Wo sind Flüchtlinge wann, wie und warum willkommen?

ehem. "Atrium" in der Luisenstraße - bald Unterkunft für 130 Flüchtlingen - Foto: © Wolfram MikuteitÜber Flüchtlinge und ihre Probleme wird derzeit in Konstanz heftig gestritten: Heute Nachmittag gibt es eine Protestaktion im Kreistag. Derweil regt sich Widerstand gegen die Unterbringung von Flüchtlingen im Atrium in der Luisenstraße (s. Foto) – gegen eine aktuelle Unterschriften-Aktion wehren sich Aktive der Bürgergemeinschaft Petershausen (BGP)

Dietmar Messmer plädiert für einen offenen Umgang mit Flüchtlingen

„Liebe BGP-Engagierte, StadtteilbewohnerInnen und Mitbürgerinnen,

eine neue Heimat beziehungsweise vorübergehend eine sichere Zuflucht zu finden, ist eine Schicksalsproblematik, die jeden treffen kann. Wir sind in der glücklichen Lage, dass in Europa dank demokratischer Politik und mächtiger Bündnisse relativ friedliche Zeiten bestehen. Wir sind deshalb in der Lage, anderen Menschen aus Krisenregionen Zuflucht zu gewähren.

Bei der letzten öffentlichen Vorstandssitzung der BGP am 3.12.2013 hatten wir Konsens darüber, dass das allgemein politische Thema, sollen wir als Bürgergemeinschaft ein mehrheitliches Votum für die Bargeldregelung statt Wertgutscheine für Asylbewerber abgeben, nicht in das Mandat eines Stadtteilvereins gehört. Stattdessen kann dazu jede Bürgerin und jeder Bürger sich eine eigene Meinung bilden und einen freien Gewissensentscheid treffen.

Ich halte es grundsätzlich für selbstverständlich und vernünftig, Informationen zu sozialen Themen weiterzuleiten, insbesondere wenn in unserem Stadtteil, in unserer Stadt sozialpolitische Entwicklungen und Auswirkungen anstehen. Inklusion und Integration stehen für eine demokratische Kultur, die bedürftige Menschen willkommen heißt und sie als gleichberechtigte Mitmenschen stützt.

Wer einmal in die USA reiste, ist angenehm überrascht, durchweg vorbehaltlos willkommen geheißen zu werden: You are welcome. (Vorausgesetzt die Zollprozedur ist überstanden.) Zur Erinnerung: Nach dem Abzug der französischen Garnison aus Konstanz hat sich von Anfang 1980 an gerade unser Stadtteil erheblich geändert. Die Klosterkaserne Petershausen wurde als neues, kulturelles und administratives Zentrum mit Archäologischem Landesmuseum, Landratsamt, Musikschule, Polizei und großzügig angelegtem Wohnareal ausgebaut. Die Jägerkaserne entlang der Steinstraße wurde für Gewerbebetriebe, Vereine und die Jugendkultur geöffnet. Zwei Studentenhotels entstanden. Die Chérisy-Kaserne wurde für Studierende, Familien, Gewerbe- und Kulturbetriebe erschlossen.

Die positive Dynamik in der Stadtentwicklung zeigte sich besonders in der zum Rhein offengehaltenen Stadt am Seerhein und der weitergehenden Bebauung entlang der von Emmich/ Bruder Klaus Straße. Dieser Dynamik entspricht nun auch der neue Masterplan Mobilität der Stadt Konstanz, in dem endlich dem Bedürfnis aller Bewohner nach Entschleunigung mit Tempo 30 Straßen/Zonen Rechnung getragen wird.

Diese positive Dynamik, Wohn- und Arbeitsräume zu schaffen, eine vernünftige Stadtentwicklung mitzuerleben, mitzugestalten und insbesondere wenn nötig auch kritisch zu stützen, ist ein Grundsatz der Bürgergemeinschaft Petershausen.

Seit kurzer Zeit regt sich allerdings auch Widerstand gegen Veränderungen im Stadtteil. Gerade war von der Stadt erklärt worden, dass die private Schweizer Herzklinik in der Luisenstraße für die Bevölkerung wichtig ist (die administrativen und ökonomischen Missstände der Betriebsleitung müssen jedoch aufgeklärt und behoben werden), befürchten nun einige Anwohner des Krankenhausareals, dass mit der Einrichtung eines Flüchtlingsheimes an der Luisenstraße im leerstehenden Atrium (im Besitz der städtischen Spitalstiftung – früher Pflegeheim, dann zeitweilig Studentenwohnheim) ein sozialer Brennpunkt entstehen könnte. Diese Anwohner wollen die Installation eines weiteren Flüchtlingsheimes in Petershausen (bisher in der Steinstraße und vorübergehend in der Hegaustraße) verhindern. Für die Ablehnung des auf zwei Jahre projektierten Nutzung des Gebäudes als Flüchtlingsheimes sammeln sie Unterschriften.

Jetzt würde ich Ihnen gerne den Text dieser Unterschriftensammlung zur Verfügung stellen, aber die Nachbarin des Nebenhauses wollte mir eine Kopie des Schreibens nicht geben. Ich hatte nur die Zeit, die Erklärung zu lesen und wurde als betroffener Anwohner ziemlich gedrängt, zu unterschreiben. Mein Vorschlag war, dass sie mir das Schreiben auch per Email zusenden könnte, aber das passierte bis heute nicht. Die Einspruchs-Unterschriftenliste soll ohne Diskussion morgen dem Oberbürgermeister der Stadt Konstanz, Herrn Burchardt, übergeben werden.

Ein solch einseitiges, überfallartiges Vorgehen bei einer Unterschriftensammlung will und kann ich nicht wortlos vorübergehen lassen. Zwar wurde im Schreiben bemängelt, zu kurzfristig von der Stadt unterrichtet und ungünstig am kommenden Dienstag, 17 Uhr, zur Informationsveranstaltung eingeladen worden zu sein, aber die Unterschriftensammler verhalten sich kein bisschen besser. wenn sie den Protestbrief nicht nachlesbar den Mitbewohnern hinterlassen.

Da wird ungenügende Transparenz der Verwaltungsentscheider und unzumutbare soziale Konfrontation gegenüber den Anwohnern beklagt. Doch im Gespräch wurde kein Blatt vor den Mund genommen, es geht den Unterschreibenden um den Erhalt ihrer heilen Welt, besonders wird der mögliche Wertverlust der eigenen Immobilie befürchtet.

Meine Bitte an Sie – liebe Bürgerinnen und Bürger – bilden Sie sich eine profunde Meinung.

1. Zum Thema Flüchtlingsheim in der Luisenstraße

Lesen Sie die Pressemitteilung der Stadt Konstanz zum Thema „Stadt unterstützt Landratsamt bei Unterkünften für Flüchtlinge“ vom Montag, dem 9. Dezember 2013
http://www.konstanz.de/rathaus/medienportal/mitteilungen/05897/index.html

Schauen Sie sich um in den vielfältigen Pressemedien, den Online-Medien wie seemoz
http://www.seemoz.de/lokal_regional/fluchtlinge-ziehen-in-die-konstanzer-luisenstrase/comment-page-1/#comment-12552

2. Zum Thema Anerkennung und Selbstverantwortung der Flüchtlinge

Die aktuelle Petition der Flüchtlinge und Unterstützer im Kreis Konstanz
https://www.openpetition.de/petition/online/stoppt-essensgutscheine-stoppt-diskriminierung

Lesen Sie die am 19. Juli 2012 verfasste Konstanzer Erklärung des Stadtrats „FÜR eine Kultur der Anerkennung und GEGEN Rassismus“
http://www.konstanz.de/rathaus/medienportal/mitteilungen/04025/index.html

Engagieren Sie sich für eine weltoffene Stadt, in der alle Mitmenschen vorbehaltlos willkommen sind. Reichen auch Sie ihre Hand den Mitmenschen.

Mit freundlichen Grüßen
Dietmar Messmer“

Harald Stobinski: Wir Bürger sind mündig genug, uns den Herausforderungen zu stellen

„Liebe BGP-Engagierte, StadtteilbewohnerInnen und Mitbürgerinnen,

als Neumitglied der BGP und ebenfalls Nachbar eines Asylbewerberheims möchte ich folgendes beitragen: Zwar ist die BGP als Stadtteilvertretung nicht primär Forum allgemein politischer Themen, doch ist beim Flüchtlings- und Asylbewerberthema unser Stadtteil direkt betroffen, schließlich befinden sich alle Konstanzer Asylbewerberunterkünfte (Steinstr., Gustav-Schwab-Str., Hegaustr. und Luisenstr.) im Gebiet des größten, aber auch von baulicher Dichte wie von Bewohnerzahlen dicht besiedelten Stadtteils.

Deshalb können wir diesem Thema nicht ausweichen. Der Versuch, durch Nichtbeachtung sich einer konfliktträchtigen Auseinandersetzung entziehen zu wollen, muss scheitern. Nur wer an der Diskussion teilnimmt, kann Einfluss nehmen im Sinn eines weiter friedlichen Zusammenlebens aller Menschen in unserer Stadt, was die Voraussetzung ist für alle weiteren Forderungen an die Lebensqualität – von Familienfreudlichkeit bis Verkehrsberuhigung.

Herr Thiessen vom Vorstand der BGP hat dazu im Südkurier klare Worte gefunden: „Transparenz sei wichtig und es dürfe keine Überraschungsaktionen geben. So könne möglichen Vorurteilen vorgebeugt werden.“ Herr Messmer vom Vorstand der BGP leistet durch sein Rundschreiben Aufklärungsarbeit und fordert zu Recht, Information vor Aktion zu setzen.

Dass die von offizieller Seite mit der Aufnahme von Flüchtlingen und Asylbewerbern befassten Stellen die Nachbarschaft in der Luisenstraße durch Briefe und alle Bürger durch Veröffentlichung vor der Belegung über eine Veranstaltung im Rathaus informieren, ist nur zu begrüßen und vorbildlich. Durch den Versammlungsort wird deutlich, es geht alle in Konstanz an, und dort ist der Ort für Diskussion (Kritik, Anregungen und Engagement). Die Anwohner der Luisenstraße sollten die Berechtigung ihrer Besorgnisse zunächst an dem primär Ihnen gemachten Informations- und Beteiligungsangebot überprüfen, bevor Forderungen erhoben werden.

Meine Kritik an einigen vorschnellen Aktivisten der Luisenstraße erlaube ich mir, da ich selbst unmttelbarer Nachbar einer seit Ende August bestehenden Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber in der Hegaustraße bin. Wir im Quartier Hegaustraße haben seit über einem Vierteljahr praktische Erfahrungen. Bei uns ist die bauliche Situation wesentlich enger als an der Luisenstraße. Über 200 Nachbarn leben in einem Abstand, der minimal nur knapp vier Meter beträgt, in einem Hofquartier mit ca. 100 Asylbewerbern aus mindestens drei Herkunftsgebieten (Pakistan, Russland, Türkei). Nach meinen Informationen soll das Atrium im Park an der Luisenstraße primär mit Kriegsflüchtlingen aus Syrien belegt werden, deren Aufenthaltsstatus weniger einschränkend ist wegen zunächst angenommener späterer Rückkehr in die Heimat.

Bei solch dichter Nachbarschaft zu einem Gebäudekomplex, wo zuvor nicht mehr als 50 Menschen ihren Lebensmittelpunkt hatten, und wo jetzt mehr als doppelt so viele Menschen auch mit kleinen Kindern aus unterschiedlichen Herkunftsländern auf nun engstem Raum ohne Privatspähre mit ungewisser Perspektive untergebracht werden, sind Konflikte nicht zu vermeiden. Entscheidend ist, wie diese bewältigt werden.

Im Unterschied zur Luisenstraße wurden die Nachbarn der Hegaustraße zu keinem Zeitpunkt offiziell über die Umwandlung in ein Asylbewerberheim informiert! Erst über einen Monat nach der Belegung erschienen im Südkurier auf der Bodensee-Seite am 08. Oktober zwei Artikel zur Lage der Asylbewerber im Landkreis, aus denen auch die Belegung in der Hegaustraße hervorging. Wäre da nicht auch die Verantwortung des hiesigen Amtsblattes zu hinterfragen?

Gerüchte über die Umstände verbreiteten sich schnell. Wir mussten uns durch Nachfragen bei Ämtern über die Fakten informieren. Nach ca. einem Monat wurde ein Eigentümer, dem Mieterbeschwerden vorgetragen worden waren, beim zuständigen Amt vorstellig; Lösungsmöglichkeiten wurden erörtert und zugesagt. Das aktenkundige Ergebnis der Besprechung wurde den Mietern vom Eigentümer durch Aushang bekanntgemacht. Ruhestörungen und Gefährdung kleiner Kinder durch den Straßenverkehr waren Themen. Da mit kälterer Witterung sich das Leben eher in geschlossenen Räumen abspielt, bleibt abzuwarten, ob mit Beginn der wärmeren Jahreszeit solche Probleme wieder auftauchen werden.

Wenn jetzt die „Offiziellen“ im Fall Luisenstraße durch ihr Handeln „eine lange Tradition der internationalen Solidarität, der Integration und der Toleranz“ demonstrieren wollen, bekommt dies in Kenntnis der Fakten zum Fall Hegaustraße einen schalen Beigeschmack. Die Nachbarschaft der Hegaustraße hat bislang bewiesen, dass die von Offiziellen in Selbstbeweihräucherung gehaltenen Fensterreden über Toleranz etc. in der Praxis sich bewähren können. Dazu war es auch nötig, mit der überraschenden Belegung als Asylbewerberheim einhergehenden Schuldzuweisungen entgegenzutreten, was Anwohnern durch Aushang und Wurfsendung in die Briefkästen der Nachbarschaft gelungen ist.

Hoffentlich zeigt der Fall Luisenstraße, dass die Verwaltung (von Stadt, Landkreis bis Eigentümer Spitalstiftung) lernfähig ist, und nicht nur mit einer leuchtenden Vorzeigeaktion von weiterhin grauem Alltagshandeln ablenken will. Herrn Messmer sei für sein Engagement gedankt, dem Unwissen entgegenzutreten. Das Unwissen ist die Basis von Vorurteilen und von Willkür. In diesem Dunkel scheint es für einige bequemer zu sein, Entscheidungen nicht verantworten zu müssen. Dort tummeln sich auch die Rattenfänger: im Quartier Hegaustraße fand sich am vergangenen Freitag in Briefkästen ein Werbezettel der NPD zum Thema Asyl mit sattsam bekannten Falschbehauptungen, Verleumdungen und Forderung nach Abschaffung des Asylrechts.

Wir Bürger in diesem Land, in dieser Stadt sind mündig genug, uns den Herausforderungen zu stellen. Sollten die „Oberen“ mit ihrer Strategie des Verschweigens im Fall Hegaustraße gemeint haben, durch Vermeiden von Aufsehen dem Standort Konstanz zu dienen, so müssen sie sich die Frage nach ihrem Demokratieverständnis gefallen lassen. Auch die Menschen in Konstanz können sachlich gebotene Kritik von menschenverachtender Hetze unterscheiden.

Mit freundlichen Grüßen

Harald Stobinski“

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