Im Dauerstreit um die Blechlawine
Wer glaubt, der vor wenigen Tagen veröffentlichte Masterplan Mobilität 2020+ könnte die Endlos-Diskussion um Konstanzer Verkehrsprobleme befrieden, sieht sich getäuscht: Zwei Diskussionsbeiträge aus jüngster Vergangenheit, die wir hier dokumentieren, belegen – die Einzelhändler-Lobby setzt die Stadtspitze erneut unter Druck, und kritische Gemeinderäte beklagen weiterhin die Tatenlosigkeit in der Verkehrspolitik. Wo ist da ein Konsens denkbar?
Einzelhandelsverband beschwört den Untergang des autofahrenden Abendlandes:
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
Konstanz ist Oberzentrum und hat darum die Funktion, nicht nur die Versorgung an Dienstleistungen für die eigene Stadt, sondern auch für die Umgebung auf deutscher und Schweizer Seite zu erfüllen. Dies bedeutet, dass auch spezialisierte Dienstleistungen aus allen Bereichen des Gastgewerbes (Steuerberater, Ärzte, Rechtsanwälte, Kliniken, Gastronomie, Hotelerie und natürlich auch aus dem Handel) vorhanden sein müssen. Alle diese Dienstleistungen haben sich weiterentwickelt und stärken den Standort Konstanz.
Gleichzeitig war es auch Ratsbeschluss, den touristischen Bereich weiter voranzubringen, der durch die Ansiedlung des Sealife-Centers besonders ins Augenmerk gekommen ist. Gleichzeitig wurde auch der Radtourismus für den Bodensee, aber auch für Konstanz immer wichtiger. Im selben Zeitraum mussten wir erkennen, dass der nie sehr ausgeprägte industrielle Bereich sich leider negativ entwickelt hat, was im Besonderen an Takeda, aber auch an Siemens abzulesen war. Aus unserer Sicht ist die Summe der Dienstleistungen ein starker Ast, worauf auch etliche tausend Beschäftigte sitzen. Wir können nur die Gäste glücklich machen, die Konstanz auch bequem erreichen können, und nur diese Gäste ergeben die Möglichkeit, auch die Löhne der Beschäftigten zu erwirtschaften.
Die Funktion des Oberzentrums bedingt, dass Menschen von außerhalb in die Stadt kommen und dies geschieht auch mit dem eigenen PKW. Konstanz steht es gut zu Gesicht, dass sie diese Tatsache sieht und nicht den vorher erwähnten Ast absenkt. Dann fallen im wahrsten Sinne des Wortes Arbeitsplätze ab.
Die Bereitschaft des Handels, zur städtebaulichen Weiterentwicklung beizutragen, ist sicher nicht nur bei dem Großprojekt Lago oder dem Geschäftshaus an der Bodanstraße, sondern an vielen anderen mittelständischen Betrieben wie Sport Gruner, Edeka Baur. Familie Ulmer oder Zwicker, abzusehen. Es gilt, sensibel mit dem Erreichten umzugehen.
Die Prosperität einer Stadt hängt seit dem Mittelalter von der Infrastruktur und der Erreichbarkeit ab. Gerade in Zeiten des Online-Handels muss man besonders sensibel mit der Erreichbarkeit umgehen. Keiner muss in eine Stadt kommen, er kann auch bequem vom Sessel heraus bestellen. Im übrigen beteiligt sich der online-Handel nicht an der Weihnachtsbeleuchtung, dem Stadtmarketing oder der Förderung des öffentlichen Nahverkehrs.
Die Aussperrung von Pkw-Kunden mit Ampelschaltungen und Schranken muss die letzte Lösung sein. Gleichzeitig ist natürlich auch das Werben für alternative Verkehrsmittel nötig. Zwangsmaßnahmen nach dem Prinzip „push and pull“ sind abzulegen.
Über die Jahre hinweg war der Handel immer gesprächsbereit und bietet weiter die Gespräche an. Sieger wird es nur geben, wenn ich gegeneinander sondern miteinander Lösungen gefunden werden.
Wir fordern Sie auf, dies bei Ihren Entscheidungen zu berücksichtigen.
Mit freundlichen Grüßen
Utz Geiselhart, Jürgen N. Baur, Christian Ulmer
Holger Reile (LLK) im TUA: „Es geht um die Lebensqualität unserer Bevölkerung“
Das uns vorliegende Papier ist überschrieben mit Masterplan 2020+ – besser wäre gewesen, es Masterplan 2013+ zu nennen, denn es besteht sofortiger Handlungsbedarf. Denn überwiegend kann man hier nachlesen, was uns schon seit Jahren beschäftigt – und ebenso seit Jahren auf seine Umsetzung wartet und bislang weitestgehend von Stillstand geprägt war. Frei nach dem Motto: Ein Schritt vor, dann wieder einen zurück. So kommen wir zu keiner Lösung. Aber wir kennen ja alle den Spruch: Papier ist geduldig und speziell dieses Papier hat uns in der Tat nicht sehr viel Neues anzubieten.
Dass „nicht alles gleichzeitig umsetzbar ist“, wie auf Seite 6 nachzulesen ist, wissen wir auch. Die zentrale Frage aber ist: Was setzen wir endlich und vor allem rasch um, wenn es darum geht, das real existierende Verkehrschaos in vernünftige Bahnen zu leiten? Genau das wollen die Bürgerinnen und Bürger wissen und zwar jetzt und nicht erst in einigen Jahren.
Da können wir uns nicht erneut herausreden mit Beschwichtigungen und Vertröstungen. Da hilft es uns auch nichts, den soundsovielten externen Rat für teuer Geld einzuholen und weiterhin viel Geld auszugeben für das hundertste Konzept oder Gutachten, die uns dann Banalitäten auf den Tisch spülen, wie sie beispielsweise auf Seite 19 nachzulesen sind: „Derzeit ist die Erreichbarkeit von Konstanz stark MIV-geprägt, was in der Konsequenz zu teilweise hohen Verkehrsbelastungen im kommunalen Straßennetz führt“. Danke für diese fast schon bahnbrechende Aussage.
Und jetzt aktuell zu beschließen, für ein Umsetzungskonzept nochmal 100 000 Euro auszugeben, halte ich gelinde gesagt für einen schlechten Treppenwitz.
Wir werden den berechtigten Forderungen unserer Bürger und der nachfolgenden Generationen nicht gerecht, wenn wir weiterhin ängstlich agieren und uns im Kreis bewegen. Dass wir es bei der Lösung des Verkehrsproblems nicht allen recht machen können, liegt in der Natur der Sache. Aber auch diese Erkenntnis ist Schnee von gestern. Ich erspare es Ihnen, auf einzelne Punkte näher einzugehen, denn unter der Zwischenüberschrift „Spitzentage“ auf Seite 32 wird sehr deutlich, dass Ihnen an einer grundsätzlichen Änderung der Verhältnisse gar nicht gelegen ist. Sie schreiben: „dass zusätzlicher KFZ-Verkehr im städtischen Straßennetz an Spitzentagen nicht mehr vertretbar ist“. Man muss kein Sprachwissenschaftler sein, um herauszulesen, dass Sie im Umkehrschluss vor den eh schon katastrophalen Zuständen kapitulieren. Das müsse man eben hinnehmen, nur noch mehr Verkehr sollte es bitteschön nicht geben und irgendwie und irgendwann wird man das alles schon lenken können. Und wenn nicht, wird halt nochmal ein Gutachten in Auftrag gegeben oder ein europaweiter Ideenwettbewerb ausgeschrieben. Nur keine Hektik, wir haben ja Zeit….und irgendjemand wird das schon bezahlen.
Dann aber, Kolleginnen und Kollegen, kommt der zentrale Satz, der unmissverständlich aufzeigt, wovor die Vorlage zurückschreckt, nämlich vor einer grundsätzlichen Entscheidung für eine autofreie Innenstadt. Da ist zu lesen: „Es geht nicht darum, die Anreise mit und die Nutzung des eigenen Autos zu stigmatisieren, sondern darum, das Mobilitätsangebot zu erweitern und die Wahlfreiheit (und damit auch die Chancengleichheit) zu erhöhen“. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.. Auch hier könnte der Umkehrschluss lauten: Gehen wir massiver gegen die Blechwürmer vor, beeinträchtigt das deren Wahlfreiheit und Chancengleichheit. Eine absurde Argumentation und nichts anderes als Stillstand in unserer Verkehrsdebatte. Man glaubt offensichtlich, dem Problem zu Leibe rücken zu können, wenn man kleinere Korrekturen vornimmt.
Natürlich geht es darum, den MIV gewissermassen zu stigmatisieren und nach außen deutlich zu machen, dass man nicht gewillt ist, sich weiterhin dem Verkehrschaos auszusetzen. Aber mit dieser Formulierung knicken Sie ein vor der Heiligen Kuh Automobil – und dann haben wir es wieder, das Konstanzer Verkehrsbewältigungssyndrom: Ein Schritt vor und gleich wieder einen zurück. So kann das nichts werden. Anstatt diese Heilige Kuh zu hätscheln, sollte die Losung klar lauten: Absoluter Vorrang für Fußgänger, Radfahrer und den ÖPNV – dann kommt lange nichts und am Ende dieser Mobilitätskette stehen die Belange des motorisierten Individualverkehrs. Dazu braucht es Mut, auch gegenüber dem Einzelhandel, der zum Teil immer noch der Meinung ist, die Kunden müssten die Möglichkeit haben, mit ihren Karossen bis an die Ladenkassen vorzufahren.
Natürlich geht es auch darum, umgehend zu handeln – wir kommen bei Tagesordnungspunkt 5 auf das Thema zu sprechen, wenn wir über Sofortmaßnahmen reden. Und selbstverständlich geht es unserer Meinung auch darum, vor allem an den Spitzentagen radikalere Maßnahmen zu ergreifen, als da wären: Absperrung der gesamten Innenstadt für den MIV von auswärts, wenn die Stadt aus allen Nähten platzt und die Parkhäuser zum Bersten voll sind. Wer ernsthaft eine autofreie Innenstadt fordert, muss konsequent handeln, kleine Korrekturen ändern nichts am Status quo. Und das alles hat nur Aussicht auf Erfolg, wenn wir es in direkter Absprache mit unseren Schweizer Nachbarn angehen, woran es zur Zeit noch gewaltig mangelt. Denn der Einkaufstourismus wird in nächster Zeit nicht abebben und während der Konstanzer Handel profitiert, geht der Kreuzlinger Detailhandel auf dem Zahnfleisch. Auch das kann nicht in unserem Sinne sein.
An unseren Verkehrsproblemen ändert sich auch nichts, wenn man lediglich an die Vernunft der Automobilisten appelliert. Hier helfen nur Verbote – so bedauerlich das auch sein mag. Ähnliches haben wir erfahren, als es um die Sylvesterknallerei in der Altstadt oder um die Glasvermüllung während der Fasnacht ging: Appelle verglühten ungehört, Verbote funktionieren.
Ein letztes noch: In der Vergangenheit haben wir auch Signale abgesondert, die mit dazu geführt haben, dass die Verhältnisse so sind, wie wir sie vordergründig beklagen: Für ein Nasenwasser haben wir uns die Erweiterung von Lago-Süd abkaufen lassen, um nur ein Beispiel zu nennen. Immer wieder auch wird darüber debattiert, das Döbele oder das bald frei werdende Vincentius-Areal vielleicht doch mit einem Parkhaus zu versehen. Derlei Überlegungen führen nicht dazu, das seit Jahren stattfindende Wochenendchaos auf unseren Straßen zu verhindern. Denn es geht nicht nur um die Umsatzrekorde der hiesigen Geschäftswelt, uns muss es zuvorderst um die Lebensqualtität unserer Bevölkerung gehen.
Holger Reile
Bei allem was gesagt und geschrieben wurde, umschreibt der Kernsatz von Herrn Reile die Auseinandersetzung:
„Denn es geht nicht nur um die Umsatzrekorde der hiesigen Geschäftswelt, uns muss es zuvorderst um die Lebensqualität unserer Bevölkerung gehen.“
U.a. werden bereits in vorherigen Artikel die schlechten Arbeitsbedingungen der Verkäufer/innen angeprangert. Jetzt kommt das Schreckgespenst des Einzelhandels, dass bei einer Beendigung des Chaos Arbeitsplätze wegfallen, welches gerne immer wieder als Totschlagargument benutzt wird.
Der Brief der Einzelhändler offenbart die Politik letzter Jahrzehnte, Umsatzrekorde sind wichtiger als sich solidarisch mit den geplagten Einheimischen für die Rückgewinnung von Lebensqualität zu sorgen. So sprechen Sieger im Großkampftag von Konstanz.
Von dem Gutscheinheft, das ich gebetsmühlenartig empfehle, hätten alle was: die KonstanzerInnen durch weniger Verkehrslärm und -gestank, die BesucherInnen durch Gratis-Angebote und Rabatte, und nicht zuletzt der Einzelhandel durch die Möglichkeit, durch Angebote wie z.B. „5% auf Ihren Einkauf“, „10% auf einen Artikel“, „1 Glas Sekt für jede/n Kunden/in“, „Nimm 3, zahl 2“ oder was auch immer der Kreativität Konstanzer Einzelhändler entspringen mag, ihren Umsatz zu erhöhen, denn es ist ja ein Grundprinzip der Wirtschaft, durch Angebote erst eine Nachfrage zu schaffen. Muss ja auch nicht gleich „20% auf alles“ sein, wie früher beim Praktiker.
Damit bestrafen wir unsere Besucher nicht fürs Kommen, indem wir die Parkgebühren drastisch erhöhen oder die Zufahrt in die Stadt verweigern, sondern wir beschenken sie großzügig, wenn sie uns dafür mit ihren Autos nicht belästigen. ALLE kriegen wir damit natürlich nicht aus der Stadt, aber wenn es pro Großkampftag ein paar Hundert weniger sind, ist schon viel gewonnen. Und dazu kostet es auch noch viiiiel weniger als ein neues Parkhaus, ein Tunnel oder eine Seilbahn.
Überlegen wir doch mal, weshalb speziell die SchweizerInnen uns überrennen: doch nur, weil sie Geld sparen wollen. Rabatte, Vergünstigungen und Geschenke dürften bei dieser Klientel daher immer ziehen.
Hier passiert das Gleiche wie beispielsweise mit Umwelt und Wirtschaft.
Jeder weiß, dass es so nicht weiter gehen kann, aber keiner unternimmt etwas dagegen. Munter wird weiter gemacht, bis zum irgendwann unvermeidlichen Crash.
Wer möchte denn in eine Stadt, in die man nicht hineinkommt? Und wer sich mal umorientiert hat, der ist auf längere Zeit für den Handel verloren. Ich gehe grundsätzlich nicht am Wochenende in die Stadt und kaufe andernorts ein.
Also müsste man rechtzeitig etwas ändern. Und dagegen arbeitet die Trägheit der Menschen ‚es geht doch noch halbwegs, also wird es auch weiterhin gehen.‘. Da kann bei einer auf Wachstum fixierten Gesellschaft nicht von Dauer sein.
Dass der Einzelhandel nicht unterscheidet zwischen Käufern, die das Auto brauchen wegen des Transports der Einkäufe, und welchen, bei denen es vermeidbar ist, dass die die Straßen blockieren, verhindert ‚intelligente Lösungen‘, die sich daran orientieren wie flexible Parkgebühren oder generell höhere Kosten, so dass nur noch die in die Stadt fahren, bei denen die Kosten des Parkens gering sind gegen die Ausgaben. Konsequentes Abschleppen gehört auch dazu. Es geht nicht ohne radikale Massnahmen.
Aber ich bin pessimistisch. Mut ist etwas, das Politiker scheuen, denn dann wären sie angreifbar. Also wird der Kopf in den Sand gesteckt und weitergewurschtelt.