Wie irrational ist Gregor Gysi?
Bisher war Konsens zwischen allen Parteien in Deutschland: keine Waffenlieferungen in Krisengebiete. Nun neigt die Bundesregierung mehr – so Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, CDU – oder weniger – Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Vizekanzler Sigmar Gabriel, beide SPD – dazu, mit diesem Grundsatz zu brechen: Deutschland soll (den Kurden) Waffen liefern
Eine Neigung der Regierung, die in deren Parteien Streit und Widerstand auslöst: Ralf Stegner, Vize-Vorsitzender der SPD, ebenso wie der CDU-Politiker Norbert Röttgen, Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses, lehnen solche Lieferungen strikt ab. Vor diesem Hintergrund gelang Gregor Gysi, Vorsitzender der Linke-Bundestagsfraktion, bereits vor gut einer Woche ein Überraschungs-Coup: Das gehe so nicht weiter mit dem IS-Terror, verlautbarte er via Medien-Interview, auch Deutschland müsse sich überlegen, Waffen in den Nordirak zu liefern. Was war in Gregor Gysi gefahren?
Es ist seine Partei, die sich mehr als jede andere in Deutschland bemüht, als die Friedenspartei dazustehen. Ihre Beschlusslage ist unüberbietbar eindeutig: Sie ist nicht nur strikt gegen den Export von Rüstungsgütern und sowieso gegen Waffenlieferungen in Krisengebiete. Im Programm der Partei wird „das sofortige Ende aller Kampfeinsätze der Bundeswehr“ gefordert, wozu auch alle UN-mandatierten Einsätze gehören. Und: Die Partei werde „in jeder politischen Konstellation dafür eintreten, dass Deutschland aus den militärischen Strukturen des Militär-Bündnisses austritt und die Bundeswehr dem Oberkommando der Nato entzogen wird“.
Wird unterstellt, Gregor Gysi kennt die Beschlusslage, bleibt die verwunderte Frage: Was treibt diesen Mann, der versucht, mit dem Pressluftbohrer eines der entscheidenden Alleinstellungsmerkmale seiner Partei zu zertrümmern? Das haben sich offensichtlich auch alle seine Parteifreunde gedacht – mit Betonung auf: alle -, denn niemand stand ihm bei, alle kritisierten ihn: nicht nur Parteilinke wie Sarah Wagenknecht, auch Pragmatiker wie Dietmar Bartsch, beide Vize-Vorsitzende der Bundestagsfraktion, aber auch weithin angesehene Fachpolitiker der Bundestagsfraktion wie der Außenpolitiker Jan van Aken.
Was auf den ersten Blick so unüberlegt daher kommt, birgt jedoch einen rationalen Kern in sich: Denn wenn es ein Hindernis noch gibt, das einer Bundesregierung von SPD, Grünen und Linkspartei entgegensteht, dann sind das die rigorosen friedenspolitischen Positionen der Linkspartei. Es wird keine Bundesregierung geben, welche die Rüstungsexporte auf Null setzt und vor allem keine, deren Ziel ist, sich aus dem Nato-Oberkommando zu verabschieden. Gregor Gysi, 66 Jahre alt, wird vermutlich bei der Bundestagswahl 2017 nicht mehr antreten. So sieht er es wohl als seine (letzte) Aufgabe an, inhaltlich den Boden für eine rot-rot-grüne Option im Bund zu bereiten. Und nützt deshalb jede Gelegenheit, um die momentane Positionierung seiner eigenen Partei zu untergraben – als die Fernsehbilder über das Morden der IS-Truppen an wehrlosen Zivilisten immer unerträglicher wurde, sah er wohl einen solchen Moment gekommen.
Jedoch: Auch die Rationalität von Gregor Gysi birgt wiederum Irrationales in sich. Denn diese rot-rot-grüne Option wird es nur geben, wenn auch „Die Linke“ bei der Wahl gut abschneidet. Und das wird sie nur, wenn sie auch das politische Pfund der letzten wahrhaften Friedenspartei Deutschlands in die Waagschale werfen kann; ein Alleinstellungsmerkmal, das ihr vermutlich nur deshalb geblieben ist, weil sie im Bund noch nie mit-regieren konnte. So ist nicht auszuschließen, dass das Nein der Partei zu dem Vorstoß ihres Fraktionsvorsitzenden auch deshalb so einhellig ausfiel, weil in den kommenden Wochen in insgesamt drei ostdeutschen Bundesländern die Landtage neu gewählt werden.
Die aktuelle Debattenlage sieht so aus: Die Regierungsparteien streiten öffentlich über mögliche Waffenlieferungen in den Nord-Irak. Und die Partei „Die Linke“ schweigt seit Tagen – als sei Gysi aufgrund seiner Isolation und die Partei aufgrund Gysis Vorstoß jeweils vor Entsetzen verstummt. Gegen die Zwickmühle, die Gysi offenbarte, helfen allerdings weder Schweigen noch Augenzuhalten.
Autor: Wolfgang Storz/woz.ch
…ob es nun ein „ausrutscher“ oder ein versuchsballon war:
die diskussion weist darauf hin, dass auch eine linke, ob nun mit gänsefüsschen oder ohne, sich der frage, wie man sich aggressivem unrecht und terror gegenüber verhält, nicht mit einem vereinfachenden „nie wieder krieg“ entziehen kann.
sich auf den radikal-pazifistischen standpunkt zurückzuziehen, mag als individuelle entscheidung eine moralisch sehr hoch angesiedelte sein.
ob sie das auch bleibt, wenn man angesichts von gewalt und unrecht anderen gegenüber sich entscheidet, nichts zu tun, ist mehr als fraglich.
apropos „nie wieder krieg!“.
immer wieder wird der fast schon sakral gehandelte schwur von buchenwald als moralisches „backup“ dafür angeführt:
mit wenigen clicks hat man diesen als originalmanuskript.
darin steht was von ausdrücklichem dank an die soldaten der allierten befreiungsarmeen, und ebensolcher dank an einen amerikanischen präsidenten (!), der den krieg gegen die nazis auch „seiner“ bevölkerung gegenüber durchgesetzt hatte.
von „nie wiede krieg“ steht da nichts.
„nie wieder krieg!“ war vielmehr die parole der pazifisten nach dem eindruck des 1. weltkriegs.
viele von denen wie ein ossiezky, tucholsky…..hatte nicht mehr die zeit oder kraft, sich angesichts des desasters dieses standpunkts gegenüber dem nazi-terror anders zu positionieren.
sicher gibt es keinen „gerechten krieg“, aber es gibt terror und unterdrückung (die sich nach aussen durchaus als „frieden“ präsentieren können), gegen die gegenwehr, und wenn es sein muss, auch ein krieg gerechtfertigt sein kann.
auch wenn es einen selber (noch) nicht trifft…….
Liebe(r) HeLe,
inzwischen dagegen. Seine Aussage pro Waffenlieferung kam meiner bescheidenen Einschätzung nach in erster Linie unter dem Eindruck der barbarischen Gewalttaten des IS zustande.
Wer sich für die Lage im Krisengebiet und den Kampf der verschiedenen kurdischen Kräfte interessiert, empfehle ich dieses aktuelle, sehr fundierte und informative Interview mit Ulla Jelpke, die die Region vom 4. bis 21. August bereiste: http://www.heise.de/tp/artikel/42/42612/1.html
Liebe Anke Schwede,
ist Gysi nun für oder gegen (deutsche) Waffenlieferungen in den Irak?
Kleines update: Die Linke schweigt mitnichten seit Tagen und ist nach meiner Einschätzung auch keineswegs „vor Entsetzen verstummt“. Siehe u. a. hier:
http://www.jan-van-aken.de/
http://linksfraktion.de/kolumne/waffen-fehlen-irak-nicht/
http://www.aufschrei-waffenhandel.de/Die-Linke.232.0.html
Außerdem sprach sich Gysi unlängst nach seinem „unglücklichen“ Interview am 11.08. im RBB in diversen Medien klar gegen deutsche Waffenlieferungen in den Irak aus und plädiert für die Lieferung humanitärer Hilfsgüter und die Aufnahme von mehr Flüchtlingen aus der Krisenregion. In dieser Pressemitteilung tritt er für ein gesetzliches Waffenverbot ein:
http://www.linksfraktion.de/pressemitteilungen/gesetzliches-verbot-waffenexporte-beschliessen/