Wohnungsnot ade?
Die große Mehrheit der Konstanzer Bevölkerung ächzt seit Jahren unter rasant steigenden Mieten, während sich so mancher Immobilienbesitzer daran eine goldene Nase verdient. Damit soll Schluss sein: Einstimmig hat der Gemeinderat jetzt das „Handlungsprogramm Wohnen in Konstanz“ verabschiedet, das die Wohnungsnot in den nächsten Jahren lindern oder gar beseitigen soll. Man darf zumindest gespannt, aber auch durchaus skeptisch sein
Gelegentlich reibt man sich als Besucher einer Gemeinderatssitzung die Augen und fragt sich verwundert, in welcher hermetisch abgeschirmten Parallelwelt so manche Konstanzer Gemeinderäte und -rätinnen denn wohl leben – oder nach ihren Bekenntnissen in der letzten Gemeinderatssitzung bisher gelebt haben. Bei der Debatte über das von Oberbürgermeister Uli Burchardt und der Verwaltung erarbeitete „Handlungsprogramm Wohnen in Konstanz“ jedenfalls konnte man den Eindruck gewinnen, für manche Volksvertreterinnen und -vertreter sei die massive Wohnungsnot erst vor einigen Monaten plötzlich wie ein Meteor vom Himmel gefallen.
Wohnungsbau ist jetzt Chefsache
Uli Burchardt hatte in der Juli-Sitzung des Gemeinderates angekündigt, einen „großen Wurf“ hinzulegen, und auf den ersten Blick scheint ihm das gelungen, zumal er, der erst vor einem Jahr dieses Amt übernahm, keine Schuld daran trägt, dass Politik und Verwaltung in dieser existentiellen Frage erst jetzt aufzuwachen scheinen, nachdem das Kind schon seit vielen Jahren im Brunnen liegt. Mit dem im Juli präsentierten Gutachten zum Konstanzer Wohnungsbedarf hat man es endgültig schwarz auf weiß: In Konstanz fehlen bis 2030 über 5.000 Wohnungen, und das kommt nicht von ungefähr, denn die Bautätigkeit hält schon seit Jahren mit der Nachfrage nach Wohnungen nicht Schritt.
Welchen Nachholbedarf Konstanz in dieser Hinsicht hat, zeigt laut Gutachten der Vergleich mit Kreuzlingen: „2012 wurden in Kreuzlingen (20.349 Einwohner) mehr Wohnungen gebaut als im vergleichsweise größeren Konstanz (82.665 Einwohner).“ Kreuzlingen, das nur ein Viertel der Einwohner von Konstanz hat, errichtete 2012 rund ein Viertel mehr Wohnungen als Konstanz – und so ging es schon seit vielen Jahren. „Die Bautätigkeit in Konstanz hat in den letzten Jahren (von 2008 bis 2012) tendenziell wieder zugenommen. Nach einer geringen Bautätigkeit zwischen 2003 und 2005 wurden vor allem in den Jahren 2006 und 2007 viele Wohnungen fertig gestellt (353 bzw. 322 Wohneinheiten). Während 2008 nur 115 Wohnungen fertig gestellt wurden, waren es 2012 immerhin 315 Wohnungen. Die Baugenehmigungen sind seit dem Höhepunkt in 2009 wieder rückläufig und liegen 2012 bei 232 Wohnungen.“
Eine Entspannung auf dem Wohnungsmarkt sieht anders aus, zumal der Gipfel der Nachfrage momentan erreicht ist und nicht erst 2030 erwartet wird, wenn der Handlungsplan abgearbeitet sein soll. Das beweisen die für viele Menschen existenzgefährdend hohen Mieten, bei denen Konstanz bundesweit einer der traurigen Spitzenreiter ist. Das Gutachten resümiert: „Im Zeitraum 2011-30 beläuft sich die realistische Neubaunachfrage auf zusammen 5.276 Wohnungen, wobei zwei Drittel davon in den 2010er Jahren anfällt und nur ein Drittel in den 2020er Jahren.“ Das Handlungsprogramm visiert jedenfalls für die nächsten Jahre jeweils 400 neue Wohnungen an – und das erfordert erhebliche Anstrengungen der öffentlichen Hand.
An der Wohnungsnot und den hohen Mieten lässt sich auf die Schnelle nichts ändern. Wer also hofft, das Handlungsprogramm könne innerhalb eines Jahres etwas verbessern, hat sich getäuscht; von heute auf morgen lässt sich im Bauwesen kaum etwas erreichen. Dass die Notwendigkeit zu möglichst schnellem Handeln inzwischen wenigstens bei sämtlichen Gemeinderätinnen und -räten angekommen ist, zeigte sich daran, dass niemand das Wort ergriff und eine Predigt hielt, die Kommune solle sich da ganz heraushalten, weil der freie Markt das schon richten werde. Zumindest in Sachen Wohnen scheint sich selbst bei den Betonköpfen herumgesprochen zu haben, dass Markt und Daseinsvorsorge für die Bevölkerung miteinander nicht vereinbar sind.
Programm statt Handeln?
Für den scheidenden (Bau-) Bürgermeister Kurt Werner ist der Wohnungsbau die zentrale Aufgabe der Bautätigkeit in den nächsten Jahren. Er betonte (auch angesichts der besonderen geographischen Lage von Konstanz, das von viel Wasser und geschützten Flächen umgeben ist) die Notwendigkeit, geeignete Flächen aufzukaufen, um sie in städtischen Besitz zu bringen. Große Hoffnungen setzt er in ein für 2014 geplantes Bündnis für Wohnen, bei dem Wohnbauaktive wie Baugenossenschaften, Bauunternehmen und die Immobilienbesitzer von Haus & Grund miteinander an einen Tisch gebracht werden sollen. Natürlich brauche man dafür deutlich mehr Personal als bisher.
Marion Klose, Leiterin des Amtes für Stadtplanung und Umwelt, stellte das eigentliche Handlungsprogramm vor, das aber noch keine konkreten Flächen für Neubauprojekte ausweist, sondern vor allem ein Handlungsgerüst bietet und dem Laien dementsprechend wolkig erscheint. Sie sieht zwei Säulen der Wohnraumentwicklung in nächster Zeit: 1. Die Quantitätssicherung. Dazu zählen das Ausweisen neuer Flächen, weil die Innenverdichtung nicht mehr ausreicht, sowie ein bewusstes Flächenmanagement und eine Zusammenarbeit in der gesamten Region. Die 2. Säule ist die Qualitätssicherung, die dem Neubau und Erhalt von preisgünstigem Wohnraum dienen und eine Ghettobildung vermeiden soll.
Dazu bedarf es einer entsprechenden sozialen, verkehrlichen und technischen Infrastruktur. Will heißen: Wer neue Wohngebiete etwa hinter Wollmatingen ausweist, muss auch Straßen bauen, Kanalisation verlegen, das Busnetz erweitern, Kindergärten bauen usw. Ihr Vortrag machte verständlich, was alles zu einem solchen Wohnungsbauprogramm gehört. Klar wurde dabei auch, dass es bei dem Handlungsgerüst noch nicht um konkrete Schritte, sondern um einen Fahrplan dafür geht, wie, wann und mit welchen Zielen in nächster Zeit überhaupt losgeplant werden soll, um die rund 400 erforderlichen Wohneinheiten pro Jahr zu schaffen. Auch sie forderte, noch in diesem Jahr Mittel für mehr Personal in den Haushalt einzustellen.
Wie es in solchen Debatten denn gern der Fall zu sein pflegt: Etliche der Redner trugen offene Türen nach Athen, indem sie ein ums andere Mal vielwörtig betonten, jetzt sei es höchste Zeit, nicht nur zu reden, sondern endlich zu handeln – just diese Redner vergaßen aber zu erwähnen, warum sie und ihre Fraktionen nicht schon seit Jahren Anträge in den Gemeinderat eingebracht haben, die den Wohnungsbau vorangebracht hätten.
Natürlich machte man sich gegenseitig auch ein paar Vorwürfe: Insbesondere Herbert Weber (SPD), bekanntlich seit Jahrzehnten engagierter und lautstarker Streiter für die Interessen der Mieter, beklagte wieder einmal die bisherige grün angehauchte Konstanzer Taktik, auf die Innenverdichtung schon bebauter Flächen zu setzen, statt neue Flächen am Stadtrand als Bauland zu erschließen. Er gab dem Gemeinderat eine Mitschuld an der Misere und geißelte die Untätigkeit der Verwaltung. „Warum wurde das alles nicht längst in die Wege geleitet?“, rief er sichtlich erregt in den Raum.
Ja, warum ist eigentlich nichts geschehen? Auf diese Frage gab es in dieser Sitzung keine Antwort, aber Weber hat natürlich recht: Der Konstanzer Gemeinderat hat sich nicht gerade als Vorkämpfer auch für Mieter- und damit oft auch Arbeitnehmerinteressen ausgezeichnet und die Verwaltung in dieser Frage wahrlich nicht gescheucht. Aber wie sollte er auch bei den aktuellen Mehrheitsverhältnissen?
Platz für die kleinen Leute?
Das Handlungsgerüst wurde am Ende einstimmig angenommen, aber es ist eben noch ein Fahrplan voller wohlmeinender Gemeinplätze, und in der Debatte zeichneten sich die Schwachstellen und die Richtungsdebatten deutlich ab, die sich in den nächsten Jahren anbahnen. Der Handlungsplan ist nämlich kein glasklares Bekenntnis zu einem an den Interessen der Bezieher unterer und mittlerer Einkommen ausgerichteten Bauprogramm des sozialen Wohnungsbaus.
Und so konnte denn Jürgen Faden (FWK) schon mal andeuten, in welche Richtung die Bürgerlichen, die derzeit angesichts der Katastrophe auf dem Wohnungsmarkt in Deckung gegangen sind, in den späteren Debatten über die einzelnen Baumaßnahmen gehen wollen: Er erinnerte daran, dass in Konstanz auch Wohnungen im oberen Preissegment fehlen und forderte, die Grundstücksverkäufer an den Gewinnen der Umwandlung in Bauland zu beteiligen. Er betonte, man müsse auch auf privates Bauen setzen und die Bürokratie zurückfahren, um Bauvorhaben zu beschleunigen. Vöglein, ick hör‘ Dir trapsen, denn angesichts der Not der Normal- und Zunehmend-Schlechter-Verdiener ist die Forderung, auch Luxuswohnungen zu errichten, vielleicht nur ein Versuchsballon des nur allzu bürgerlichen Lagers, wie weit man das Wohnbauprogramm zugunsten der Interessen der Wohlhabenden und der Immobilienspekulanten ausdeuten und instrumentalisieren kann?
Dass man jetzt im Rat einhellig umgeschwenkt ist und neues Bauland erschließen will, heißt noch nicht zwingend, dass damit in den nächsten Jahren für die Masse der Betroffenen etwas getan ist, denn es kommt darauf an, was auf diesen Flächen gebaut wird – Einfamilienhäuser für Wohlhabende bringen der Mehrheit der Menschen nichts. Hier ist der Handlungsplan noch ziemlich offen für verschiedene Interpretationen, und die Weichenstelllungen für die Zukunft dürften erst in den Abstimmungen über die einzelnen Bauvorhaben getroffen werden, auch wenn Roger Tscheulin (CDU) für Anfang November eine Sondersitzung zur Klärung der Grundsatzfragen forderte. Da könnte öffentlicher Druck vonnöten sein, um die Gemeinderätinnen und -räte an ihre hehren Vorsätze aus dieser Sitzung zu erinnern und nicht die Häusle- und Villenbauer zum Zuge kommen zu lassen.
Vera Hemm (Linke Liste) brachte solche Kritik an der Unverbindlichkeit des Handlungsplans auf den Punkt: „Angesichts der langen Wartelisten von Wohnungssuchenden bezweifle ich jedoch, ob mit den geplanten Wohnungen der Bedarf gedeckt werden kann. Ich möchte etwa die Wichtigkeit des Geschosswohnungsbaus betonen, wo es trotz der diversen Bautätigkeiten in Petershausen großen Bedarf gibt. Für Bürger, die solche Wohnungen suchen – und sie stellen bei weitem die Mehrheit der Einwohnerschaft – wird es nach den vorliegenden Plänen auch weiterhin düster aussehen. Herr Burchardt, Sie haben verschiedentlich geäußert, dass die Wohnungsfrage ganz oben auf Ihrer Agenda steht. Davon ist in dieser Vorlage noch zu wenig zu sehen. Wir wollen ein belastbares Sofortprogramm, und Standorte gibt es genug: Vincentius, Döbele und andere. Vor allem brauchen wir eine substantielle Planung für öffentlich errichtete, städtisch geförderte Sozialwohnungen. Die Stadt muss sich bei allen Neubauprojekten verpflichten, einen Anteil von mindestens einem Drittel an sozialem Wohnungsbau sicherzustellen“. Kritische Worte fand sie – wie viele andere Gemeinderäte und -rätinnen auch – für das bisherige Konzept, keine neuen Flächen zu erschließen, sondern bisher schon genutzte Flächen dichter zu bebauen, denn „z.B. das Paradies wurde schon so stark nachverdichtet, dass es seinem Namen bald schon keine Ehre mehr macht.“
Und auch der scheidende SPD-Grande Jürgen Leipold bemerkte treffend, wie unkonkret dieses Handlungsgerüst (noch) ist: „In diesem Plan sieht man keine größeren neuen Siedlungen.“ Er erinnerte daran, dass die Stadt dringend sozialen Wohnungsbau braucht und dass man vor vielen Jahren schon einmal in ähnlich kritischer Situation eine schnelle Lösung gefunden habe, indem man sich ganz konsequent ausschließlich am tatsächlichen Bedarf orientiert habe.
Ein wenig skeptisch war selbst Heribert Baumann (CDU), Ortsvorsteher von Litzelstetten, der seinen Ortsteils von zunehmender Vergreisung bedroht sieht, da junge Familien dort weder Wohnraum noch Bauland finden. Er wundert sich darüber, dass in Litzelstetten laut Handlungsplan 26 neue Wohneinheiten entstehen sollen, denn nach seiner Meinung ist der derzeit vorhandene Bauplatz dafür viel zu klein.
Ist der Handlungsplan also eine Luftnummer? Nein, denn Verwaltung und Gemeinderat meinen es sichtlich ernst und haben die Zeichen der Zeit zumindest teilweise erkannt. Es bleibt aber abzuwarten, ob sich der geplante massive Wohnungsbau in Konstanz in die richtige Richtung entwickelt und ob aus dem Ei, das man jetzt gemeinsam unter großem Gegacker gelegt hat, am Ende wirklich ein wunderschöner Phönix schlüpft.
Autor: O. Pugliese