner Wahrnehmung zukünftig richtig liege. Ich betrachte es jedenfalls als eine unerträgliche Einschränkung meiner Freiheit, wenn eine friedliche Demonstration durch die Behörden so sabotiert wird, wie es am Wochenende geschehen ist.

Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht (Bert Brecht)

Lieber Gruß
Euer Vater