Ungehorsam und mehr Hochzeiten!
Es ist kein Zufall, dass sich ein militärischer Begriff als Beschreibung der europäischen Flüchtlingspolitik etabliert hat: Festung Europa. Denn um die Ziele dieser Politik zu erreichen – Abschottung und Abschreckung –, ist die europäische Aussengrenze in den letzten Jahren mit Zäunen, Drohnen, Satelliten und Schnellbooten massiv militarisiert worden.
Die Zäune aber können noch so hoch sein, die Flüchtlinge kommen trotzdem. Allein am vergangenen Wochenende sind 3000 Flüchtlinge, hauptsächlich aus Syrien und Ägypten, übers Mittelmeer nach Italien gelangt. Damit ist ihre Zahl seit Anfang des Jahrs in Italien auf rund 40 000 gestiegen – das sind fast so viele wie im gesamten letzten Jahr.
Die Militarisierung der Grenze hat dennoch Folgen: Sie schreckt gerade jene von der Flucht ab, die besonders verletzlich sind: Frauen und Kinder. Und sie erhöht die Zahl der Toten und Verwundeten. Am 6. Februar versuchten mehrere Hundert Flüchtlinge, Ceuta, die spanische Enklave im Norden Marokkos, über die scharfkantigen Zäune sowie das Meer zu erreichen. Die spanischen Grenzschützer reagierten auf den Ansturm mit Gummigeschossen und drängten die Flüchtlinge ins Meer zurück. Fünfzehn von ihnen ertranken. Seit dem Jahr 2000 sind mindestens 23 000 Flüchtlinge auf ihrem Weg zum Asyl in Europa gestorben, wie ein Journalistenkonsortium Ende März im Projekt «The Migrants’ Files» nachgewiesen hat.
Die Schweiz trägt die europäische Flüchtlingspolitik als Mitglied von Frontex und Unterzeichnerin des Dublin-Vertrags nicht nur massgeblich mit, sie geht sogar glatt als Musterschülerin durch. Die Abschottung hat sie dermassen verinnerlicht, dass diese mittlerweile auf den Rest Europas ausgeweitet wurde, und für die Abschreckung – in Form der Ausschaffungsinitiative – ist sie bereit, gegen die Europäische Menschenrechtskonvention zu verstossen. Das Botschaftsasyl hat die Schweiz kürzlich abgeschafft, und gleichzeitig hat sie die Regeln für die Waffenausfuhr gelockert.
«The Migrants’ Files» führt neunzehn Todesfälle in der Schweiz auf. Etwa den des 26-jährigen Tunesiers Moncef S., der sich im Mai 2013 das Leben nahm. Oder den des 29-jährigen Nigerianers Joseph Ndukaku Chiakwa, der im März 2010 bei einer Zwangsausschaffung starb.
Die europäische Flüchtlingspolitik ist gescheitert. Solange sich das Thema Migration ausschlachten lässt, halten die PolitikerInnen trotzdem daran fest. Widerstand kommt bisher nur aus der Zivilgesellschaft, von Menschen wie Stefan Schmidt oder Gabriele del Grande.
Schmidt ist ein deutscher Kapitän, der 2004 im Mittelmeer vor Lampedusa 37 in Seenot geratene sudanesische Flüchtlinge aufgenommen und gerettet hat. Worauf er wegen «illegaler Einschleusung» festgenommen und angeklagt wurde. Erst 2009 wurde er freigesprochen. «Ich würde auch in Zukunft nie anders handeln, daran kann mich kein Gericht der Welt hindern», sagte er während des Prozesses. Del Grande ist ein italienischer Journalist und Aktivist, der mit seinem Blog «Fortress Europe» gegen das Vergessen der Toten im Mittelmeer ankämpft. Er realisiert zurzeit das Filmprojekt «Auf der Seite der Braut», in dem er gemeinsam mit FreundInnen syrische Flüchtlinge nach Schweden schmuggelt – getarnt als Hochzeitsgesellschaft. «Es geht uns darum, dass Flüchtlinge in Europa das Recht auf Bewegungsfreiheit haben sollen. Warum sollten andere entscheiden, wie sich diese Menschen zu bewegen haben?»
Gabriele del Grande ist diese Woche in der Schweiz unterwegs, um von seinem Engagement und seinen Projekten zu erzählen, nächste Woche kommt Stefan Schmidt hierher. Die offizielle Schweizer Politik wird ihre Vorschläge zu Auswegen aus der gescheiterten europäischen Flüchtlingspolitik ignorieren. Wenn kommende Woche der nationale Flüchtlingstag gefeiert wird, könnte sie immerhin ihre Reakion auf den Konflikt in Syrien überdenken: Angesichts der über 160 000 Todesopfer und fast neun Millionen Flüchtlinge sowie intern Vertriebenen ist die Bereitschaft des Bundesrats, 500 Kontingentsflüchtlinge aufzunehmen, blanker Hohn.
Autor: Jan Jirát/www.woz.ch