Scholz-Premiere: Ein Hoch auf die Provokation
Wie weit darf Provokation gehen? Wenn aus dem Premierenpublikum mehrfach der Ruf „Juden raus“ gellt und sich im voll besetzten Konstanzer Stadttheater kein Widerspruch regt – ist das provokant oder nur widerlich, bloß ein Regie-Gag oder schon wieder klammheimliche Zustimmung? Nicht die einzige Frage, die sich nach der Premiere von „Der Jude von Konstanz“ am vergangenen Freitag stellt
Erste Überraschung am Premierenabend: „Der Jude von Konstanz“ ist kein antisemitisches Stück. Zweite Überraschung: Wilhelm von Scholzens Trauerspiel ist ein aktuell höchst politisches Theaterspiel über Fremdenhass und Ausgrenzung, ja, auch über die Frage, was wem ‚Heimat‘ ist. Weitere Überraschung: Regisseur Stefan Otteni, fast mehr noch Dramaturgin Miriam Reimers und tatsächlich alle Schauspieler schaffen es, solche Widersprüche ungemein glaubhaft auf die Bühne zu bringen.
Kaum überraschend hingegen, dass die letzte Premiere zur besten Premiere dieser Spielzeit im Konstanzer Stadttheater wird. Vom Bühnenbild bis zur dramaturgischen Aufbereitung, von den Schauspieler-Leistungen bis zur manchmal überzeichnenden Inszenierung bietet diese Aufführung alles, was modernes Theater sehenswert macht. Vor allem aber: Es werden Wunden offen gelegt, mehr noch: Ein Zeigefinger wird in die Wunde gelegt und schmerzhaft gedrückt. Und nicht nur dem Publikum tut das sichtlich weh.
Dutzendfach: „Juden raus“. Vereinzelt: „Nazis raus“
Zurück auf Anfang: Die Geschichte vom jüdischen Arzt Nasson, der im Konstanz des 14. Jahrhunderts zum Christentum übertritt, um ein Krankenhaus für alle Bürger der Stadt bauen zu können, wird vom Autoren wie vom Regisseur schnörkellos-fair dargestellt: Dem geifernden Christen tritt ein fanatischer Jude gegenüber, dem verständnisvollen Priester begegnet der friedfertige Rabbi – Ausgewogenheit ist angesagt. Doch unter der Oberfläche brodelt Pogromstimmung, Angst und Neid: Der Blarer-Bursche (der wird im Originaltext wirklich so genannt) behandelt das jüdische Mädchen als Freiwild, der jüdische Händler wittert ein Schnäppchen und Fremdenhass lauert überall.
Doch was vordergründig als historische Abhandlung daherkommt, wird erst raunend, dann lauthals aus dem Publikum kommentiert: Erste Zurufe wie „recht so“ oder „geschieht den Juden ganz recht“ steigern sich später zu „Juden raus“-Parolen. Nicht alle im Premierenpublikum verstehen das als Spiel, nicht alle identifizieren die Krakeeler als Komparsen; nur vereinzelt und erst nach der Pause, als der erste Schreck verflogen ist, sind auch „Nazis raus“-Rufe zu hören. Das Wechselspiel aus Provokation und Aufklärung wird nur vereinzelt unterbrochen, wenn unversehens eine Schauspielerin an die Bühnenrampe tritt und Charlotte Knoblochs Plädoyer für ein jüdisches Weiterleben in der Bundesrepublik zitiert. Und letztlich aufgelöst wird das Verwirrspiel erst in der letzten Szene, wenn aus den Schauspielern jüdische Konstanzer werden, die in dürren Worten von ihrer Deportation 1938 berichten. (Übrigens ein kunstvoller Bogen zur Eingangsszene, in der dieselben Darsteller ihre ganz persönliche Ankunft in Konstanz schildern.)
Geht das: Ein gutes Stück eines bösen Nazis?
Die Aufführung spart nicht mit aktuellen Anspielungen. Das beginnt mit dem hintergründigem Bühnenbild (Ausstattung: Anne Neuser), das historische Konstanz-Fotos aus dem vorvorigen Jahrhundert in tristem Grau auf die Bühnenrückwand wirft, das die Schauspieler nicht in historische Gewänder, sondern in aktuelle Alltagskleider steckt, und das den Fokus der Ausstattung einzig auf das Haus, um das sich alles dreht, legt und es als Baumhaus darstellt, das vom ersten Pogrom-Sturm umgestürzt wird. Und das wird fortgesetzt in der gescheiten Dramaturgie von Miriam Reimers, die kunstvoll zwischen Scholz-Urtext und Umgangssprache wechselt, die immer wieder retardierende Sequenzen einstreut und kongenial mit Stefan Otteni harmoniert.
Dem Regisseur gelingt das Kunststück, dieses hundert Jahre alte, diskussionsbelastete Trauerspiel in die Jetzt-Zeit zu transportieren – ohne die Altlasten der typisch konstanzerischen Dispute um ihren „größten Künstler“, aber mit den unausweichlichen Parallelen zu NSU-Morden und Nazi-Geschwätz. Und er schafft die Gratwanderung, ein gutes Stück eines umstrittenen Menschens ohne erhobenen Zeigefinger zu präsentieren – der Zeigefinger drückt vielmehr auf die Wunde von Fremdenhass und Ausgrenzung, der wir uns täglich gegenüber sehen.
Und die SchauspielerInnen ziehen mit: Ob Zeljko Marovic als Hauptdarsteller Nasson, der trotz mancher Textschwächen seine erste Hauptrolle bravourös über die Bühne bringt und den Freidenker sympathisch wie glaubwürdig mimt, oder Kristin Muthwill, die als Mehrfach-Besetzung gleich doppelt überzeugt, oder Ingo Biermann, der dem militanten Juden ein glaubhaftes Gesicht verleiht. Auch Andreas Haase als schlitzohriger Händler und Alissa Snagowski, die beide Kleriker beider Religionen gekonnt verkörpert, oder Thomas Fritz Jung als Mönch fügen sich in das überzeugende Ensemble. Und Sophie Köster gibt die naive, zerrissene Bellet erfreulich erfrischend. Erneut ein Bravo für die tolle Leistung der überwiegend jugendlichen Darsteller.
Ein diskussionswürdiges Theaterstück in diskussionswürdiger Interpretation
Und wird Wilhelm von Scholz nun rein gewaschen? Das interessiert die Theatermenschen offensichtlich gar nicht. Sie mischen sich nicht ein in die Konstanzer Kirchturm-Diskussionen um Straßen-Umbenennung und Grab-Abräumung. Sie präsentieren stattdessen ein diskussionswürdiges Theaterstück in diskussionswürdiger Interpretation. Mit aktuellen Bezügen, mit klugen Querverweisen, mit nachdenkenswerten Parallelen. Und ernten dafür nicht enden wollenden Applaus. Schlicht: Famoses Theater, das Weiterdenken provoziert.
Autor: hpk
War ich in der gleichen Vorstellung?
Einverstanden: Das Stück selbst war wie erwartet und vorher oft versichert, nicht antisemitisch. Es war einfach nur ein frühes Theaterstück eines ehrgeizigen jungen Dramatikers um die Jahrhundertwende. Da orientiert man sich an Schiller und den großen Themen zwischen „gut und böse“ und recherchiert in der Konstanzer Geschichte, wo man fündig wird! Der Konflikt zwischen aufstrebendem Judentum, mächtiger Kirche und inhumaner Obrigkeit bringt den geeigneten dramatischen Stoff! Was bei dem Dichter dann noch alles folgt, braucht an dieser Stelle nicht diskutiert zu werden: auch einverstanden.
Nicht einverstanden: Man weiß nicht, wo der Dichter von Scholz anfängt und die eigene Dichtung des Regisseurs oder der Dramaturgin aufhört, d.h. wo und was gekürzt oder verändert wurde – auf diesen interpretierenden Mix von Ur-Dichtung und Regie-Dichtung hätte ich gerne verzichtet und wollte so gerne einmal nur den wirklichen Text hören! Das wäre interessant gewesen! Das Stück gibt es nämlich nicht mehr als Einzelwerk zum Lesen!
Und dann: Was soll das wohlfeile Witzchen, die nach Todesstrafe sinnende staatliche Macht mit wie im Tatort dem Handy herbei zu telefonieren gerade dann, wenn das Drama seinem Höhepunkt zustrebt?
Und was hat sich der Regisseur gedacht, wenn er ein jüdisches Mädchen aus dem Mittelalter wie das Klischee einer vom Leben gelangweilten Blondine mit Minikleid und Stiefelchen immer nur küssen und schlafen lässt, und die sexuell misshandelt wird, was auch zu dem Klischee und wenig zu dieser Geschichte passt.
Und warum tragen die Konstanzer Juden plötzlich -wie sie es damals nicht getan haben- Backenbärte und Zylinder und nicht die im Mittelalter verordneten Spitzhüte („Judenhüte“)?
Warum eigentlich muss jeder Stoff zwanghaft in die Gegenwart übertragen werden? Auch wenn es so falsch ankommt wie hier: Backenbärte und Kopfbedeckung sind selber gewählte religiöse Symbole und die spitzen Hüte waren von der Obrigkeit verordnete Zeichen der Ausgrenzung!
Wäre es nicht eindrucksvoll gewesen, das Mittelalter – so wie uns es durch die Chroniken übertragen wird – möglichst getreu auf die Bühne zu bringen? In so einer tollen alten Stadt wo es noch so viel Mittelalter gibt? Dass das schöne Bühnenbild und einzelne überraschende Szenen (Teufel-Szene und Auftritt des Bischofs) das eindrucksvoll verwirklicht haben, hat sich nicht in der Gesamt-Dramaturgie wieder gespiegelt.
Warum zum Beispiel lässt man den eindrucksvollen Schluss am Paradieser Tor weg, wo die singenden Henker warten?
Und warum darf der Jude von Konstanz nach seinem dramatischen Entschluss, wieder Jude zu sein, nicht freiwillig den spitzen Zwangshut aufsetzen, wie das im Original geschieht? In dieser Geste läge wirkliche Dramatik. Auf der Bühne jedoch nestelt der Darsteller an einer runden Brille herum, an der ein Backenbart festgemacht ist, den er wieder an die richtige Stelle bringen muss…
Schade um die vielen verschenkten Möglichkeiten, die Vergangenheit zu so zu zeigen, wie sie von Scholz genau recherchiert hat und uns selbst darüber nachdenken zu lassen, was das Gleichnis aus alter Zeit uns heute noch sagen will!
Christel Thorbecke
Zwei Morde und ein Selbstmord – das alles nur durch und unter Juden – eine Nebelkerze für das bürgerliche Gewissen.
Die Vorstellung am Samstagabend war die zweite Aufführung des „Juden von Konstanz“. Sehr gut besucht vom universitären Publikum, LehrerInnen, kommunalen Entscheidungsträgern und Kulturbeflissenen.
Allein schon die exzellent gespielte Hauptrolle des Arztes Nasson in innerlicher Zerrissenheit durch Zeljko Marovic, selbst Serbe – politisch freimütiger Schauspieler und zuletzt zu hören als engagierter Vorleser der deutschsprachigen Texte von und mit Sreten Ugričić am 22.4.2013 im Foyer der Spiegelhalle.
Nasson – ähnlich friedfertig wie Nathan der Weise – ist eigentlich bereits zum Christ konvertiert, um in Konstanz ein Haus kaufen zu dürfen und seiner Berufung als Arzt nachgehen zu können. Er will auch seiner Geliebten Bellet eine sichere Existenz bieten. Die übrigen Juden – die emsigen Geldverleiher, unentbehrlich für die klammen Stadtbürger, suchen die Sicherheit der Stadt, aber wissen nie wie lange sie geduldet werden, bevor der gemeine (christliche) Mob ihnen das Leben raubt.
Da kommt ein radikaler, aus Schaffhausen geflüchteter Jude nach Konstanz, lässt sich sein Klappmesser von der schönen und klugen jungen Jüdin Bellet segnen, sieht wie diese von einem stadtbekannten Schürzenjäger Blarer sexuell bedrängt wird, rauft mit ihm und tötet ihn rücklings mit einem Dolchstoß – aha!
Dafür sollen die Juden brennen, die Konstanzer bieten dem Kaiser als Gegenwert für diese Schandtat 20.000 an – aber der besonnene Nasson, kennt einen noch besseren Deal, für 100.000 Lösegeld soll und kann ihr Leben geschont bleiben.
Der katholische Klerus im Konstanz des 14. Jahrhunderts glaubt an altes Wissen aus jüdischen Traditionen. Nasson heilt beinahe wie Jesus den Lazarus den todkranken Bischof. Somit hält der Bischof nun ebenfalls dem neugewonnene Schäflein die segnende Hand übers Haupt.
Doch die Geschichte wird dramatisch: der radikale Jude tritt auch als Glaubens-Rächer gegen die Liebe von Nasson und Bellet auf. Da spielt es keine Rolle mehr, dass Nasson sein Haus einem jammernden Konstanzer Bürger abtritt und mit der Geliebten irgendwo von diesen Querelen entfernt ein unbelastetes neues Leben suchen will. Der Rächer opfert mit dem gesegneten Messer das Lamm Bellet – der alte Bund bleibt gewahrt.
Seht her die Juden schächten ihre abtrünnige Glaubensschwester – während der wahre katholische Glaube gepaart mit medizinischem Wissen den Konstanzer Bischof wundersam weiterleben lässt.
Doch was nützt die Gunst und Gnade der katholischen Kirche, wenn die Trauer das Herz zerreißt und die Sehnsucht nach der Geliebten nicht gestillt werden kann.
Da erscheint der Freitod – Selbstmord – für Nasson legitim.
Einen geschichtlichen Bogen zur politischen Tragkraft des Lehr-Stückes von Wilhelm von Scholz als humanistisches Werk mit aufklärerischer Wirkung kann ich nicht spannen.
Eher empfinde ich eine gewisse legitimierende Wirkung des Stückes für die späteren Deportationen der Nazizeit, wenn die Ausschaffung als Ultima Ratio nicht hinterfragt wird –
sie seien ja selbst schuld und sie hätten es ja nicht besser verdient.
Im christlichen Europa des Mittelalters wurden Juden verfolgt und hingerichtet.
Im Jahr 1332 wurden in Überlingen bei einem Pogrom zwischen 300 und 400 Juden in ihrer Synagoge verbrannt. 1430 wurden alle Juden aus der Stadt Überlingen ausgewiesen.
1938 wurde die Konstanzer Synagoge von den Nazis abgebrannt.
Im Jahr 1940 wurden in Konstanz 108 jüdische Mitbürgerinnen nach Gurs transportiert. Einige konnten in Frankreich mit Hilfe der Resistance fliehen, andere wurden später in Ausschwitz vernichtet.
Immer noch gibt es in Deutschland einen latenten Antisemitismus – sei es durch besudelte Grabsteine oder herausgerissene Stolpersteine oder das Leugnen des Holocaust oder durch antizionistische Verschwörungstheorien.
Was ist denn Heimat ohne Geborgenheit ohne Recht auf Bewegungsfreiheit ohne kulturelle Teilhabe?
Insofern sollten wir uns heute fragen, wer kann ins Theater gehen, wer kann mit humanistischem Interesse mehr Demokratie umsetzen – delegieren wir nicht all zu viele Rechte an andere, verzichten wir nicht viel zu früh auf profunde Mitbestimmungsrechte.
Der bildliche Konfrontation im Stadttheater mit der Zeit um 1905 fand ich schon gelungen. Hurra die Eisenbahn – hurra von 1871 bis heute.
Christoph Schlingensief hätte wahrscheinlich wie in Zürich, die jungen und alten Kameraden vom Marinefanclub Konstanz auf die Bühne geholt, um bei wehender Reichskriegsflagge die Andersdenkenden im Publikum in den Pulverturm zu stecken.
Seufz!
So wie hpk das beschreibt muss ich mir das Stück wohl doch ansehen. Trotzdem Dank an ihn.