Im Stau auf Schnäppchenjagd

20131215-222522.jpgSamstagmorgen im Dezember, 9 Uhr. Eine kalte Brise streicht über Konstanz, es riecht nach Schnee. Auf dem Weihnachtsmarkt, der sich von der Marktstätte bis zum See erstreckt, klappen die ersten HändlerInnen ihre Buden auf. In den Geschäften zwischen Rhein und der Grenze bereitet sich der Konstanzer Detailhandel auf einen weiteren Großkampftag vor. Und da kommen sie auch schon. Der Zug aus Biel spuckt pünktlich um 8.56 Uhr Hunderte von Menschen auf den Bahnsteig 3. Am Emmishofer Zoll – einem von vier Grenzübergängen zwischen Konstanz und Kreuzlingen (TG) – bauen sich die ersten Staus auf. Die motorisierten Besucher kommen aus mehreren Richtungen – aus der gesamten Ostschweiz, aber auch Autokennzeichen aus Bern, Solothurn oder Luzern quälen sich im Schritttempo Richtung Konstanz. Kurz danach, die Läden in der Innenstadt haben inzwischen geöffnet, stauen sich die Fahrzeuge bis tief hinein in die Nachbarstadt Kreuzlingen, fast alle Motoren laufen.

Ein deutscher Zöllner sitzt fröstelnd in seinem kleinen Häuschen und stempelt die Ausfuhrzettel ab, mit denen sich die Schweizer Kundschaft die in Deutschland bezahlte Mehrwertsteuer (neunzehn Prozent) zurückholt. Der Mann ist sichtlich genervt: „Wir machen bald nichts anderes mehr als stempeln. Idiotenarbeit, das könnte auch meine dreijährige Tochter. Jetzt geht’s ja noch, aber kommen Sie mal in einer Stunde wieder vorbei. Das wird immer schlimmer“. Er hofft auf seine baldige Ablösung. Michael Hauck, Pressesprecher des Hauptzollamts Singen, ist täglich mit dieser Situation konfrontiert: „Das hat gegen Ende 2010 mit dem Erstarken des Franken angefangen und nahm seitdem dramatisch zu“. Im Hauptzollbezirk zwischen Konstanz und Bad Säckingen sehe es überall ähnlich aus, so Hauck. Erstaunlich sei auch für ihn: „Früher kamen die Schweizer aus dem grenznahen Gebiet nach Deutschland, jetzt nehmen sie auch weitere Anfahrten von bis zu 100 Kilometern und mehr in Kauf“. Verstehen könne er das nicht, aber es sei nun mal so.

„Das macht keinen Spaß mehr“

Kurz nach der Grenze, auf Konstanzer Gemarkung, geht kaum noch was. Für die hundert Meter vom Zoll bis zum Kreisel, wo die meisten rechts abbiegen, müssen die AutomobilistInnen bis zu 20 Minuten Wartezeit in Kauf nehmen. Ich frage einen Fahrer, woher er kommt. Aus St. Gallen, antwortet er mürrisch. Warum er nicht die bequeme und schnelle Verbindung mit der Bahn nutze? Das, so die barsche Antwort, ginge mich rein gar nichts an. Direkt am Kreisel prallt der Autowurm auf Tagesausflügler, die über dieN7 gekommen sind, den Autobahnzoll passiert haben und ebenfalls in die Konstanzer Innenstadt wollen.

20131215-222636.jpgJunge Frauen und Männer von der Verkehrswacht versuchen nach Kräften, das Chaos halbwegs zu regeln. Hektische Betriebsamkeit, Walkie-Talkies sind im Einsatz und einzelnen Gesprächsfetzen lässt sich entnehmen, dass es an anderer Stelle nicht besser aussieht: “Die alte Rheinbrücke ist völlig dicht, schickt uns mal Verstärkung“. Mit Engelsgeduld erklären die VerkehrswächterInnen, dass die Stadt jetzt schon völlig überlaufen ist und verweisen auf den Park&Ride-Platz, der gerade um die Ecke liegt.Von dort fahre ein Shuttle-Bus in die Stadtmitte. Doch das interessiert kaum jemanden. Manchmal bleibt den Verkehrswächtern nichts anderes übrig, als die Zufahrt in die City kurzfristig mit Absperrgittern zu verbarrikadieren. Das Verständnis für diese Massnahme hält sich bei den AutofahrerInnen in Grenzen. „Je länger die im Stau stehen“, so eine junge Frau, die hier ihren Dienst verrichtet, „desto aggressiver werden sie“. Ihre Kollegin bestätigt: „Beschimpfungen und Pöbeleien nehmen zu. Das macht bald keinen Spaß mehr. Dabei versuchen wir denen ja nur zu erklären, wie sie halbwegs stressfrei mit dem Bus in die Stadt kommen können.

Im Schneckentempo quälen sich die AutomobilistInnen zum Ort ihrer Sehnsüchte, dem Einkaufszentrum Lago am Konstanzer Bahnhof. Auf dem Weg zu dem grossen Komplex mit seinen Filialen bekannter Modekonzerne, seinen Sportgeschäften, Restaurants, Billigdiscountern, Computerläden und Fitnesszentren treffen sie auf Gleichgesinnte, die aus dem südwestdeutschen Raum anreisen. Bereits mehrere Kilometer vor der Stadtgrenze geht es auch für diese Besucher aus dem Hinterland nur Meter für Meter vorwärts, darunter sogar EinkaufstouristInnen aus Stuttgart, Tübingen, Freiburg oder Rottweil. Es ist mittlerweile 11 Uhr und rund um die Konstanzer Altstadt reiht sich nun Stoßstange an Stoßstange. Auf ihrer Anfahrt wurden die Reisenden zwar über Signaltafeln mehrfach darüber informiert, dass alle Parkhäuser im mittelalterlichen Stadtkern besetzt sind – doch das stört kaum jemanden. Irgendwo und irgendwann wird sich schon ein Plätzchen finden.

Alles gnadenlos zugeparkt

Und so sieht es dann auch aus rund um die Konstanzer Altstadt: Jeder Zentimeter ist zugeparkt, darunter freizuhaltende Flächen für Feuerwehreinsätze, Fahrradwege oder Garageneinfahrten. Vor allem die AnwohnerInnen der angrenzenden Stadtteile Stadelhofen und Paradies klagen seit Jahren darüber, dass ihre Quartiere freitags und samstags im Verkehr ersticken. „Es sind meistens Besucher mit den kleinen Nummernschildern aus dem Nachbarland, die uns ihr Blech vor die Türen stellen“, ist oft zu hören und an Konstanzer Stammtischen wird immer lauter über die „Schnäppchenjäger und Heuschrecken aus der Schweiz“ gelästert. Dass der lokale Detailhandel den KonstanzerInnen empfohlen hat, ihre Einkäufe zwischen Montag und Donnerstag zu erledigen, hat die Stimmung unter den Einheimischen nicht verbessert. Ekkehard Greis sieht das ein bisschen anders, aber er ist auch Pressesprecher des örtlichen Einzelhandelsverbands : „Der Konstanzer Einzelhandel steht gut da. Fast alle profitieren vom günstigen Wechselkurs und wenn es dem Einzelhandel gut geht, geht es auch den Handwerkern, den Zulieferern oder der Gastronomie gut“. Die massive Verkehrsbelastung, das räumt er ein, sei schon ein Problem. Das aber, so Greis, „müssen die Konstanzer zusammen mit den Kreuzlingern lösen, sonst wird das nichts“.

Bodanstrasse, kurz nach dem Grenzübergang. Vor allem hier geht es nur zäh voran. Zur Lago-Shopping-Mall sind es zwar nur noch ein paar Hundert Meter, doch das Parkhaus ist voll besetzt, die Wartezeit beträgt eine halbe Stunde und mehr. Und zwischen den Fahrzeugen mit ihren Schweizer Kennzeichen stecken die Busse der Konstanzer Stadtwerke – die Strasse ist nur zweispurig befahrbar, für eine Busspur gibt es keinen Platz. Vier Minuten dauert laut Fahrplan die Strecke von der Haltestelle Schnetztor bis zum Bahnhof, freitags und samstags sind es erheblich mehr. Und so empfehlen die genervten BuschauffeurInnen den Fahrgästen immer öfter, früher auszusteigen: „Wenn Sie sitzenbleiben, brauchen Sie noch mindestens 20 Minuten, zu Fuss maximal fünf“. Die meisten befolgen diesen Rat. Zurück bleibt ein Busfahrer, der seinem Ärger Luft verschafft: „Ich habs langsam satt und viele meiner Kollegen auch. So kann das nicht weitergehen und es wird von Woche zu Woche schlimmer. Und jetzt kommt noch das Weihnachtschaos“.

Dauerstress bei schlechtem Lohn

20131215-222925.jpgWas treibt die Leute hierher? Warum nehmen sie die Warterei im Auto, die überfüllten Parkhäuser, das Gedränge und Geschiebe auf sich? Mit hohem Kraftaufwand schiebt eine Frau ihren vollen Einkaufswagen vor sich her, zwei nörgelnde Kinder im Schlepptau. Sie hat sich bei Aldi im Lago für eine ganze Woche eingedeckt. „Ich habe für rund 200 Euro eingekauft“, sagt sie, „zuhause in Romanshorn würde ich sicher 40 Prozent mehr bezahlen. Ausserdem bekommen wir ja die Mehrwertsteuer zurück. Das rechnet sich“. Seitdem der Wechselkurs so vorteilhaft ist, fahre sie jedes Wochenende mit dem Auto nach Konstanz, auch wenn die Anreise immer beschwerlicher werde. „Man muss eben schon gegen 9 Uhr da sein, dann findet man noch einen Parkplatz“. Ob sie denn schon mal daran gedacht habe, mit dem Zug zu kommen? „Und wie soll ich das alles transportieren?“, fragt die Frau zurück und deutet auf ihren Warenkorb, der schier in die Knie geht. Lago-Manager Peter Herrmann ist zufrieden und mit Stolz verweist er auf die Erfolgsbilanz des Centers: „An Spitzentagen zählen wir bis zu 50 000 Besucher und 2013 sind wir zum zweiten Mal in Folge zum besten Einkaufszentrum in Deutschland gewählt worden“.

Weniger glücklich sind die VerkäuferInnen. Sie stehen im Dauerstress, vor vielen Kassen bilden sich lange Schlangen. Vor der Türe eines Modegeschäfts gönnt sich eine Verkäuferin einen schnellen Pausenkaffee. Überwiegend junge Leute kämen in den Laden, erzählt sie: „Die meisten aus der Schweiz, der Rest aus Konstanz und dem deutschen Hinterland“. Ist sie mit ihrer Bezahlung zufrieden? Sie lächelt gequält und eilt wieder an ihre Kasse.

Der Papierkrieg an der Grenze
Im Bereich des Hauptzollamts Singen – der Bezirk reicht von Konstanz bis Bad Säckingen – wurden 2012 knapp 9 Millionen Einfuhrzettel abgestempelt. Umgerechnet sind das 30 000 täglich, ein neuer Rekordstand. 2011 waren es noch 7,1 Millionen Zettel. Rund 100 Beamte in diesem Bereich sind alleine damit beschäftigt. Für 2013 erwarten die Behörden ähnliche Zahlen. Beim Hauptzollamt Lörrach mit seinen 13 Zollämtern waren es 2012 fast 5 Millionen Ausfuhrbescheinigungen. Dort sind alleine 40 Zöllner für das Abstempeln der Zettel zuständig. Auch hier ein neuer Rekord, 2011 waren es noch 3,91 Millionen. Ganz oben auf der Einkaufsliste der Schweizer stehen Lebensmittel und Drogerieartikel. Knapp dahinter: Bekleidung, Schmuck, KFZ-Zubehör, Möbel, Uhren und Heimwerkerbedarf.

Markus Klemt, Sekretär der Dienstleistungsgesellschaft ver.di und zuständig für den Einzelhandel im Bezirk Schwarzwald-Bodensee, weiss, wie es um die Löhne im Konstanzer Einzelhandel bestellt ist. „Nur in wenigen Betrieben gilt der Tarifvertrag“, sagt er, „vor allem im Lago arbeiten noch immer viele Menschen für Stundenlöhne von nicht mal acht Euro brutto“. Hungerlöhne seien das, schimpft der Gewerkschafter – und das ist nicht übertrieben, schon gar nicht in Konstanz, eine der teuersten Städte Deutschlands. Zwar habe gewerkschaftlicher Druck dazu geführt, dass in tarifgebundenen Betrieben mittlerweile bis zu 15 Euro Stundenlohn bezahlt würden. „Damit kommen die VerkäuferInnen“, so Klemt, „immerhin auf monatlich rund 2500 Euro. Das ist zwar auch nicht die Welt, reicht aber zum Überleben“.

Immerhin kann der engagierte Gewerkschafter auch von kleinen Erfolgen aus dem Niedriglohnsektor berichten, über den Streik bei CineStar zum Beispiel, dem Grosskino im Lago. Als dort die Beschäftigten vor einigen Monaten die Arbeit niederlegten, wollten vor allem die Schweizer BesucherInnen kaum glauben, als ihnen die Streikposten erzählten, was CineStar-Beschäftigte verdienen: Sieben Euro in der Stunde. „Dafür setzt bei uns keiner die Fuss vor die Türe“, sagten da so manche – und machten auf dem Absatz kehrt. Die grenzüberschreitende Solidarität wirkte: Nach mehreren Streiktagen unterschrieb der Kinobetreiber von CineStar einen Tarifvertrag bis 2016 und zahlt, rückwirkend ab Juli 2013, Stundenlöhne von etwa 10 Euro.

Viele kommen nicht nur zum Shoppen in die Stadt, die ab nächstem Jahr das 600-jährige Jubiläum des Konstanzer Konzils feiern will. Zur Mittagszeit sind auch die Restaurants rund um den Konstanzer Bahnhof voll besetzt. In einer italienischen Gaststätte macht sich ein Pärchen aus Zürich gerade über eine wagenradgrosse Pizza her. Ja, man komme regelmässig mit dem Auto nach Konstanz, bummle durch die schöne Altstadt und kaufe günstig ein. „Sehen Sie“, sagt der Mann, „wir trinken und essen hier zusammen für umgerechnet 25 Franken, da bekommen wir zuhause nicht mal zwei Teller Suppe“. Seinen Wagen habe er in Kreuzlingen abgestellt, auf deutscher Seite finde man sowieso keinen Parkplatz. Und die zehn Minuten Fussweg bis in die Konstanzer Innenstadt seien ja wohl kein Problem.

Nur noch Tanktourismus

Auch in Kreuzlingen geht es hoch her. Allerdings nur auf den Parkplätzen und auf den Strassen, denn es gibt nur ein Ziel: Direkt nach Konstanz, egal, wie lange es dauert. Beschaulich, ja fast idyllisch geht es in den Kreuzlinger Geschäften zu. In einem Schuhladen am Kreuzlinger „Boulevard“ hat das Personal kaum zu tun, in einer Mode-Boutique faltet eine Angestellte in aller Ruhe Pullover zusammen. Nun ja, die Zeiten seien eben nicht mehr so rosig wie früher, sagen viele GeschäftsinhaberInnen, aber man könne immer noch auf eine zufriedene Stammkundschaft zählen – „auch aus Deutschland“, fügen manche fast trotzig hinzu.

Das war mal anders. Noch vor zehn Jahren bewegte sich der grenzüberschreitende Einkaufstourismus in die umgekehrte Richtung. Als es noch einen Migros direkt hinter dem Emmishofer Zoll gab, als der Wechselkurs aus Sicht des Kreuzlinger Detailhandels noch stimmte, strömten jeden Samstag Tausende KonstanzerInnen zu den damals billigeren und manchmal besseren Schweizer Waren: Teigwaren, Glühbirnen, Käse, Küchengeräte und Zigaretten standen bei den Deutschen hoch im Kurs. Inzwischen aber macht diese ehemals lebendige Meile einen öden Eindruck. Viele Geschäfte haben aufgegeben oder sind umgezogen. Gewerbeflächen stehen in grosser Zahl leer und suchen Mieter. Dazu werden Hochhäuser gebaut in der Hoffnung, die überteuerten Mietpreise in Konstanz treiben Wohnungssuchende nach Kreuzlingen. Das hat früher funktioniert, aber diese Zeiten sind vorbei. Mittlerweile sind Wohnungen in Kreuzlingen ähnlich teuer wie in Konstanz. Von dort kommen fast nur noch AutobesitzerInnen über die Grenze, um voll zu tanken und dann wieder nach Hause zu fahren.

Es wird lange dauern, bis sich die Verhältnisse wieder ändern. Das weiss auch Peter Markstaller, Präsident des Gewerbeverbands Kreuzlingen. „Die Völkerwanderung hat sich allmählich stabilisiert, allerdings weiterhin auf beschissenem Niveau“. Und das, sagt er, „wird sich kurzfristig bestimmt nicht ändern“. Schuld an der momentanen Situation haben seiner Meinung nach auch die Schweizer Medien: „Die rechnen doch unseren Leuten täglich vor, wieviel sie sparen können, wenn sie in Deutschland einkaufen. Geiz ist geil, heisst deren Motto, und keiner denkt daran, was das für unsere Volkswirtschaft bedeutet oder für unser Lohnniveau“. Aber er habe aufgehört, sich darüber aufzuregen, „damit müssen wir uns eben abfinden, dauerndes Jammern bringt ja nichts“.

Mit dem deutschen Einzelhandel könne der Schweizer Detailhandel ja sowieso nicht konkurrieren: „Bei uns kosten dieselben Produkte bis zu 50 Prozent mehr, weil das von den Grosskonzernen so gesteuert wird. Unsere Schuhverkäufer können beispielsweise ein paar Schuhe nicht mal zu dem Preis einkaufen, den der deutsche Kollege in seinem Konstanzer Laden verlangt“. Allerdings, räumt er ein, sei der Niedergang eines Teils des Kreuzlinger Detailhandels auch selbstgestrickt, denn viele Gewerbetreibende seien „absolut beratungsresistent“ und hätten es versäumt, „ihr Sortiment, ihre Ausrichtung oder ihre Ladeneinrichtung den heutigen Bedürfnissen anzupassen“. Sein Appell an die Gewerbetreibenden, ihre Läden zu renovieren und ihnen ein kundenfreundlicheres und moderneres Outfit zu verpassen, sei weitestgehend ungehört geblieben. Und so ist für Markstaller klar: „Bleiben die bei ihren alten Zöpfen, dann wird der Strukturwandel eben weiter beschleunigt“.

Ratloser Detailhandel

Vor knapp zwei Jahren war man in Kreisen des Kreuzlinger Handels noch fest davon überzeugt, dass man der deutschen Konkurrenz mit innovativen Ideen Paroli bieten könne. Die Initiative Poschte in Chrüzlingen“ (PiC) wurde gegründet, verbunden mit einem Aufruf an die Kreuzlinger Kundschaft, doch lieber vor Ort einzukaufen und damit die lokale Wirtschaft zu stärken. Auch die Stadtverwaltung schaltete sich ein und der Kreuzlinger Stadtammann Andreas Netzle war mit dabei, als eine „Task-Force-Boulevard“ mit VertreterInnen aus Detailhandel, Gewerbe und Gastronomie einberufen wurde, „um geeignete Massnahmen gegen den Konsumentenabfluss zu erarbeiten“.

Doch der Anfangselan war schnell verpufft, Ende 2012 löste sich PiC wieder auf. Und der Boulevard, einst geplant als lebendiges Zentrum inmitten der Grenzstadt, ist das geblieben, was er von Anfang an war: Eine hochfrequentierte Durchgangsstrecke vor allem für jene, die nach Konstanz wollen. Zur Zeit wird erneut darüber diskutiert, ob es nicht besser wäre, den Boulevard zur autofreien Zone zu erklären. Der Stadtrat wird dem Gemeinderat die Initiative im Frühjahr 2014 vorlegen, spätestens im November 2014 sollen die Kreuzlinger BürgerInnen darüber abstimmen.

Auch Erich Kramer, Sektionssekretär der Gewerkschaft Unia im Thurgau, beobachtet die Entwicklung mit Sorge: „Der Detailhandel in Kreuzlingen und im ganzen Thurgau leidet seit Jahren unter dem starken Franken“. Einige Kreuzlinger Geschäfte hätten schon schliessen müssen oder stünden kurz davor, darunter „meist kleine Familienbetriebe mit ein oder zwei Angestellten“. Halten könnten sich lediglich spezialisierte Läden wie der eines Zigarrenhändlers, der weit und breit keine vergleichbare Konkurrenz habe. Wem es weniger gut gehe und seinen Arbeitsplatz verliere, so Kramer, „findet hier vor Ort keine neue Betätigung mehr. Und wer keinen Vollzeitjob mehr hat und nur noch 3000 Franken oder weniger im Monat verdient, muss sparen und kauft deswegen lieber billig in Deutschland ein“. Wie man da gegensteuern könne? Kramer ist ratlos: „Ich weiß es nicht, wir haben da auch keine schlüssige Idee“.

Kurzfristige Sperrung und eine Schnapsidee

Zurück Richtung Konstanzer Innenstadt. Vorbei an immer noch langen Staus, vorbei an stempelnden Zöllnern, vorbei an vollbesetzten Parkhäusern, eingeklemmten Bussen und fast hilflosen VerkehrswächterInnen. Kurz vor 14 Uhr herrscht rund um die Altstadt immer noch oder schon wieder Ausnahmezustand. Die zweite oder dritte Welle rollt auf die Stadt zu, und es wird nicht die letzte sein.

Die Kreuzlinger Geschäftswelt leidet, die Konstanzer Bevölkerung ist genervt, weil die Kassen von SchweizerInnen blockiert werden, die sich für ein Stück Seife oder ein Deo eine Ausfuhrbescheinigung aushändigen lassen. Und die Konstanzer Verwaltung ist ratlos, wie sie dem Verkehrschaos zu Leibe rücken soll soll. Sie hat zwar zwei Stellen geschaffen, „um den Kontrolldruck auf die Falschparker zu verschärfen“, aber das löst das Problem nicht. Sie hat auch einen Park&Ride-Platz eingerichtet, der aber nicht angenommen wird und auch an Samstagen nicht mal zu einem Viertel belegt ist.

Das wird sich auch nicht ändern, solange kein Konzept auf dem Tisch liegt, das die Verkehrsströme grundlegend neu ordnet. Ein überwiegend autofreier Altstadtring ist unter anderem im Gespräch, der Verkehr soll vor den Toren der Stadt rigoros abgefangen werden. Doch dagegen revoltiert der Einzelhandel, unterstützt von den bürgerlichen Fraktionen im Konstanzer Gemeinderat. In diesen Kreisen herrscht die Meinung vor, dass die Kunden von auswärts die Möglichkeit haben sollten, so dicht wie möglich an die Ladenkassen heran zu fahren.
Grundsätzlich ist man sich quer durch alle Parteien einig, dass der Verkehr reduziert werden muss, doch die Heilige Kuh Automobil geniesst auch auf deutscher Seite immer noch Artenschutz.

In seiner Verzweiflung drohte Oberbürgermeister Burchardt jüngst mit „brachialeren Methoden“ und deutete an, einzelne Quartiere zukünftig absperren zu wollen, wenn die Verkehrslawinen anrollen. Doch passiert ist nicht viel. Auch die aktuelle Sperrung des Hauptzolls bis Dreikönig, abgesprochen mit der Kreuzlinger Verwaltung, ist lediglich ein Tropfen auf den heissen Stein und vergrössert nur das Verkehrsaufkommen an den anderen Grenzübergängen. Kurzfristig Luft verschaffte sich der Konstanzer Rathauschef, als er mit der Idee einer städtischen Seilbahn hausieren ging. Ernsthaft auseinandersetzen will sich der Konstanzer Gemeinderat mit dem Thema Verkehr kommenden Donnerstag. Bis dahin liegen die Ergebnisse vor, die in diversen Mobilitätsforen gesammelt wurden und die die Richtung angeben sollen, wie das Verkehrskonzept der Stadt Konstanz für die kommenden Jahre aussehen soll. KritikerInnen sind skeptisch: „Das Thema steht nicht zum ersten Mal auf der Tagesordnung und es wird wohl sein wie immer, wenn es um Verkehrspolitik geht: „Ein Schritt vor und dann wieder einen zurück“.

Autor: Holger Reile, www.woz.ch