Sanitäter Gabriel und seine Pflästerchen-Politik

Höhere Steuern für Reiche! Gegen die soziale Ungleichheit! – nicht ganz so entschieden klangen die wichtigsten Forderungen der SPD zur Bundestagswahl im September 2013, aber immerhin. Diese Wahlplakate sind geschreddert, und die Regierungs-SPD unter Sigmar Gabriel, Partei-Vorsitzender und Vize-Kanzler, positioniert sich heute deutlich anders 

Die Gabriel-SPD kann Erfolge vorweisen. Es wird der gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde kommen; offiziell bereits Anfang 2015, faktisch dann erst Anfang 2017, da bis Ende 2016 noch viele Ausnahmen und Abweichungen erlaubt sind. Regierungsoffiziell heißt es, etwa 3,7 Millionen Beschäftigte würden davon profitieren. Es kommt die Rente mit `63. Das heißt, vor allem eine bestimmte Gruppe von Facharbeitern kann unter strengen Bedingungen – z.B. muss jeder Berechtigte 45 Jahre lang Beiträge in die Rentenversicherung eingezahlt haben – bereits mit 63 Jahren in Rente gehen; ungeachtet der bereits beschlossenen Rente mit `67.

Die vielen Abschiede der SPD…

Und wovon hat die Regierungs-SPD Abschied genommen? Von Steuererhöhungen für Reiche ist keine Rede mehr. Die Linie der Koalition lautet rigoros: gar keine Steuererhöhungen. Die SPD hält sich daran, wie der kommende Fall zeigt. In der vergangenen Woche gab es in Berlin kurz eine Debatte, ob nicht doch die so genannte Abgeltungssteuer erhöht werden solle – aber sofort war das Thema wieder weg. Dabei illustriert diese Steuer wie keine andere, warum diese Republik sozial auf dem Kopf steht. Wer Geld hat und dessen Tun beispielsweise aus Aktien-Handel besteht, zahlt auf seine Kapital-Gewinne sensationell niedrige 25 Prozent Abgeltungssteuer. Das lohnt sich richtig. Eingeführt wurde sie von Peer Steinbrück, SPD, der mit dem Argument vor den Geldsäcken kapitulierte: Damit die richtig Reichen nicht flüchten, beispielsweise in die Schweiz, senken wir die Steuern auf die Kapitalerlöse drastisch ab. Wer dagegen kein Geld hat, deshalb arbeiten muss, zahlt viel höhere Steuern als Aktienhändler und Dividenden-Einsacker – und Sozialabgaben noch obendrauf. Also: Arbeitseinkommen werden hoch besteuert, Spekulation und Reichtum werden niedrig besteuert.

Dabei gäbe es in Sachen Soziales inzwischen so viel zu tun. In ihrem jüngsten Bericht empfahl die wirtschaftsfreundliche Organisation OECD der deutschen Regierung: „Unsere Kernbotschaft ist, dass Deutschland ein inklusiveres Wachstumsmodell verfolgen sollte. Basierend auf guten Löhnen, einem fairen Steuersystem, gleichen Bildungschancen für alle und höheren Bildungsinvestitionen.“ Angel Gurria, Generalsekretär der OECD, trug diese Sätze vor wenigen Tagen in Berlin vor. Sigmar Gabriel hörte aufmerksam zu. Aber was tut er?

Abschied genommen hat die Regierungs-SPD auch von dem Versuch, die ständig tiefer werdende soziale Kluft wenigstens ein bisschen zu schließen. Vor wenigen Tagen hat der ebenso famose wie hartnäckige Historiker Hans-Ulrich Wehler erneut versucht, das Thema an die Oberfläche zu bugsieren. Bereits vor etwa einem Jahr hat er, der angesehenste Sozialhistoriker des Landes, mit seinem Buch „Die neue Umverteilung“ auf die dramatische soziale Ungleichheit in Deutschland aufmerksam gemacht. Vermögen und Einkommen sind inzwischen extrem ungleich verteilt. Wehler erinnerte nun an folgende Zahlen: Von 2000 bis 2020 wurden und werden privatrechtlich insgesamt 5,7 Billionen Euro vererbt, mehr als die Hälfte des deutschen Gesamtvermögens, das momentan etwa zehn Billionen Euro beträgt. Gäbe es in Deutschland, so Wehler, eine vernünftige Erbschaftssteuer wie in Frankreich, in Höhe von 50 Prozent, so hätte die Öffentlichkeit in diesem Zeitraum 2,9 Billionen Euro eingenommen, genug, um beispielsweise die zunehmend rückständige öffentliche Infrastruktur in Ordnung zu bringen. Zum Vergleich: Das Aufkommen aufgrund der heutigen Erbschaftssteuer beträgt jährlich kümmerliche vier bis 4,5 Milliarden Euro.

…und Lob an die falsche Adresse

Dagegen legt die Gabriel-SPD viel Wert darauf, sich einig mit den Wirtschaftseliten zu zeigen. Das aktuelle Beispiel: Das geplante Freihandelsabkommen (TTIP) zwischen EU und USA wird von Sigmar Gabriel laut begrüßt, es biete viele gute Chancen. Gewerkschaften, beispielsweise die IG Metall, Sozial- und Verbraucherverbände lehnen TTIP aus vielerlei Gründen ebenso ab wie die Grünen und die Partei Die Linke. Die Kritiker befürchten, dass mit ihm vor allem die Macht der internationalen Konzerne gestärkt und die Position der Gewerkschaften und Arbeitnehmer geschwächt werde. Und sie betonen, wie ungewöhnlich marginal die positiven Effekte seien: Selbst die glühendsten TTIP-Befürworter prognostizierten im nächsten Jahrzehnt nur wenige Zehntel-Prozent mehr Wirtschaftswachstum und wenige Hunderttausend Arbeitsplätze mehr in ganz Europa.

So könnte die Position der Gabriel-SPD nach einem halben Jahr Regierungszeit so markiert werden: Sich mit den Wirtschafts-Eliten gut stellen und auf die Stellen des ungerechten Systems soziale Pflästerchen aufkleben, wo es besonders schmerzt. Die Rolle des Sanitäters ist in dieser Regierung also besetzt.[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]

Autor: Wolfgang Storz/woz.ch