„queer-beet“-Demo auf der Konstanzer Marktstätte
„Richtige Dinge kann man nicht oft genug sagen. Ich freue mich, wenn Konstanz zeigt, dass Vielfalt wichtig ist und Schule wichtige Themen nicht ausklammern darf“, lässt SPD-Stadträtin Hanna Binder über Facebook bereits im Vorfeld verlauten. Dem Kundgebungsaufruf folgten 70 interessierte, meist junge Menschen an die Marktstätte. Zudem wurden auch Unterschriften für die Gegenpetition zur Online-Petition „Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“ gesammelt
Wenig mag die BesucherInnenzahl klingen, „queer-beet“ besucht war die kleine Kundgebung trotzdem: CSD-VertreterInnen, Terre des Femmes, Jusos, Grüne Hochschulgruppe, Piraten, Linke, Linksjugend sowie zahlreiche SympathisantInnen fanden den Weg auf die Marktstätte. Till Seiler, ehemaliger Stadtrat der FGL, überbrachte derweil am offenen Megafon Sympathiebekundungen der Gewerkschaften Ver.di und GEW für die Aktion. Der Redebeitrag eines jungen Hauptschülers unterstrich die Bedeutung der Veranstaltung, da „der eine Schwule“, der sich an seiner Schule geoutet habe, tatsächlich mit Mobbing zu kämpfen habe.
„Homosexualität muss Thema in der Schule sein“
Lukas Scheub, Kreissprecher der Jusos Konstanz, kritisierte in seinem Redebeitrag die Wortwahl der homophoben Petition ‚Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens‘: „Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Seit wann ist Sexualität denn bitte Ideologie? Wenn ich jetzt auf Reisen geh‘ und von Baden-Württemberg erzähle, kann ich dann noch von einem fortschrittlichen Land erzählen? Ich glaube nicht. In Deutschland haben 168.000 Menschen diese Petition unterschrieben, das ist rückschrittlich, das ist Mittelalter!“ Der Jungpolitiker warb ausdrücklich dafür, die Gegenpetition zu unterzeichnen: „Ich möchte in einem Land leben, in dem kein großer Pressetenor folgen muss, wenn ein Fußballer sich outet. Es muss normal werden können, so zu leben, wie man ist.“
„Nehmt mich als Zielscheibe“
Der 15-jährige Oliver Grüttner, der für die Piraten sprach, stellte heraus: „Man sagt eigentlich ,nehmt mich als Zielscheibeʻ, wenn man sich outet. Das ist Realität an deutschen Schulen. Negative Äußerungen von Politikern und einigen religiösen Wortführern tragen dazu bei, dass junge Menschen, die sich in ihrer Selbstfindungsphase befinden, verunsichert werden. Ihnen wird das Gefühl gegeben, Menschen zweiter Klasse zu sein. Das ist ein Signal dafür, wie homophob die deutsche Gesellschaft ist, und es ist Fakt, dass LGBTs (aus dem englischen Sprachraum kommende Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual und Trans, d. Red.) während ihrer Schulzeit Diskriminierung, Schikanen bis hin zu körperlichen Belästigungen ausgesetzt waren und sind.“
Schon mal die Geschlechterrolle gewechselt?
Aber auch andere Aspekte der sexuellen Identität hält Queer parat, die manch eine/r als lehrenswerten Schulunterricht begreift: „Wenn man plötzlich als Frau angezogen auftritt, wird man von der Welt ganz anders wahrgenommen. Am Pissoir in der Disco stellen sich plötzlich Männer aus Angst ein Becken weiter – man könnte sie ja belästigen wollen. Das alles passiert nur, weil das Outfit ein anderes ist und alles Mögliche reininterpretiert wird“, weiß Ryk Fechner zu berichten, der als „Ronja“ bereits mehrere Travestie-Auftritte hatte. So auch am vergangenen Samstag zur Aktion „Liebe ist Lernsache“. Zur Kundgebung erzählt der Linksjugend [’solid]-Aktivist: „Wer ist eigentlich Ronja? Ronja ist ein Kunstprodukt, das ich und meine Exfreundin zum Weltfrauentag 2012 erstmals ausprobierten. Die Reaktionen auf das Kostüm sind göttlich. Frauen nehmen einen nicht mehr als maskuline Bedrohung wahr, viele Männer einen dafür umso mehr.“
Sexismus in Spielwarenläden
„Ob ein Kind durch die sekundären Geschlechtsmerkmale im Spielwarenladen letztlich gezwungen ist, zu Barbie und zum Wattebausch-pinken Spielzeugherd zu greifen oder ob es mit dem ,charakterbildendenʻ Spielzeug à la Superhelden, Bösewichte und Technik-Krimskrams spielen darf, darüber wird bereits bei der Geburt entschieden: Hellblau für Jungs, pink für Mädchen – und dieses Stereotyp findet später sogar noch in klassischen Frauen- und Männerberufen seinen Ausdruck und wirkt sich über die Bezahlung bis ins Rentenalter fort.“ Gerade das sei für ihn ein Grund, Geschlechterrollen anzugreifen. Auch die Filmindustrie, insbesondere Disney, würden immer noch gerne diese Klischees bedienen, die das Liebesleben von Menschen bereits in ihrer Kindheit nachhaltig beeinflussten.
Ein oft ausgespartes Thema: Polyamorie
Zudem warb Fechner im Sinne einer offeneren Gesellschaft dafür, sich intensiv kritisch mit monogamen Beziehungsstrukturen auseinanderzusetzen: „Ich bin polyamor, das heißt, ich glaube, dass es möglich ist, mehrere als eine/n PartnerIn gleichzeitig zu haben. […] Ich sage nicht, dass es keine Beziehung gibt, in denen sich nicht zwei Menschen gegenseitig völlig genügen, aber das Problem mit der Ehe ist doch folgendes: 40% aller Ehen werden geschieden, in 30% wird fremdgegangen, in 30% wird über das Fremdgehen zumindest nachgedacht. Da kann mir die Gesellschaft einfach nicht erzählen, dass es das Modell für 100% aller Menschen sein soll.“ Was das ganze mit Queer zu tun hat? Polyamorie sei eben auch eine Form einer liberalen, selbstbestimmten Auffassung von Liebe.
Homophobe Petition noch drei Tage im Netz
Die Petition des Calwer Lehrers Gabriel Stängle bleibt unterdessen noch drei Tage im Netz und dürfte die 170.000-er Marke leider locker knacken. Mut dürfte hingegen machen, dass die Gegenpetition (URL: https://www.openpetition.de/petition/online/gegenpetition-zu-kein-bildungsplan-2015-unter-der-ideologie-des-regenbogens ) gut einen Monat länger im Netz bleibt. Das, sollte es auch anderswo noch ähnlich couragierte Bündnisse wie in Konstanz geben, dürfte genügend Zeit sein, die Mehrheiten zumindest per Mausklick zu kippen – wenn auch nicht unbedingt gesellschaftlich, aber dazu ist ja der entsprechende Passus im neuen Lehrplan da.
Autor: Chris Tennant