Die „andere“ Provinz, der andere Protest am Bodensee
War der Konstanzer Alt-SPD-Stadtrat Jürgen Leipold ein 68iger? Gab es Hausbesetzungen nur in Großstädten? Wer war die Apo am Bodensee? War der „Motzer“ ein Vorgänger von seemoz oder doch eher das „Nebelhorn“? Wer brachte die Rockmusik ins Allgäu? Und was hat ‚Stuttgart 21‘ mit der Provinzialisierung der Bodenseeregion zu tun? Spannende, aber auch aktuelle Fragen beantworten die AutorInnen im 13. Band der Kleinen Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz und belegen: ‚Die „andere“ Provinz‘ ist gar nicht so sehr anders
„Provinz“ galt lange Zeit als Schimpfwort, als Feindbild vieler Linken vornehmlich aus den Metropolen. Und der Bodenseeraum zwischen Pfänderrücken und Schwäbischer Alb galt vielen als besonders rückständig. Dabei kamen viele 68iger aus provinziellen, kleinstädtischen Honoratiorenfamilien dieser Gegend, die nach Berlin oder Frankfurt zogen, um da „Revolution zu machen“. Manche kamen zurück und sorgten für Bio-Bauernhöfe im Allgäu oder für K-Gruppen in Friedrichshafen, wieder andere importierten linkes Gedankengut an den See und gründeten aufmüpfige Zeitungen, wie „Schelle“ in Überlingen, „Motzer“ in Oberschwaben oder „Nebelhorn“ in Konstanz.
Der Sammelband ‚Die „andere“ Provinz, Kulturelle Auf- und Ausbrüche im Bodenseeraum seit den 1960er Jahren‘ spürt den Wurzeln solchen alternativen Milieus am Bodensee nach. So beschreibt die Herausgeberin Heike Kempe, wie die Universitätsgründung aus Konstanz ein Städtchen mit neuem Geschichtsbewußtsein, mit neuen Läden, Kneipen, WGs und Zeitungen werden ließ. Und Karl Schweizer erläutert ebensolche Transformationen für Oberschwaben, wenn er von den Anfängen der Leutkircher Beat-Band „Early Birds“ berichtet oder Georg Köberlein, den späteren Mitbegründer legendärer Bands wie „Grachmusikoff“ oder „Schwoisfuaß“, zu Wort kommen lässt.
Für den theoretischen Unterbau des Buches, das auf einer Tagung im Konstanzer Stadtarchiv fußt, sorgen Sven Reichardt und Gert Zang. Der Konstanzer Professor Reichardt untersucht den Begriff der Authentizität „als Selbstbeschreibungskategorie im linksalternativen Milieu“, während Gert Zang, einst Archivar im Kulturamt des Bodenseekreises sowie Lehrbeauftragter an der Uni Konstanz und heute Geschäftsführer des Museums Reichenau, die Provinzialisierung als andere Seite der Industrialisierung beschreibt.
Die Verschiedenheit der AutorInnen – vom Zeitgeschichtler bis zum SchülerInnen-Team – sorgt auch für die erstaunliche Bandbreite an Themen (mit Abstechern nach Bozen, Bregenz, Trient und Graz) dieses Büchleins, das schon deshalb überaus lesenswert ist. Denn wer erinnert sich noch an die Hausbesetzung des denkmalgeschützten Feuerwerkhauses in Radolfzell, das dann doch abgerissen und kein Jugendzentrum wurde? Oder wer weiß noch, dass der reaktionäre CDU’ler Oswald Metzger aus Bad Schussenried einst radikaler Vordenker und Macher des „Motzer“ der Jahre 1977-79 war?
Autor: hpk
Heike Kempe (Hg.): Die „andere“ Provinz: 1. Auflage, 02-2014, 350 Seiten, ISBN 978-3-86764-363-4, Schriftenreihe: Kleine Schriftenreihe des Stadtarchivs Konstanz, Band 13, Verlag: UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz; Preis: 19,99 €
Jürgen und Brigitte Leipold, und auch Herbert Weber, waren Anfang der 70-Jahren bei den Jusos, jedoch eher angepasst und auch bald im Stadtrat. In dieser Zeit gab es schon Proteste wegen der Wohnungsnot von Studenten, die zwei leerstehende Häuser besetzten. Das wegen der noch offenen Trasse zum Anschluss der neuen Rheinbrücke leerstehende Familienhaus im Paradies Rosenlächerweg und später das am Fischmarkt vor dem Abriss stehende Haus, wo sich jetzt der Neubau mit dem Restaurant Latinos befindet. Die Besetzung wurde durch einen Polizeieinsatz beendet.