„Nimmt die EU den Tod von Flüchtlingen in Kauf?“
„ … sie schafft sie sogar“, sagte Tobias Pflüger auf einer Veranstaltung in Konstanz. Der frisch zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden der LINKEN gewählte Pflüger kritisierte vor allem die Arbeit von Frontex: Die EU-Polizeitruppe greift an den Außengrenzen gezielt Flüchtlinge ab – Tote werden dabei offensichtlich in Kauf genommen
Als Erfolgsmeldung verkaufe es Frontex („Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union“, Anm. d. Red,), 42 000 Flüchtlinge im Zeitraum von Januar bis April dieses Jahres von der Einreise nach Europa abgehalten zu haben. „Was sie dabei nicht sagen, ist, dass mindestens 23 000 Menschen von 2000 bis heute im Mittelmeerraum bei dem Versuch umkamen, nach Europa zu gelangen“, so Tobias Pflüger. Das habe eine gemeinsame Recherche von Journalisten verschiedener Zeitungen ergeben, darunter auch der NZZ.
Pflüger, Mitbegründer der Tübinger „Informationsstelle Militarisierung (IMI)“, saß zwischen 2004 und 2009 für die Linksfraktion im Europaparlament und hat sich intensiv mit Flüchtlingsfragen beschäftigt. Sein Urteil über die EU-Politik fällt vernichtend aus. Beispielsweise würden „trotz Beschluss des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs… mit Grenzüberwachungsschiffen von Frontex Flüchtlinge weiter abgedrängt, auch wenn die Schiffe das offiziell nicht mehr dürfen.“
Frontex operiert nicht nur im Mittelmeer
Pflüger wies auch darauf hin, dass Frontex nicht nur an den EU-Außengrenzen operiert: „Ich wurde vor einiger Zeit am Frankfurter Flughafen von spanischen Polizisten kontrolliert, portugiesische waren auch dabei. Da kam ich vom Weltsozialforum in Venezuela. Nach langem Recherchieren habe ich herausgefunden, dass das ein Frontex-Manöver war, bei dem gezielt Leute festgenommen wurden, die in Venezuela dem Flieger zugestiegen waren.“ Ähnliche Einsätze habe es auch in Amsterdam und Madrid gegeben. „Frontex wird inzwischen umfangreich auch innerhalb der EU eingesetzt.“
Festung Europa baut Mauern, missachtet Flüchtlingskonventionen
Obwohl das Schengener Abkommen EU-Bürgern innerhalb der EU eigentlich Reisefreiheit garantiert, könne das jederzeit ausgesetzt werden. „Wenn in der Nähe der französischen Grenze beispielsweise ein NATO-Gipfel oder ähnliches stattfindet, wird davon Gebrauch gemacht“, sagt Pflüger und weiter: „Man baut derzeit mit Geldern der Europäischen Union Zäune und Mauern an den Grenzen der EU, zum Beispiel Griechenlands.“ Erschreckend ist für ihn auch die Situation in Spanien: „Vor den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla werden Flüchtlinge von spanischen Polizisten sogar beschossen, wenn sie versuchen, über die hohen Stacheldrahtmauern zu kommen. Sie wissen, dass sie die Leute formal zumindest fragen müssten, ob sie einen Antrag auf Asyl stellen wollen, sollten sie auf EU-Territorium kommen. Aber selbst das machen sie nicht mehr, sondern organisieren meist die Abschiebung zurück nach Afrika.“
Deutscher „Exportschlager“: Abschiebeknäste
Auch anderen Entscheidungen der EU in Sachen Flüchtlingspolitik stellt Pflüger ein vernichtendes Urteil aus. Griechenland gelte beispielsweise immer noch als sicherer Drittstaat, in den abgeschoben werden kann. „Doch das ist völliger Quatsch: Flüchtlinge werden dort regelrecht gejagt und verbringen nicht selten Jahre in Abschiebeknästen.“ Bezeichnenderweise sei das eine deutsche Erfindung. „Basierend auf einer Idee von Wolfgang Schäuble (CDU) ist das inzwischen Beschlusslage der EU-Innenminister. Das trifft vor allem die, die praktisch keine Chance haben, Asyl zu beantragen.“ Mithilfe von EU-Geldern würden derzeit auch Auffanglager in Libyen, Tunesien und Ägypten gebaut. In Libyen treffe das auch Leute, die vor den NATO-Bomben flüchteten.
Ein aktueller Entwurf des Bundesinnenministeriums ärgert Pflüger besonders, da dieser die Inhaftierung zahlreicher Flüchtlinge in Deutschland zur Folge hätte. Der Entwurf stelle Flüchtlinge unter einen Generalverdacht. Eine Zuhörerin stellte heraus, dass Menschen so leichter abgeschoben werden könnten, wenn sie keinen gültigen Pass hätten oder bei ihrem Asylverfahren nicht kooperativ mitgewirkt hätten. „Das Schlimme ist ja, dass das anders verkauft wird. Den Menschen wird suggeriert, es ginge um Rechtssicherheit für Flüchtlinge. Dabei will man sie nur bequemer loswerden.“
EU-Politik schafft Flüchtlinge
Laut Pflüger zeige die EU nicht nur wenig Interesse an einer menschenwürdigen Flüchtlingspolitik. Es sei gerade die Wirtschafts- und Außenpolitik der europäischen Staaten, die zu einem nicht geringen Teil dafür verantwortlich sei, dass Menschen aus ihren Heimatländern fliehen: „Nehmen wir als Beispiel den Senegal. In dieses Land werden Kredite vergeben, die in dreifacher Höhe zurückgezahlt werden müssen.“ Ziel dieser Praxis sei es, profitable Handelsbeziehungen zu pflegen. „Ein Interesse, die Lebenssituation der Menschen entscheidend zu verbessern ist nicht vorhanden“. Demzufolge könne sich niemand wundern, dass gerade der Anteil senegalesischer Flüchtlinge sehr hoch ist.
Arbeitsverbot in Deutschland – Schweden macht es anders
Scharf kritisierte der Linken-Politiker auch andere Aspekte insbesondere der deutschen Flüchtlingspolitik. „Wenn jemand in Deutschland behauptet, wie schlimm sich die Asylbewerber verhalten, dann soll er sich mal die Rechtslage anschauen. Menschen, die hierher fliehen, unterliegen faktisch einem Arbeitsverbot.“ Selbst wenn Flüchtlinge eine Anstellung bekommen könnten, müsse zuerst aufwendig geprüft werden, ob jemand aus Deutschland oder der EU nicht ebenfalls für die Stelle geeignet wäre. Nur wenn das nicht der Fall sei, dürfe der Flüchtling angestellt werden.
Als positives Gegenbeispiel führt Pflüger das kleine Schweden an: „Dort hat man beschlossen, allen Flüchtlingen aus Syrien Asyl zu gewähren – und Schweden ist ein kleines Land in der EU. Deutschland hat hingegen nur ein Kontingent von zuerst 5.000, dann von 10.000 Flüchtlingen genehmigt.“
Akteure kritisieren
Selbstkritisch bedauert es Pflüger, dass er sich als EU-Parlamentarier – trotz Nichtzuständigkeit – nicht intensiver mit den Themen Frontex und Flüchtlingspolitik befasst hat. „Es ist schon merkwürdig, dass niemand von den etablierten Parteien offen für die von ihnen betriebene Flüchtlings- und Grenzpolitik eintritt.“ Es sei Aufgabe der Linken, die Akteure in dieser Frage massiv zu kritisieren. Stuttgart hänge zwar einen „Mantel des Schweigens“ über die Flüchtlingspolitik. „Aber auch unter Kretschmann wird weiter abgeschoben“. Vor allem hinsichtlich der Rolle der SPD nimmt Pflüger kein Blatt vor den Mund: „Es waren sie, die damals in den 1990ern den Asylkompromiss und damit die faktische Abschaffung des grundgesetzlichen Rechts auf Asyl wesentlich eingetütet haben.“
Solidarität formiert sich
Ein positives Zeichen sieht Tobias Pflüger darin, dass in immer mehr Orten, so auch in Konstanz, solidarisch an der Seite der Flüchtlinge gekämpft wird. So macht das Bündnis Abschiebestopp mit dem Projekt „Roma-Solidarität – alle Kinder bleiben hier“ gezielt auf drohende Abschiebungen und die damit verbundenen menschlichen Tragödien aufmerksam und bringt Petitionen auf lokaler und Landesebene voran. Dies sei wichtig, damit die Bevölkerung, die entgegen mancher Medienmeldungen viel solidarischer mit Flüchtlingen umgeht als die Politik der im Bund und im Land regierenden Parteien, besser über die prekäre Lage von Flüchtlingen aufgeklärt wird.[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]
Autor: Symeon Börner