Die 10000 Fichen des Polizeibeamten Spirig aus St.Gallen
Dem Schweizer Staatsschutz war die unkontrollierte Fichiererei von Anfang an eigen. Dies zeigt das Beispiel von Martin Spirig, einem untergeordneten Polizeibeamten in der Ostschweiz. Nach Vorbild der deutschen Gestapo legte er im Alleingang zehntausend Fichen an – spießerhafte Spitzelei mit Methode
Martin Spirig (1884-1978) war ein unbedeutender Wachtmeister, als er 1932 zur Kantonspolizei St.Gallen stieß. Dort verbrachte er die erste Zeit mit dem Redigieren des Polizeianzeigers und dem Erstellen von Statistiken. Die langweilige Arbeit änderte sich, als 1935 die Bundespolizei geschaffen wurde und die Beobachtung politischer Vorgänge zur Polizeiaufgabe deklariert wurde. Spionage, das Aufleben von Nazigrüppchen, aber auch die zunehmende antifaschistische Agitation ließen in den Augen der Behörden die Schweiz als zunehmend bedroht erscheinen. Die «politische Abteilung» sei geschaffen worden, um «fremden und unschweizerischen Einflüssen wehren zu können», schrieb Spirig im typischen fremdenfeindlich-patriotischen Jargon der Zeit.
Der Rheintaler ging mit großem Eifer an die neue Aufgabe heran. Nach und nach baute er eine umfangreiche Registratur mit Personen- und Sachdossiers und dazugehörigen Karteikarten (Fichen) auf. Material fand er genug. Aufgrund ihrer Grenzlage war die Ostschweiz damals ein Tummelfeld für allerlei Spione, AgentInnen und Oppositionelle. Insbesondere deutsche EmigrantInnen, die auf der Flucht vor Hitler waren, wollten den Kampf gegen den Diktator im Exil fortsetzen und waren wegen ihrer Tätigkeit im Untergrund verdächtig.
Allen Seiten widmete sich Spirig mit gleichem Eifer, denn er sah sich in der Rolle als Retter des Vaterlands und der schweizerischen Demokratie. Bis 1939 hatte er schon 1263 Personen- und 270 Sachdossiers erstellt. Während des Zweiten Weltkriegs explodierte seine Sammlung: 1945 bestand sie aus nicht weniger als 12000 Registerkarten und 8485 Dossiers. Es dürfte sich um eine unter den Kantonen damals einzigartige Datensammlung gehandelt haben.
Niemand hinderte Spirig an seiner extensiven Fichiererei, weder seine direkten Vorgesetzten noch der sozialdemokratische Regierungsrat Valentin Keel. Vermutlich waren sie gar nicht so genau über die Exzesse der «politischen Abteilung» im Bild. Spirig bildete sich viel darauf ein, direkt mit der Bundesanwaltschaft und der Bundespolizei zu verkehren und somit ein «höherer» Beamter zu sein, der hauptsächlich Bern Rechenschaft schuldig sei. Im Polizeikorps war er isoliert und nicht besonders gut gelitten, was aber seinen Tatendrang nur noch verstärkte.
Bezeichnend ist, dass sein Vorbild beim Aufbau der Datensammlung die systematische Kartothek der Gestapo-Zweigstelle in Lindau am deutschen Bodenseeufer war. Seit Hitlers Machtergreifung 1933 hatte die Gestapo ein großes operatives Know-how in der Beschaffung und Verwaltung von Daten über Staatsfeinde und Oppositionelle erworben. «Gut geführte Karteikästen sind eine unerlässliche Grundlage», pries Spirig die Bedeutung solcher Fichen. Persönlichkeits- und Datenschutz waren damals noch kein Thema.
Weil er wegen des knappen Budgets seiner Dienststelle kaum über eigene Mitarbeiter verfügte, zog Spirig ein «privates» Spitzelnetz auf. Es bestand aus informellen MitarbeiterInnen, die er in rechtspatriotischen Kreisen rund um den reaktionären «Vaterländischen Verband» und seinen teils paramilitärisch organisierten Bürgerwehren fand. Diese Gruppierungen waren von verängstigten Bürgerlichen im Anschluss an den Generalstreik von 1918 gegründet worden. Sie sahen im Arbeiterstreik einen «bolschewistischen Angriff» auf die Schweiz und pflegten einen fanatischen Antikommunismus. Diese fragwürdige Kooperation von Staatsschutz und rechts stehenden Privaten war wie die exzessive Fichiererei eine zwingende Begleiterscheinung des Staatsschutzes seit seinen Anfängen.
Spirig heuerte übrigens nicht nur Spitzel an, sondern rückte abends auch selber zu Observationen aus. Im Verhinderungsfall schickte er sogar seine Ehefrau auf die Pirsch. An mancher antifaschistischer Versammlung saß er mit Notizblock in der hintersten Reihe. Nicht selten wurde er dabei von den Veranstaltern höhnisch begrüßt. Doch er überhörte solche Anfeindungen und blieb in stoischer Pflichterfüllung sitzen, um nachher seine Rapporte abzufassen. Wie schon der erste Fichenskandal im Jahr 1989 zeigte, ging ein Achtel der damaligen Bundesfichen auf die 1930er-Jahre zurück. Die Spirigs in den Kantonen lieferten dazu die Angaben. Als wohl einzige kantonale Dossier- und Karteikartensammlung aus dieser Zeit blieb jene von Martin Spirig erhalten. Sie wurde 1989 in einem vergessenen Schrank gefunden und ins Bundesarchiv transferiert.
Autor: Ralph Hug