Was Sie immer schon über Stuttgart 21 wissen wollten…

Bild: Winfried Wolf

Winfried Wolf ist Deutschlands führender Bahn-Kritiker. Deshalb drucken wir seine Rede vor den Stuttgarter S21-Demonstranten von Anfang September ab. Denn wußten Sie, dass es die vermeintliche Zeitersparnis auf der Zugstrecke in den 90iger Jahren schon gab? Wußten Sie, dass die meisten Bahnchefs aus dem Daimler-Konzern kommen? Und erinnern Sie sich noch an Whyl, Wackersdorf und Kalkar? Wolf über die Hintergründe der Schuster-Drexler-Mappus-Show:

„Liebe Bürgerinnnen, liebe Bürger,

die Menschen dieser Republik schauen auf diese Stadt. Das ist seit Wochen so. Das ist heute Abend der Fall. Das wird so sein, wenn ihr hier, wenn wir gemeinsam den Abrissstopp erzwingen, die Alternative durchsetzen und uns nicht über einen runden Tisch ziehen lassen. Ich sage das bewusst als jemand, der sich seit 1994 gegen das Projekt Stuttgart 21 engagiert und der sich als ein in Berlin lebender Schwabe vor zwei Wochen am ersten Schwabenstreich im Hauptbahnhof Berlin beteiligte.

Es gibt in der bundesdeutschen Medienwelt ein Rätselraten darüber, was denn in Stuttgart abgeht, was in die Menschen hier gefahren sei. Warum im Ländle der Kehrwoche jetzt die Wochen-Demo am Montag und nun auch noch die Großdemo am Freitag so wichtig geworden sei. Ich finde, das hat alles herzlich wenig mit dem Menschenschlag und mit Mentalitäten zu tun. Es geht doch schlicht und einfach um die Frage: Wem gehört die Stadt?. Und um die verlogenen und zynischen Antworten, die wir auf diese berechtigte Frage bekommen.

Lasst uns die Frage „Wem gehört die Stadt“ auf drei Ebenen ausleuchten: erstens der Ebene der Demokratie, zweitens der Ebene der guten und schlechten Argumente und drittens der Ebene der Wirtschaftlichkeit, oder, wie wir hier sagen: zur Frage, wer d´Sach zamme halte kann.

Ebene eins – die der Demokratie

Eigentlich ist hier die Frage „Wem gehört die Stadt“ leicht zu beantworten. „Demos“ heißt das Volk; „kratos“ die Herrschaft: Unser politisches System nennt sich Volksherrschaft oder gegebenenfalls Herrschaft der Mehrheit. Zwei Drittel in dieser Stadt sind gegen Stuttgart21. Die Mehrheit im Bundesland Baden-Württemberg ist gegen das Projekt. Das sind recht überschaubare Verhältnisse. Und sie werden von dieser Schuster-Drexler-Mappus-Show ja auch eingestanden. Warum bloß verweigern sie seit drei Jahren einen Bürgerentscheid zu dem Thema? Deutlicher kann man nicht dokumentieren, dass man demokratische Prinzipien mit den Füßen tritt.

Ebene zwei – die der guten und schlechten Argumente

Grube, Ramsauer, Drexler, Schuster und Mappus argumentieren: Die Bevölkerung rafft es nicht. Unsere Argumente sind an sich ausgezeichnet., sie dringen bisher nur nicht ausreichend durch. Wir schaffen in Stuttgart den Anschluss an die Moderne. All die Lapptopper, die Handy-men, die Eurokraten und die Bürokraten, die täglich auf der Magistrale Paris – Stuttgart -Bratislava – Budapest pendeln, wollen in Zukunft partout per Eisenbahn und Maulwürfen gleich unter Stuttgart hindurch fahren und gegebenenfalls einen kurzen Blick durch Glupschaugen hoch auf den Daimler-Stern auf dem Bonatz-Bau werfen.

Wir alle wissen: Das ist hanebüchen. Sollte es Stuttgart21 je geben, dann werden keine zehn Leute am Tag von Paris über Stuttgart nach Budapest mit der Eisenbahn fahren. Doch es werden Tag für Tag viele Zehntausende sein, die hier vor Ort im S-Bahn- und im Nahverkehr Stress mit dem neuen Nadelöhr im Keller der Stadt haben.

Von Zügen, die es nicht gibt, die es nicht geben kann

Apropos gute Argumente: Das gilt ja auch für die Neubaustrecke Wendlingen – Ulm, ohne die S21 sinnlos wäre und wogegen wir gute und wofür die S21-Befürworter schlechte Argumente haben. Ja, die Geislinger Steig´ ist steil. Doch die Neubaustrecke wird noch steiler – anstelle von 2,5 Prozent werden es 3,1 Prozent Steigung sein. Ja, 250 Meter Höhendifferenz, die bei der Fahrt über die Schwäbische Alb zu bewältigen sind, sind verdammt viel. Doch die Neubaustrecke will deutlich höher hinaus und eine Höhendifferenz von 450 Metern bewältigen. Das sind 80 Prozent mehr. Ja, Güterzüge quälen sich auf der heutigen Strecke. Doch auf der Neubaustrecke kann es keine herkömmlichen Güterzüge mit 1500 Tonnen Gewicht und einer Lok mehr geben. Das ist dann schlicht nicht mehr zu bewältigten. Und um das zu vertuschen, haben die Befürworter von S21 einfach neue Züge, die sogenannten leichten Kaufmannszüge, erfunden. Züge, die es nicht gibt und die es nicht geben kann, da der Trend in Richtung immer längerer und schwererer Güterzüge geht und da es ja eine andere Güterverkehrsroute Richtung München gibt, die über Donauwörth und Nördlingen.

Selbst die behauptete Zeitersparnis, die es bei der Neubaustrecke geben soll, ist manipuliert. 1995 dauerte die Zugfahrt zwischen Stuttgart und München – laut Fahrplan, wohlgemerkt – 121 Minuten. Heute sind es 144 Minuten oder 23 Minuten mehr. Das soll jetzt mit einer Neubaustrecke wieder herein geholt und darüber hinaus die Strecke noch etwas verkürzt werden. Da fragen wir doch die selbst ernannten Freunde der Schiene: Warum habt ihr bloß die Infrastruktur 15 Jahre lang so verlottern lassen? Warum ist es nicht das allererste Anliegen, die bestehende Strecke wieder in Schuss zu bringen und dann durch kleinteilige, deutlich preiswertere Verbesserungen diese Verbindung zu ertüchtigen und meinetwegen auch noch um ein paar Minuten über den Stand von 1995 hinaus zeitlich zu verkürzen?

Ebene drei – die der Wirtschaftlichkeit

Sind die Milliarden für S21 und die Neubaustrecke gut investiertes Geld? Tatsachen sind doch

Die Kosten für S21und die Neubaustrecke explodieren, noch bevor der Bau begonnen hat. Allein seit 2007 erhöhten sich die offiziellen Kosten für beide Projekte zusammen von 4,8 auf 7 Milliarden Euro. Die jüngsten Einsparungen, mit denen S21 als wirtschaftlich schön gerechnet wird – also dünnere Tunnelwände, weniger Querstollen als Rettungsgänge, der Einsatz von 3900 Bauarbeitern aus Osteuropa, zusammengefasst in einer eigenen Containerstadt – sind extrem riskant und baurechtlich unter Umständen schlicht kriminell.

Es ist hier auch zu fragen: Für was, für welche Zwecke wird denn dieses Geld eingesetzt? Oder: Wie könnte das anderweitig sinnvoll eingesetzt werden? Aktuell werden diese Milliarden eingesetzt gegen die Fahrgäste, gegen den Schienenverkehr, gegen die Stadt, die verwüstet wird, mit erheblichen Gefahren für die Mineralquellen und die Bebauung – weswegen ja auch der wichtigste S21-Preisträger, Frei Otto, aus dem Projekt ausstieg und vor kaum beherrschbaren Gefahren warnt.

Nun wissen wir: Bei einer Realisierung unserer Alternativen würden Bund, Land und Stadt zwischen sechs und acht Milliarden Euro einsparen. Ein Vergleich: Am 1. September beschloss das Kabinett Merkel-Westerwelle ein Sparpaket. Teil desselben sind 30 Milliarden Euro an Einsparungen bei den sozial Schwachen, bei Hartz-IV-Empfängern, bei allein erziehenden Müttern. Allein das genannte Einsparpotential bei S21 und der Neubaustrecke macht ein Fünftel bis ein Drittel des gesamten asozialen Spar-Wut-Volumens aus. Es ist doch politisch aufschlussreich, wie beim Sparprogramm auf dem Rücken von Menschen, für die jeder Euro wichtig ist, gespart wird, während gleichzeitig Milliarden Euro dafür ausgegeben werden, dass Fahrgäste geschädigt, eine Stadt geschunden und ein Baudenkmal zerbaggert wird.

Wenn es denn so ist, dass wir die Mehrheit sind, dass wir die besseren Argumente haben, dann stellt sich doch die Frage: Warum bloß kann sich bisher diese Grube-Schuster-Drexler-Mappus-Show durchsetzen? Natürlich fällt da einem die eine und andere Antwort ein. Da gibt es Leute, die wollen sich ein Denkmal setzen. Da gibt es Leute, die sind gekauft oder die kaufen sich ein.

Ihr Ziel ist die autogerechte Stadt

Doch wir sollten auch eine große Linie im Auge behalten, die letzten Endes in erheblichem Maß alle diese Pläne bestimmt. Es geht seit einem Dreivierteljahrhundert um das Ziel der autogerechten Stadt, der auf Auto und schnellen Kommerz zugerichteten Stadt. Es ist keine Stadt für die Menschen. Keine Stadt für unsere Kinder. Keine Stadt, in der Kultur, Lebensfreude und Erholung ihren Stellenwert, die großen Plätze, den öffentlichen Raum bestimmen. Nein – da wird Platz geraubt, werden Plätze und öffentlicher Raum zweckentfremdet für Straßen, für Banken, für Kommerz.

Es ist doch kein Zufall, dass von vier Bahnchefs drei, nämlich Heinz Dürr, Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube aus dem Hause Daimler gestellt wurden. Dass sie alle drei das Projekt Stuttgart21 vorantrieben. Und dass es dann einen Bahnchef namens Johannes Ludewig gab, der nicht so eng an ein Autoimperium angebunden war. Der ließ Stuttgart21 durchrechnen. Der stellte fest, dass sich das nicht rechnet. Der beschloss den Ausstieg aus dem Projekt. Und der war dann weg vom Bahnchef-Fenster. Der Autokanzler holte den nächsten Daimler-Mann, Mehdorn.

Es geht um Immobilien-Deals

Lasst mich das mit der „großen Linie“, die hinter S21 steht, noch genauer belegen. Im Jahr 1993 erschien im Münchner Wochenmagazin „Focus“ ein Artikel mit der Überschrift: „Das Mega-Milliarden-Ding“. Es ging in dem Beitrag allein um die sogenannten 21er Projekte, mit denen Schienenverkehr unter die Erde verlegt werden sollte. Zum Auftakt des Artikels wurde ein Blick auf das „Vorbild USA“ und das „Beispiel New York“ geworfen. Es gab zwei Fotos im Stil von „vorher-nachher“. Das erste zeigte New York City in den 1920er Jahren. Ein Bild mit breit gefächerten Schienensträngen und einem imposanten Kopfbahnhof. Penn Central Station – der damals größte Bahnhof der Welt. Daneben ein Foto von derselben Stelle heute: dichte Bebauung; Hochhäuser. Im Text hieß es: „Die New Yorker (…) überbauten diese hässliche Gleisschneise samt Bahnhof mit Hochhäusern und Straßen.“ Dass in der Folge der Schienenverkehr in den USA und in New York auf weniger als ein Zehntel reduziert wurde, verschwieg „Focus“.

Aber das Blatt war ehrlich genug, die grundsätzliche Stoßrichtung der 21er Projekte offen zu legen. Dort hieß es: „Heinz Dürr, der Führer der zukünftigen Deutschen Bahn AG (…) gibt sich entschlossen, mit Bahnhöfen und Brachland gutes Geld zu verdienen. (…) Für das Geschäft mit Immobilien wird im Vorstand der neuen DB AG eigens ein neues Ressort geschaffen.“ Die gewissermaßen focussierte Bilanz: „Das 41.000 Kilometer lange Schienennetz ist als Immobilie pures Gold. Die Gleisschneisen der Städte können raffiniert umbaut werden.“

Darum und nur darum geht es: Um Immobilien-Deals. Um gewaltige Bauaufträge. Um die Privatisierung von Volksvermögen. Um die Zerstörung des klimaverträglichen Bahnverkehrs zugunsten des Straßen- und Luftverkehrs.

Uns wird in diesen Wochen und Tagen immer wieder gesagt, da sei doch alles eingetütet, es gebe eben „unumkehrbare Beschlüsse“. Das soll uns auch Tag für Tag eingehämmert, mit Bagger- und Brachialgewalt demonstriert werden. Zunächst einmal gilt bereits rein formal: Bei Stuttgart21 und der Neubaustrecke wurden Beschlüsse wider Treu und Glauben gefasst. Es erfüllt den Tatbestand der Sittenwidrigkeit, wenn Entscheidungen zustande kommen, bei denen die Entscheider Gutachten nicht kennen, von einem Güterverkehr ausgehen, den es nicht geben kann und vom Ausstieg des wichtigsten Architekten aus dem Projekts – Frei Otto – und seinen Warnrufen nicht informiert wurden.

Whyl, Wackersdorf, Kalkar, Berlin – das sind die Beispiele

Es geht aber nicht primär um die juristische Seite. Es geht um Politik und um Grundsätze von Demokratie. Das Atomkraftwerk in Whyl im Badischen war auch „unumkehrbar beschlossen“. Es wurde in den 1970er Jahren unter anderem von der bäuerlichen Bevölkerung vor Ort gestoppt. Die Wiederaufbereitungsanlage im bayerischen Wackersdorf war „unumkehrbar beschlossen“ und bereits in Bau befindlich. Das Projekt wurde von den Menschen vor Ort und von einer breiten, bundesweiten und jahrelangen Bewegung gestoppt. Der Schnelle Brüter in Kalkar war nicht nur „unumkehrbar beschlossen“. Der war sogar weitgehend fertig gebaut. Doch eine breite bundesweite Bewegung stoppte den Weiterbau und verhinderte die Inbetriebnahme.

Und, liebe Bürgerinnen und Bürger, viele von uns wissen noch, was es am alten „Tag der deutschen Einheit“, am 17. Juni 1953 in der DDR gab. Ja, es gab Massendemos. Aber vorab gab es eine Normerhöhung, vor allem für die Bauarbeiter. Mehr Arbeit, weniger Geld. Dann gab es Streiks und Massendemonstrationen. Die wurden zum Teil blutig unterdrückt. Aber: Die Normerhöhung wurde zurückgenommen. Die in Berlin Herrschenden hatten Angst vor der demokratischen Macht der Menschen auf der Straße und auf den Baustellen. Und als das SED-Politbüro erklärte, die Streikenden hätten „das Vertrauen der Regierung“ verloren, sie müssten sich dieses „Vertrauen neu erarbeiten“, da schrieb ein aus Augsburg stammender, in Berlin lebender Mann namens Bert Brecht die berühmten Zeilen:

Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / Löste das Volk auf und / Wählte ein anderes?

Das ist jetzt 57 Jahre her. Und brandaktuell. Uns erklärt dieser Tage das S21-Politbüro in Gestalt der Herren Grube, Schuster, Drexler, Mappus und Ramsauer: Das Volk versteht uns nicht. Wir haben Kommunikationsfehler gemacht. Wir werden die Vertrauensbasis wiederherstellen. Wir laden alle ein, an einem runden Tisch zusammen zukommen. Dazu sagen wir: Wir haben gut verstanden. Wir sind mündige Bürgerinnen und Bürger. Wir sind selbstverständlich zu jeder Zeit gesprächsbereit – bei Einstellung des Abrisses und bei einer offenen Tagesordnung unter Einschluss der Punkte „Aus für S21“ und „Alternativen zu S21 – das Projekt K21 steht zur Debatte“. Was in Stuttgart passiert, ist beispielhaft für das ganze Land. Das schafft sehr vielen Menschen neuen Mut, sich selbst vor Ort zu engagieren. Wir werden noch stärker werden. Wir können und werden S21 stoppen.“

Autor: Dr. Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21, Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von Attac. und Sprecher der Initiative Bürgerbahn statt Börsenbahn, einer Initiative, die sich gegen die geplante Privatisierung der Deutschen Bahn AG ausspricht. Wolf arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestagsbüro von Sabine Leidig, MdB, verkehrspolitische Sprecherin der LINKEN im Bundestag. Wolf verfasste das erste Buch zum Thema („Stuttgart 21 – Hauptbahnhof im Untergrund??, ISP, Köln 1995 und 1997). Aktuelle Veröffentlichungen: „Verkehr. Umwelt. Klima – Die Globalisierung des Tempowahns“, Wien 2007 und 2009; „Sieben Krisen – ein Crash“, Wien 2009.