Liberté, égalité, gratuité
Nicht nur in Frankreich wird über Kosten und Preise des öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) gestritten; zaghafte Diskussionen gibt es auch in Deutschland, wo die Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs neu geregelt werden muss. Höchste Zeit, dass in Konstanz auch im Kommunalwahlkampf über den Nulltarif auf Bussen und Bahnen gerungen wird – in anderen Städten ist man da schon viel weiter
Alexander Dobrindt verspricht viel. Bei seiner Antrittsrede im Bundestag verkündete der neue Minister für Verkehr und digitale Infrastruktur gar ein „Grundrecht auf Mobilität“. Ein Begriff, den man vor allem von den Linken kennt. Fehlt nur noch, dass der CSU-Mann aus Weilheim in Oberbayern eine Flatrate für den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) in Aussicht stellt oder den Slogan „Liberté, égalité, gratuité“ einführt, den er in Frankreich finden könnte.
Der Busbahnhof in Aubagne, einer Stadt vor den Toren der südfranzösischen Metropole Marseilles: Hier träg jeder Bus den Schriftzug „Liberté, égalité, gratuité“. Und die Leute steigen tatsächlich ohne Fahrschein, Monats- oder Jahreskarte ein. Ein Gärtner, der bei der Stadt arbeitet, ist begeistert. Und er bestätigt, dass auch einige Kollegen und Freunde vom Auto auf den öffentlichen Personennahverkehr umgestiegen seien oder den Bus zumindest viel häufiger benutzen würden. Auch er selbst habe kein Auto mehr. Ähnlich positiv die Einschätzung einer Mutter, die mit ihren drei Kindern gerade auf den Bus wartet. Und ein Busfahrer verkündet stolz: „Wir haben unsere Fahrgastzahl verdoppelt.“ Da hat der Mann noch untertrieben. Nach Angaben der Stadt stieg das Fahrgastaufkommen von 2008 bis 2012 sogar um 155 Prozent.
Aubagne und der Landkreis Pays d’Aubagne et de l’Etoile haben den Nulltarif 2009 eingeführt und damit eine Verkehrswende eingeleitet. Pleite ging die von einem kommunistischen Oberbürgermeister regierte Stadt deshalb nicht. Mit dem Verzicht auf Tickets spart man die Kosten für Fahrscheinverkauf und Kontrolle. Das mache circa zehn Prozent der Gesamtkosten, sagt Marie Burdy vom Verkehrsverbund. 40 Prozent der verbleibenden Ausgaben würden über eine Nahverkehrsabgabe bestritten, die „versement transport“, die die Firmen der Region abführen müssen. 60 Prozent steuerten die beteiligten Gemeinden aus ihrem Haushalt bei. Sie konnten deshalb teure Straßenbauprojekte einsparen, da der Autoverkehr zurückging.
Erfolg mit Nulltarif in Belgien
Auch in der belgischen Stadt Hasselt, 60 Kilometer von Aachen entfernt, hat man die Vorteile des Nulltarifs erkannt. Eigentlich hätte die Stadt in den 1990igern eine vierspurige Ringstraße bauen müssen, doch dafür fehlte das Geld. Stattdessen baute man unter dem populären Oberbürgermeister Steve Stevaert den ÖPNV aus und führte den Nulltarif ein. Statt einer Ringstraße ließ Stevaert für Fußgänger und Fahrradfahrer einen mit 400 Bäumen gesäumten Boulevard anlegen, die Einkaufsstraßen wurden Fußgängerzonen, die Innenstadt verkehrsberuhigt.
Schon nach zehn Jahren, im Jahr 2006, hatten sich die Fahrgastzahlen in der flämischen Stadt mehr als verzehnfacht. Mittlerweile befördern die Stadtbusse über vier Millionen Fahrgäste. Das Verkehrskonzept hat dazu geführt, dass bis zu 30 Prozent mehr Menschen aus dem Umland in die Stadt kommen, die Umsätze des Einzelhandels sind gestiegen. Auch die Zahl der Besucher in den Krankenhäusern nahm zu. Und die Diskussionen des städtischen Krankenhauses über einen neuen Parkplatz zu Lasten der Stadtkasse erübrigten sich. Pflegerinnen und Ärzte kommen nun überwiegend mit dem Bus. Auch für Oberbürgermeister Steve Stevaert hat sich der Einsatz gelohnt: Er wurde Verkehrsminister in der Hauptstadt Brüssel und Vorsitzender der Sozialistischen Partei.
Der Erfolg in Hasselt erforderte allerdings einen ständigen Ausbau der ÖPNV-Angebote. Vor einem Jahr sah sich die Stadt deshalb gezwungen, wieder die Fahrkarte einzuführen. Der Preis ist moderat: 60 Cent pro Fahrt. Jugendliche fahren frei.
In Aubagne gilt der Nulltarif dagegen nach wie vor. Als erste französische Stadt hatte ihn Châteauroux in Zentralfrankreich schon 2001 eingeführt. Mittlerweile gilt er in 23 französischen Verkehrsverbünden. Die politische Couleur spielt dabei keine Rolle.
In Frankreich zahlt die Wirtschaft
Im Gegensatz zu Deutschland darf in Frankreich jede Kommune mit mehr als 20 000 Einwohnern von den ansässigen Unternehmen mit mehr als neun Beschäftigten eine ÖPNV-Abgabe erheben, die sich aus der Lohnsumme errechnet. Mit diesem Geld werden in den Verkehrsverbünden inzwischen im Durchschnitt 44 Prozent der kommunalen Ausgaben für Bus und Bahn finanziert.
Diskussionen über einen Nulltarif gab es auch in Deutschland immer wieder. Anfang der 1970iger forderten ihn Schüler und Studenten, später Teile der Umweltbewegung, die damit Straßenbahnen und Busse attraktiver machen wollten.
Die Bausparkasse Schwäbisch Hall hat ihn für ihre Beschäftigten in den Neunzigern als erstes Unternehmen umgesetzt und zugleich dafür gesorgt, dass das regionale ÖPNV-Angebot verbessert wird – noch heute ein Erfolgsmodell. Die Angestellten müssen in den Bussen nur ihren Firmenausweis vorzeigen. Und die Bausparkasse hat sich den Bau eines teuren Parkhauses in der historischen Innenstadt gespart.
Das Hamburger ÖPNV-Modell
Ein bisschen Frankreich herrscht auch in Hamburg. Der Verkehrsverbund (HVV) betreibt schon seit vielen Jahren ein Jobticket-Modell, bei dem die Unternehmen einen kleinen Zuschuss zahlen müssen. Im Gegenzug werden die Betriebe von städtischen Auflagen, etwa im Bereich der Parkplatzbereitstellung, befreit. Folge: In der Hansestadt nutzen rund 40 Prozent der Berufspendler öffentliche Verkehrsmittel, in Stuttgart sind es weniger als die Hälfte. Abgesehen davon ist der ÖPNV in Hamburg wesentlich pünktlicher als das Angebot in Stuttgart, Frankfurt oder München.
Das Hamburger Modell wurde in der Region Stuttgart zeitweise auch von einigen Betriebs- und Personalräten, von der IG Metall und dem gewerkschaftsnahen Auto Club Europa (ACE) gefordert. Meist allerdings erfolglos. Nur wenige Unternehmen zahlen Zuschüsse, zum Beispiel die Firma Kärcher in Winnenden, die damit schon vor über zehn Jahren begonnen hat. Grund war auch hier die Parkplatznot.
Beispiele wie in Schwäbisch Hall oder Winnenden müssten Schule machen, schrieb der Gewerkschafter Dieter Knauß Anfang der Nullerjahre an die IHK Stuttgart. Der damalige Sprecher der IG Metall Region Stuttgart hatte an die Wirtschaft appelliert, sich mehr für den ÖPNV einzusetzen. Denn in vielen Betrieben der Region seien „Geschäftsleitungen oder Personalabteilungen nicht einmal bereit, die Abwicklung der Bestellung und Bezahlung eines Firmentickets zu übernehmen“.
Sanfter Druck auf die Wirtschaft in Stuttgart
Über zehn Jahre später könnte sich in der ersten Landeshauptstadt, die von einem grünen Oberbürgermeister regiert wird, etwas ändern. Die Mehrheit des Gemeinderates hat zumindest für die 19 000 städtischen Beschäftigten eine spürbare Subventionierung der Jahreskarte des Verkehrs- und Tarifverbunds Stuttgart (VVS) beschlossen und damit ein Signal an die örtliche Wirtschaft gesandt. Die Stadt Stuttgart lässt sich die Bezuschussung der Jahreskarte ihrer Beschäftigten jetzt 2,1 Millionen Euro im Jahr kosten. Die Karte für die beiden innerstädtischen Zonen soll ab April 2014 rund 30 Euro im Monat kosten, etwa die Hälfte des heutigen Preises.
Auch der Verkehrsverbund der Region hat seine Spielregeln geändert. Ab April gibt es für Firmentickets, die das Unternehmen mit mindestens zehn Euro pro Monat bezuschusst, zehn Prozent Rabatt. Bisher gab es nur sieben Prozent. Wenn die Firma keinen Zuschuss gewährt, sinkt der VVS-Rabatt von sieben auf fünf Prozent.
Damit werde ein wichtiger Anreiz geschaffen, dem Beispiel der Stadt zu folgen, erklärt Grünen-Fraktionschef Peter Pätzold. Und wenn die Gewerkschaften sowie die Personal- und Betriebsräte dies begreifen, dann werden sie in den nächsten Monaten heftig Druck machen, damit ihre Leute vergleichbare Vergünstigungen erhalten, sagt er. Einige Interessenvertreter seien schon auf den Verkehrsverbund zugekommen, berichtet VVS-Geschäftsführer Horst Stammler. Schließlich stehen in den Betrieben und Verwaltungen Neuwahlen zu den Betriebsräten an.
Die Landesverkehrsminister sind gefragt
Trotzdem werden in der Region jedes Jahr neue Parkhäuser gebaut. Und genehmigt. „Wie jüngst das Parkhaus für das Porsche-Forschungszentrum in Weissach“, berichtet der Regionalrat Christoph Ozasek (Die Linke). „Ich war der Einzige, der dagegen gestimmt hat“.
Die Linken und das Parteifreie Bündnis Stuttgart Ökologisch Sozial (SÖS) stört aber noch etwas anderes: Es fehle bei der Bezuschussung von Jobtickets die soziale Komponente, sagt Ozasek. Deshalb habe man im Stuttgarter Gemeinderat durchgesetzt, dass das Modell für die städtischen Angestellten auf die Menschen übertragen wird, die keine Arbeit haben oder nur von sehr wenig Geld leben müssen.
Im Gegensatz zu Frankreich ist die Zukunft der Bezuschussung des ÖPNV in Deutschland ungewiss: Die Bundesmittel für den Nahverkehr nach dem Bundesverkehrsfinanzierungsgesetz gehen 2019 zu Ende und damit ein großer Teil der Finanzierung. Jetzt ist die Politik in einer Zwickmühle. Einige Grüne wollen über eine Nahverkehrsabgabe diskutieren. Dafür könnten Landesverkehrsminister wie der Stuttgarter Winfried Hermann (Grüne) die rechtlichen Voraussetzungen schaffen, und dann wäre auch das französische Nulltarifmodell möglich.
Die Linken schlagen als Ziel eine solidarisch finanzierte „ÖPNV-Flatrate“ vor. Doch auch für sie ist klar, dass dies nur stufenweise geht. Ein Teil der Finanzierung könne wie in Frankreich erfolgen oder über die Erhöhung der Gewerbe- und Grundsteuer. Der Weg zur Durchsetzung eines „Grundrechts auf Mobilität“ wird noch lang sein. Man darf gespannt sein, was dem neuen Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt dazu einfällt.
Autor: Hermann G. Abmayr (kontextwochenzeitung.de)
Es freut mich sehr, zu lesen, daß dieses wichtige Thema endlich (wieder) zur Diskussion kommt!
Konstanz wäre als Tourismus- und Universitätsstandort geradezu prädestiniert, das umlagenfinanzierte Modell einzuführen: Kurtaxpflichtige Touristen (~500.000 Übernachtungen p.a.) erhalten mit dem Erwerb ihrer Gästekarte zu 2€ pro Tag sowieso bereits das Busticket gratis obendrauf, Studenten (immerhin knapp 20% der Einwohnerschaft) fahren zu 50€ pro Halbjahr mit dem Studiticket, Schüler fahren ebenfalls bereits stark ermäßigt, die Mitarbeiter des größten Arbeitgebers in Konstanz, der Stadt Konstanz selbst, fahren komplett gratis, Mitarbeiter anderer Betriebe erhalten diverse verschiedene Ermäßigungen bzw. Fahrtkostenzuschüsse.
Da fragt man sich eigentlich sowieso schon, wer denn überhaupt noch den regulären „Normaltarif“ zu bezahlen hat! Für Einkaufs-Touristen gibt es zwar ein umständliches „Cash-Back“-System, im welchem der Einzelhandelsverband den Leuten, die in bestimmten Geschäften bestimmte Mindestumsätze tätigen, sofern sie auf dem P&R-Platz Schänzlebrücke parken, die Kosten für Park- und Busticket erstattet; das Verlangen, das Auto auf einer unbewachten Schlammwüste vor den Toren der Stadt stehen zu lassen und nun anstatt im eigenen Auto im Linienbus im Stau zu stehen, hält sich verständlicherweise jedoch in Grenzen. (Ohne diese immerhin teilweise stattfindende Erstattung, wäre gar kein Anreiz mehr hierzu vorhanden, da a) das Auto auch im stehenden Zustand laufende Kosten verursacht, man also bei Busnutzung doppelt zahlen würde und b) sich die Parkgebühren außerhalb (z.B. Stromeyersdorf) nur geringfügig von denen in den Innenstadtparkhäusern unterscheiden!)
Aber wenn der Einzelhandel jetzt doch immerhin schon einmal soweit ist, Busgebühren unter bestimmten Voraussetzungen zu erstatten, wäre es doch naheliegend, statt dem umständlichen jetzigen Erstattungssystem, gleich alle Gewerbetreibenden an den ÖPNV-Kosten zu beteiligen, sowie z.B. Anteile der Kurtaxe und des Studentenwerks zu verwenden. Fürs Gewerbe wäre das Modell durch die zu erwartenden Unsatzsteigerungen wohl kostenneutral. Für unsere Stadt, die auch noch den großen Pluspunkt einer Cash-Cow namens Autofähre hat (deren Nutzung mit jedem Cent Benzinpreisanstieg und mit jedem Auto mehr auf den Strassen rund um den Überlinger-See attraktiver wird!), wäre es ebenfalls nahezu kostenneutral (siehe Umsatzsteigerungen, sprich höhere Steuereinnahmen), ein riesiger Imagegewinn und last but not least eine soziale gute Tat: Deutschland ist weltweit das einzige Land, in welchem Menschen die ohne Fahrschein ein „öffentliches“ Verkehrsmittel benutzen, kriminalisiert, ja sogar ins Gefängnis geworfen werden! Sollen ausgerechnet die Menschen die sich kein Busticket leisten können, die einzigen sein, die überhaupt eines zu kaufen brauchen? (Die derzeitige Praxis, Sozialpassinhabern immerhin wenigstens Kindertickets/-preise zuzugestehen ist Augenwischerei, da dies nur für Einzelfahrten, jedoch nicht für Tages- oder gar Monatstickets, gilt!)
Übrigens machen die Kosten für den Kontrollapparat (Fahrscheindruck, Verkaufprovisionen, Fahrscheinautomaten, deren Wartung, Kontrolleursgehälter etc.) in Konstanz deutlich mehr als 10% aus (bzw. kommt darauf an, auf was sich „10%“ beziehen soll)! Unsere transparente Stadtverwaltung läßt sich da zwar nicht so gerne in die Karten schauen, aber zu DM-Zeiten hatte ich mal die damals aktuellen Zahlen, da hatte der Kontrollapparat knapp 60% des Gesamtdefizits der Busbetriebe ausgemacht! Weitere positive Nebeneffekte für die Stadt selbst (sowie auch für alle Nutzer der Busse), wie z.B. weiterem Rückgang von Vandalismusschäden, verbessern die Rechnung zusätzlich und sprechen ebenfalls für das Umlagenmodell anstelle des Fahrscheinsystems!
„Echter ÖPNV – Keine Tickets – Jetzt!“