Wie ein Intendant das Fürchten lernt
Vom Aufstieg in die deutsche Theaterprovinz berichtet Christoph Nix (s. Foto) in einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“. Der Intendant des Konstanzer Stadttheaters hat damit hierzulande einigen Staub aufgewirbelt. Doch während andere nur auszugsweise zitieren und mehr oder weniger gehässig kommentieren, bringt seemoz – wieder einmal – den vollen Wortlaut. Damit Sie sich Ihr eigenes Urteil bilden können
„Gehen sie nicht nach Kassel“, sagte Ulrich Brecht zu mir, „da kann man nur scheitern.“ Brecht, einer der wichtigen Intendanten der Nachkriegszeit, hatte gegen viel Widerstand von Ulm über Kassel, Düsseldorf und Essen die Moderne ins deutsche Theater getragen. Aber ich wollte nicht hören. Ich war doch ausgezogen, das Fürchten zu lernen.
In nur fünf Jahren hatten wir das Theater Nordhausen auf den Kopf gestellt: Zwölfton-Opern von Friedrich Schenker für Kinder, „Dantons Tod“, inszeniert von Armin Petras mit Sebastian Hartmann, Olaf Brühls „Wiener Blut“ mit schwulen Männern. Der Kulturbürgermeister bestellte mich ein zum Rapport. So war die Welt, kurz nach der Wende. Bei Premieren waren in der winzigen Stadt alle Hotels ausgebucht, danach war es wieder still. Mit dem Bummelzug kam die Berliner Szene in den Harz gepilgert, am Montag bestimmten die üblichen Skinheads das Straßenbild. 80 000 Zuschauer pro Jahr, die Stadt war halb so groß.
Wir dachten, das ginge jetzt immer so weiter. Wie könnte ein Intendant, der aus Nordhausen kommt, wo 28 Prozent der Einwohner arbeitslos waren, auch nur im Schlaf daran denken, in Kassel zu scheitern? Viermal soviel Geld, fast 200 000 Einwohner, die Documenta als modernes Image und ein rot-grünes Bündnis an der Macht. Wie naiv wir waren.
„Ich kann Sie verhindern“
Als wir kamen, hieß es in Kassel hinter vorgehaltener Hand: „Jetzt kommen die Ossis.“ Dabei bin ich Hesse. Sebastian Baumgarten, Armin Petras, Henning Paar und Wolfram Mehring bildeten ein Regieteam, wie es an anderen Staatstheatern damals nicht denkbar war. Getragen vom Gestus des Politischen, der Befreiung und Aufklärung wurde das Musiktheater revolutioniert, es entstand das bekannte Team von Schauspielern um Armin Petras. Aber in der Stadt waren wir unbeliebt. Kunstministerin Ruth Wagner erklärte uns frei heraus, sie werde dem Spuk bald ein Ende bereiten. Im Aufzug des Wiesbadener Ministeriums drohte mir ein Ministerialbeamter, der zwanzig Jahre lang in Hessen für alle Staatsintendanten zuständig war: „Ich kann keinen zum Intendanten machen, aber solche wie Sie verhindern.“
Nach drei Jahren war alles vorbei, Armin Petras ging an das Schauspiel Frankfurt, Sebastian Baumgarten ans Theater Meiningen, Wolfram Mehring zurück nach Paris. Die anderen in alle Winde zerstreut. Kassel hatte uns ausgespuckt. „Wenn du weg bist vom Job, meldet sich keiner mehr“, hatte mir István Szabó, der ungarische Filmregisseur, zugerufen, „aber du findest was.“ Ich fand nichts. Ich bewarb mich an siebzehn Theatern, aber der Mythos von Kassel war stärker, nicht der künstlerische Erfolg war geblieben, sondern die Mär, wir wären gescheitert. Aber an wem? Am Publikum? Der nordhessischen Mentalität? Am Trauma einer kriegszerstörten Stadt? An der Politik der FDP und dem Kassel-Mief. Die Documenta ist ein Potemkinsches Dorf. Sie hat dem reaktionären Alltag nichts genommen.
Ich habe damals die schnellen Karrieren junger Kollegen bewundert: Matthias Hartmann steigt von Bochum über Zürich nach Wien auf, Armin Petras eilt von Nordhausen über Kassel nach Frankfurt und Berlin. Ich habe lange geglaubt, Leistung zahle sich aus. Ich habe unterschätzt, wie wichtig Networking am Theater ist, gerade auch hinsichtlich der Findungskommissionen. Wie wichtig es ist, sich mit den Funktionären gut zu stellen, die darüber bestimmen, wer wo Intendant wird in der Republik. Und ich hatte all die Geschichten über die Verlierer verdrängt: Erinnern Sie sich noch an Jürgen Flügge, Intendant am Staatstheater Braunschweig (1993-1995)? Nie mehr hat er ein eigenes Haus bekommen. An Burkhard Mauer, einst Intendant in Nürnberg (1986-1991) – der landete in Neuss. Er soll dort glücklich gewesen sein.
Ich hatte das Fürchten gelernt. Ich musste raus aus dieser Szene.Weg vom Theater. Ich hatte doch etwas Anständiges gelernt. Als Rechtsprofessor kann man Kohle machen. Ich hatte mich bereits entschieden, da rief mich ein Schauspieler an. Konstanz sei frei.
Konstanz am Ende der Welt? Konstanz am See? Dort, wo sie Jan Hus verbrannt und Hans Hilpert 1949 in den Irrsinn getrieben hatten? Ulrich Khuon war in Konstanz als Intendant gestartet und Gert Voss als Schauspieler. Läge dort das Glück? Noch einmal schwach werden am See – an der Schweizer Grenze, wo die Konten liegen? Am Ende der Republik, eigentlich schon in der Schweiz, leben altmodische Menschen, die bestimmen noch im Stadtrat mit Mehrheit, wen sie am Theater als Direktor haben wollen. Ich wurde mit einer Stimme Mehrheit gewählt und zweimal verlängert, einmal einstimmig.
Die erste Kaffeemaschine seit 1606
Hier ist man als Direktor Generalist. Ich kümmere mich um die Abenddienste der Hausmeister, die Anschaffung der neuen Stühle in der Werkstatt, den EC-Kartenautomaten an der Kasse. Es gibt keine Lagerstätten und keine Kantine, man schließt abends selber die Tür ab. Manchmal inszeniere ich, Stücke wie den „Glöckner vonNotreDame“, Geschichten über das große Unrecht.
Ich habe die erste Kaffeemaschine seit 1606 anschaffen lassen, vor sieben Jahren, ein motorisiertes Dreirad gekauft und die erste Bühnenhandwerkerin eingestellt. Hier ist es wie „68“: Das Theatererbe ist baulich völlig vernachlässigt, das Haus unterfinanziert, die Trennung von Hand und Kopfarbeit aufgehoben. Die Gehälter sind eine Zumutung. Minister kommen nie hierher, auch Oberbürgermeister halten sich fern, seien sie schwarz oder grün.
Aber die alte Regiegarde aus Kassel inszeniert im kleinen Stadttheater Konstanz: Wolfram Mehring und Horst Hawemann, Martin Nimz und Rosamund Gilmore. Sie sind unbezahlbar. Sie machen das aus Freundschaft. Es kommen Afrikaner und Iraker, Griechen und Portugiesen, Schauspieler und Autoren wie Neil LaBute an den Bodensee, arbeiten und spielen mit uns. Das Haus pflegt internationale Kontakte von Kuba bis Burundi. Auch sonst ist es hier wie im Osten: Dort war man es gewohnt, dass die kreativsten und aufsässigsten Künstler in die Provinz verbannt wurden. Der junge Frank Castorf hatte seine größten Erfolge in Anklam und Christoph Schroth in Schwerin.
Ästhetisch können wir hier machen, was wir wollen. Das Publikum liebt uns. Nur die Reichen nicht, aber die gehen sowieso nicht ins Theater. Wir haben über 100 000 Zuschauer. Was kümmert uns da Zürich oder Berlin oder gar der Deutsche Bühnenverein?
Manchmal träumen wir noch von der Großstadt, aber dann hören wir zum Beispiel, dass der große Intendant Friedrich „Friedel“ Schirmer vom Schauspielhaus Hamburg wieder ans Theater Esslingen geht und Dominique Mentha glücklich ist, von Wien nach Luzern gegangen zu sein, dann sind wir uns hier sicher: Bald gibt es ein „deutsches Theatertreffen am Bodensee“, und dagegen ist das Berliner Theatertreffen dann tiefe Provinz.[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]
Lieber Herr Nix,
falls neue Geschichten von Herrn K. interessieren:
Bei den Parkschützern in Stuttgart sind immer wieder welche von Ben Capulcuyun zu finden, z.B.
http://www.parkschuetzer.de/statements/174652
Herr K. und der schlimmste Fall
„Es fehlen aber noch viele Genehmigungen,“ sagten die Leute.
„Ja, das stimmt,“ antwortete Herr K. „im schlimmsten Fall wird es noch eine ganze Weile dauern, bis alle Genehmigungen erteilt sein werden.“
„Oh nein!“ sagten die Leute, „das wäre wirklich der schlimmste Fall, wenn alle Genehmigungen erteilt werden würden.“
II
„Das Projekt wird immer teurer,“ sagten die Leute.
„Ja, das stimmt,“ antwortete Herr K. „im schlimmsten Fall können die Kosten nicht mehr aufgebracht werden.“
„Oh nein!“ sagten die Leute, „der schlimmste Fall wäre es, wenn die steigenden Kosten aufgebracht werden könnten.“
Das sind die Texte, wegen denen ich so gerne bei seemoz hereinschaue. Nix ist einfach ein Tausendsassa, voller Fabulierfreude und gezielt eingesetzter Bissigkeit. Wo Nix ist, ist eben keine Provinz. Die fängt bekanntlich im eigenen Kopf an. Nordhausen kenne ich ein wenig. Das ist ein Fundament, um auch Konstanz zu überleben. Das ist wie bei Hans im Schnookeloch: Man hat ein lebendiges Theater, träumt aber vom Konzerthaus. Zum Glück gibt es da noch Herrn Keuner . . .
Las den Artikel im ICE kurz hinter Stendal auf der Rückreise nach 2 Wochen in der Mark Brandenburg. Dort viel gewandert, viel Franz Fühmann gelesen. Und so dachte ich nach einem ersten Schmunzeln über den besagten Artikel („Wer’s braucht, soll’s tun?), daß es vielleicht doch charmanter wäre, als sich in einem narzißtisch – euphorisch, tendenziell rechthaberischen Schub über seine dienstliche Autobiographie auszulassen, folgende Sätze Fühmanns beim nächsten Schub zumindest in Erwägung zu ziehen:
„Eine Biographie markiert keine vollzogenen Wegstrecken von dort nach hier, sie ist auf Wiederholung angelegt, führt die gleichen Fragen öfter in neuer Beleuchtung vor: sie ist ähnlich einer Art Drehscheibe auf einem Bahnhof. (…) Entscheidende Knotenpunkte des Lebens, Punkte einer möglichen Wandlung, auch einer möglichen Nichtwandlung, und die Summe der Wegstücke zwischen solchen offenen Punkten ist die Biographie. (..) Mit Bulgakow: Gib Rechenschaft auch fürs Ungeschriebene!“
Ach, und der Herr Keuner sprach auch noch:
„Wer A sagt, muß nicht B sagen. Er kann auch erkennen, daß A falsch war!“
By the way: ist jetzt A Kassel und B Konstanz, oder B Nordhausen und A Köln oder B gar Bremen und A Gießen.
Egal, immer feste ins Horn geschmettert: viel Feind, viel Ehr‘.
Herzlichst C. L.
….vielleicht doch etwas Wasser in den (zu?) süssen Wein:
„Theater ist ja generell nicht innovativ, schon wegen des Apparats.
Man kann in der Lyrik sprachlich innovativer sein als im Drama.
Theater muss in der Nähe von Gemeinplätzen bleiben, damit es ankommt.“
Das sagt einer, der sich bemüht hat, nun wirklich „anders“ Theater zu machen.
Wohltuend selbstkritisch, wie ich finde…..
Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht, S. 205
Lieber Peter Köhler,
vielleicht ist das komisch so zu antworten, aber es ist der schönste Text, den ich je gelesen habe und von BB gar nicht kannte zu meiner eigenen Geschichte. Ich bin Ihnen sehr dankbar.
Danke, dass Sie das wiederveröffentlicht haben, der Text ist überraschend und interessant.
„…In der Stadt A … liebt man mich; aber in der Stadt B war man zu mir freundlich. In der Stadt A machte man sich mir nützlich; aber in der Stadt B brauchte man mich. In der Stadt A bat man mich an den Tisch, aber in der Stadt B bat man mich in die Küche.“ (Brecht, Geschichten von Herrn Keuner)