Warum heute wieder antisemitische Witze gemacht werden können

„Familie Salzmann“: In seinem jüngsten Buch beschreibt Erich Hackl drei Generationen politischer Verfolgung in Deutschland und Österreich. Und erzählt ganz nebenbei eine Geschichte von Widerstand, von Nicht-Versöhnung und neu aufkeimenden Antisemitismus. Oder ist es doch der alte?

«Unversöhnt ist er gegangen», schreibt eine Bekannte nach dem Tod von Hugo Salzmann an dessen Sohn. Salzmann, geboren 1903, Metalldreher, wurde als deutscher Kommunist von den Nazis gejagt, war nach Frankreich geflüchtet, dort interniert, an Deutschland ausgeliefert und verurteilt worden; er überlebte das Zuchthaus, während seine Frau Juliana im Frauen-KZ Ravensbrück an Typhus starb. Nach dem Krieg engagiert er sich erneut als Gewerkschafter und KPD-Stadtrat in der Heimatstadt Bad Kreuznach, zuerst halbwegs anerkannt, dann im Kalten Krieg heimgesucht von den alten Ausgrenzungen.

So hat die Nichtversöhnung bei seinem Tod 1979 mehrere Aspekte: Unversöhnt ist er mit der neuen Gesellschaft, aber auch mit der eigenen Geschichte, die er teilweise verdrängt, vor allem den Tod von Juliana. Nicht zuletzt bleibt er unversöhnt mit seinem 1941 bei Verwandten in Österreich platzierten Sohn Hugo, den er erst wieder als Jugendlichen trifft, aber nicht mehr lieben lernen kann. So setzt sich das gesellschaftliche Unrecht als Zerrüttung in der eigenen Familie fort.

Geschichte – erzählt in Einzelschicksalen

Seit seinem Erstling vor über zwanzig Jahren hat Erich Hackl praktisch ein eigenes Genre entwickelt und gepflegt. Auf historisch-dokumentarischen Recherchen aufbauend, vergegenwärtigt er Geschichte durchs Einzelschicksal. Hackl, der als Publizist und Übersetzer aus dem Spanischen tätig ist, behandelt in seinen Büchern zentrale Brennpunkte des 20. Jahrhunderts: den spanischen Bürgerkrieg, den deutschen Faschismus bis hin zu Auschwitz, die Verfolgung der Roma, lateinamerikanische Diktaturen und Aufstandsbewegungen.

Im neuen Buch geht es um drei Generationen der Familie Salzmann. Da sind Hugo und Juliana; Hugo junior, der Sohn, der bei einer Tante in Österreich aufwächst; schliesslich Hanno, der Enkel, der in den neunziger Jahren eine Verfolgung eigener Art erlebt.

Antisemitismus und die Kontinuität von Denk- und Verhaltensweisen

Die Geschichte des Kommunisten Hugo Salzmann, sein Engagement in der Weimarer Republik, dann gegen den Faschismus, im Exil, schließlich im Kalten Krieg, ist diejenige, die in allen schrecklichen Umrissen am besten bekannt ist. Hugo junior, sein Sohn, weist einen andersartig gebrochenen Lebenslauf auf. Von der Tante aufgezogen, nach dem Krieg zum Vater zurückgekehrt, der sich neu verheiratet hat, will er dessen politisches Engagement fortsetzen, ohne jedoch dessen Anerkennung zu gewinnen. 1953 siedelt er in die DDR über, lebt dort «zwölf wacklige Jahre», kann wieder in den Westen zurückkehren, nach Stainz in der Steiermark, wo er sich als Vertreter durchschlägt und seine Frau als Sekretärin arbeitet, mit zwei Söhnen, einer davon behindert. Die Ansprüche sind bescheiden geworden; gelegentlich sucht er die Erinnerung an seine Mutter zu beleben, bleibt aber vom Vater entfremdet.

Mit Enkel Hanno beginnt in den neunziger Jahren eine neue Geschichte. Der arbeitet in Graz in der Gebietskrankenkasse und wird plötzlich, wegen seiner politisch anrüchigen Herkunft, obwohl nicht jüdisch, mit dem ganz alltäglichen Antisemitismus in Österreich konfrontiert. Sein Fall ist anders als der mörderische Terror, dem der Großvater ausgesetzt war, und dokumentiert doch eine erschreckende Kontinuität von Denk- und Verhaltensweisen.

In seinen Büchern stellt Hackl die Frage, wie Geschichte und Geschichten erzählt werden können. Er hat das unterschiedlich gehandhabt: als gradlinige Chronik, als Polyphonie aus verschiedenen Perspektiven. In «Familie Salzmann» baut er einerseits Dokumente ein, aus veröffentlichten Büchern anderer Überlebender, die die Salzmanns gekannt haben, zitiert auch hinterlassene Briefe der Betroffenen. Andererseits werden Leerstellen benannt, wenn Informationen ungesichert sind oder fehlen.

Leider wahr: Eine Erzählung aus unserer Mitte

Dabei geht Hackl unterschiedlich nah an die Personen heran. Das lässt sich auch als Erprobung unterschiedlicher Intensitäten lesen. Die Nachkriegszeit wird vornehmlich mit Blick auf Sohn Hugo erzählt. Die scheiternde Beziehung zum Vater verleiht der gesellschaftlichen Tragödie eine zusätzliche persönliche, beklemmende Trauer. Dabei vermutet der Ich-Erzähler, wenn der Vater dem Sohn mehr aus seinem Leben erzählt hätte, wäre die väterliche Verhärtung verständlicher geworden und ihre Beziehung anders verlaufen. Vielleicht. Erzählen würde dann als Katharsis wirken. Das mag auch für die Bücher von Hackl gelten.

Was ist uns Geschichte? Was ist uns diese Geschichte? Der Ich-Erzähler erklärt einleitend, die ganze Sache sei ihm vom jüngeren Hugo Salzmann erzählt worden, «in der Hoffnung, dass ich sie mir zu Herzen nehme». Zu Herzen nehmen und zugleich zu verstehen hoffen. Dazu gehört auch die fassungslose Frage von Hugo Salzmann, warum damals, mit den Nazis, so viele mitmachten, und warum sich gegen sie so wenig Widerstand geregt habe. Die Frage bleibt mit uns, in einer neuen Form: Warum gegen Ende des 20. Jahrhunderts wieder antisemitische Witze gemacht werden können. Ja, das ist eine «Erzählung aus unserer Mitte», wie der Untertitel des Buchs heißt.

Gibt es keine Alternative? Hackl deutet sie an, ganz zum Schluss. Hanno wird an einer neuen Arbeitsstelle wiederum angepöbelt, setzt sich diesmal aber erfolgreich zur Wehr. «Dass die Geschichte also unentschieden endet, vorläufig», wird im letzten Satz eine leicht ironische Hoffnung formuliert.

Erich Hackl: «Familie Salzmann. Erzählung aus unserer Mitte». Diogenes Verlag. Zürich 2010. 186 Seiten. Fr. 35.90.

Autor: Stefan Howald