Eine lange Geschichte von Flucht und Vertreibung

seemoz-SteinstraßeAuf der Spurensuche durch deutsche Flüchtlingslager wird klar: Die Nachfahren der Opfer des Völkermordes an den Sinti und Roma leben mitten unter uns. In unwürdigen Verhältnissen, von Behörden diskriminiert, von der Politik als „Armutsflüchtlinge“ verunglimpft und ständig von Abschiebung bedroht. Die Polizei dringt nachts in ihre Zimmer ein und holt sie ab. Das ist alltägliche Realität für die Kinder, Enkel und Urenkel der NS-Opfer. Von dem Skandal nimmt die Öffentlichkeit kaum Kenntnis

Über den Völkermord an den europäischen Sinti und Roma durch die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie sind kaum Zeitzeugenberichte niedergeschrieben. Eine Forschung dazu ist bis heute lückenhaft. Das Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma geht von 500 000 Opfern des Völkermordes an Sinti und Roma in Europa aus. Auf dem Staatsgebiet des ehemaligen Jugoslawien waren es Zehntausende.

Die Nazis kamen in der Nacht

„Sie kamen mitten in der Nacht. Ich erinnere mich an furchtbare Angst und dass ich weinte. Die Uniformierten schrien etwas auf Deutsch“, erinnert sich Alisa Alisanovic. Sie sitzt an einem kleinen Tisch im Zimmer eines Flüchtlingslagers in Konstanz. In diesem Zimmer wohnen fünf Menschen aus drei Generationen der Roma-Familie. Die 76-jährige berichtet von der Festnahme und Deportation ihres Vaters. „1941, irgendwann im Herbst“, so die damals fünfjährige Alisa. Viele Roma wurden von den Deutschen und ihren bulgarischen Kollaborateuren in diesen Wochen aus ihrer Heimatstadt Prokuplje im Süden Serbiens verschleppt und in Konzentrationslager oder zur Zwangsarbeit deportiert. „Geschlagen, gefoltert, ermordet, weil wir Roma waren“, so die Oma der Flüchtlings-Familie.

Nach Deutschland geflohen ist sie mit ihrem Sohn Zoran, der Schwiegertochter und zwei Enkeln im September 2012, nachdem ihr Haus in der südserbischen Industriestadt Niš mehrfach von serbischen Neonazis belagert und mit Flaschen und Steinen angegriffen worden war. Gegen den 1993 geborenen Enkel Sebastian hatten die Neonazis mehrfach Morddrohungen ausgesprochen.

Ihr Vater Sukrija Alisanovic ist 1914 geboren und war in zweiter Generation Seilmacher. Die 1937 geborene Alisa war das mittlere von drei Kindern der Familie. Sie führten ein bescheidenes, aber gutes Leben, erzählt sie. Neben der Werkstatt des Vaters bot das Haus drei Zimmer für die Familie. Bis die deutschen Besatzer kamen und in ihrem Rassenwahn die arbeitsfähigen Männer aus den „Zigeuner“-Familien rissen.

Alicas Mutter machte sich nach der nächtlichen Abholung im Herbst 1941 auf die Suche nach ihrem Mann und fand ihn mit geschwollenem und blutverkrusteten Gesicht auf einer Wache in Prokuplje. Zwei Tage brachte sie ihm Essen dort hin. Dann wurde er ins Konzentrationlager „Crveni krst“ nach Niš gebracht. „Crveni krst“ heißt auf Deutsch „Rotes Kreuz“ und ist nach dem gleichnamigen Stadtteil im Nordwesten der Stadt benannt. Dort war auch der Bruder der Mutter inhaftiert. Diese floh mit den drei Kindern vor den Schikannen und Übergriffen der Besatzer aus ihrem Haus in der Kleinstadt Prokuplje aufs Land. Dort kamen sie bis Kriegsende bei anderen Roma-Familien unter.

Wie sein Großvater hatte sich Alisas Alisanovics Sohn Zoran Jusufovic in Niš eine kleine Existenz aufgebaut. Bis zur Flucht war er selbständiger Fliesenleger, und das Haus, in dem die Familie von serbischen Neonazis angegriffen wurde, gehört der Familie. Unter Tito sei es allen Roma gut gegangen, so Vater Zoran Jusufovic. Niemand sei verfolgt worden. Alle hätten friedlich zusammen gelebt und gearbeitet, erinnert sich der heute 44-jährige.

Morddrohungen gegen Kinder

Dass sie im Sommer 2012 aus ihrem Heim fliehen mussten, hat eine Vorgeschichte, die bis ins Jahr 2004 zurückreicht. Am Nachmittag des 1. Mai 2004 ging Frau Esma mit ihrem 11-jährigen Sebastian durch die Innenstadt der 250 000-Einwohner-Stadt Nis. Dort war eine Versammlung von Neonazis. Plötzlich lösten sich einige junge Männer aus der Kundgebung und beschimpften die Frau und das Kind als „Zigeuner“ und begannen, auf sie einzuschlagen und zu treten. Die Mutter warf sich schützend über den Jungen. Doch die Neonazis traten immer wieder unter den Leib der Mutter und trafen mit ihren Stiefeln den Kopf des Kindes. Schwerverletzt kam der 11-jährige ins Krankenhaus.

Die Mutter hat sich von diesem Trauma nie erholt. Der Fall ging landesweit durch die Presse und die Täter wurden festgenommen und zu Haftstrafen verurteilt. Als Mitschüler aus der Nazi-Szene 2012 den Jungen in einer Schule wieder erkannten, ging der Terror erst richtig los. Morddrohungen, Belagerungen und Angriffe auf das Haus der Familie waren die Folge. Vater Zoran war mehrfach bei der Polizei und beim Bürgermeister. Doch diesmal wollte keiner die Roma-Familie schützen. Als in einer Nacht mehr und mehr Steine und Flaschen gegen die Rolläden der Fenster, Türen und die Wand des Hauses flogen, entschloss sich die Familie, mit Oma Alisa Alisanovic Hals über Kopf nach Deutschland zu fliehen. Sie stellten in der zentralen Aufnahmestelle in Karlsruhe einen Asylantrag.

Nach der Besetzung Serbiens durch deutsche Truppen im April 1941 wurde das Konzentrationslager „Crveni krst“ eingerichtet, um dort ab Herbst 1941 Kriegsgefangenen, Geiseln, Juden, Roma, Partisanen und Menschen, die in Verdacht standen, mit Partisanen zu kooperieren, zu inhaftieren. Im Frühjahr 1942 flohen 174 kommunistisch organisierte Partisanen aus dem Lager. 105 überlebten die Flucht. Zur Vergeltung erschossen SS- und Polizeieinheiten auf dem Hügel Bunbanj rund 850 Häftlinge. Darunter waren alle jüdischen Männer des Lagers sowie sehr viele Roma. Einer von ihnen war Avdi Makic, der Bruder der Mutter von Alisa Alisanovic. Auf dem Hügel wurden zwischen 1941 und 1944 insgesamt mindestens 2000 Häftlinge erschossen. Vor allem Juden und Roma. Auf dem Erschießungshügel steht heute ein modernes Mahnmal mit drei steinernen Fäusten, die sich in den Himmel recken. Das Lager durchliefen rund 30.000 Häftlinge.

Vater Alisanovic überlebte und erzählte später, dass er immer bemüht war, gesund und kräftig zu wirken. Schwache und Kranke, die nicht zur Zwangsarbeit eingesetzt werden konnten, wurden erschossen oder erschlagen. Die Versorgung war außerordentlich schlecht, und die Arbeit sei hart gewesen. Er war zur Zwangsarbeit in einer Fabrik zur Herstellung von Munitionsteilen und Eisenbahnschienen eingesetzt. Sukrija Alisanovic starb mit 84 Jahren im serbischen Prokuplje. Eine Entschädigung für Haft oder Zwangsarbeit hat er nie erhalten.

Flüchtling in Konstanz im Jahr 2014

Doch diese Familiengeschichte ist in deutschen Flüchtlingslagern kein Einzelfall. Bereits im Zimmer nebenan lebt eine fünfköpfige Familie im Konstanzer Lager aus einem Dorf an der serbischen Grenze zum Kosovo. Der Großvater wurde ins Lager Leskovac südlich von Niš deportiert. Aus dem Lager wurden Gefangene als Vergeltung für Partisanenaktionen erschossen. Leskovac steht auch für ein Massaker durch eine SS-Fallschirmjägerdivision im Herbst 1943, bei dem an einem einzigen Tag 320 Roma zusammengetrieben und erschossen wurden. Bereits ab April 1941 mussten sich die Roma in Serbien registrieren lassen und gelbe Armbinden mit der Aufschrift „Zigeuner“ tragen.

Fast jeder Flüchtling aus den Balkan-Staaten hat unmittelbare Vorfahren und Angehörige durch die Verfolgung der europäischen Sinti und Roma verloren. Belastbare Zahlen gibt es hierfür nicht. Auf Anfrage nennt Soran Janjetovic, Historiker im Belgrader Institut für neuere Geschichte Serbiens, als wesentlichen Grund dafür, dass es keine Erhebungen über die Opfer der Roma gegeben hat. Anders als bei jüdischen Opfern gab es keine Organisationen, welche den Völkermord dokumentiert und aufgearbeitet hätten. Es gibt zwar ein überliefertes Wissen in den einzelnen Roma-Familien, aber kaum wissenschaftliche Arbeiten dazu. Bis heute sei das Interesse an einer Aufarbeitung und Erhebung der Opferzahlen und Schicksale eher gering, so der Belgrader Historiker.

Daher beruhen alle Opferzahlen des Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa auf Schätzungen. Gemäß Angaben des Deutschen Historischen Museums wurden allein im kroatischen Konzentrationslager Jasenovac 10.000 bis 40.000 Roma umgebracht. Insgesamt muss man von mehreren Zehntausenden Opfern, schätzungsweise zwischen 60.000 und 90.000 im Bereich der Staaten des ehemaligen Jugoslawiens ausgehen. In den klassischen Fluchtländern Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo Leben heute mit rund 250.000 ein Großteil der Roma in den Staaten des ehemaligen Jugoslawies. Es gibt also fast ausnahmslos in jeder dieser Familien Angehörige, die dem Völkermord zum Opfer fielen oder wie Sukrija Alisanovic Haft und Zwangsarbeit überlebt haben.

Alisa Alisanovic streicht in wilden Bewegungen ein amtliches Schreiben glatt. Sie hat Parkinson. Ihr Asylantrag in Deutschland wurde als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Die Tochter des NS-Opfers, wieder auf der Flucht vor Neonazis, findet im Land des rechtlichen Nachfolgers der Schergen ihrer Kindheit kein Asyl vor antiziganistischen Angriffen.

Das klingt und ist empörend, handelt sich aber nicht um einen Einzelfall, sondern fast ausnahmslos um die Regel bei Roma-Flüchtlingen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien.

Willkür und Ignoranz der deutschen Behörden

Deutsche Asylpolitik lebt auch im grünroten Baden-Württemberg fast widerstandslos mit derlei Widersprüchen. Nicht wenige der Asylsuchenden werden aufgrund ihrer Fluchtgründe beispielsweise im Zentrum für Psychiatrie wegen posttraumtischer Störungen behandelt. Eindeutige Diagnosen werden von den Fachärzten gestellt, begründet und dienen als Grundlage zur Therapie oder in Einzelfällen gar zur stationären Aufnahme. Einfluss auf das Asylverfahren haben solche Erkenntnisse kaum. Häufig kommen diese erst als Argumente für die Vorlage beim Petitionsausschuss des Landes oder der Härtefallkommission nach Ablehnung des Asylantrages zur Sprache. In den nur wenigsten Fällen mit Erfolg. Jeder Rechtsanwalt und jede Rechtsanwältin, die Asylsuchende in den Verfahren betreut, hat von einer ganzen Reihe hanebüchener Beispiele von Willkür, Ignoranz und nicht nachvollziehbarer Entscheidungen zu erzählen.

Die Flüchtlinge haben ohne rechtlichen Beistand keine Chance, Post in ihren Asylverfahren zu verstehen, Widersprüche juristisch korrekt zu stellen oder Fristen zu wahren. Dennoch werden die meisten Anträge auf Prozesskostenhilfe mit dem Hinweis abgelehnt, dass ein Asylerfahren keine Aussicht auf Erfolg haben werde. Fast alle Flüchtlinge lassen sich aber rechtlich vertreten und sparen sich den rechtlichen Beistand aus den Mitteln ihrer Grundversorgung praktisch vom Munde ab.

Die Anhörung im Asylverfahren wird auf dem Gelände der Erstaufnahmeeinrichtungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, den so genannten „Entscheidern“, durchgeführt. Aufgrund dieser Anhörung werden Flucht- und Asylgründe im Einzelfall beurteilt oder in etwa einem Drittel aller Fälle, wie bei Alisa Alisanovic, gleich als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Die Fluchtgründe im jeweiligen Einzelfall werden dann nicht berücksichtigt. Die Asylanträge von Roma-Flüchtlingen aus den Staaten des ehemaligen Jugoslawien werden heute schon in aller Regel als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt. Wer wann von welcher Behörde diskriminiert oder von welchem Neonazi verfolgt oder halb totgeschlagen wurde, hat dann auf das Asylverfahren keinen Einfluss mehr. Lehnt das Bundesamt einen Asylantrag ab, kann der Flüchtling vor dem Verwaltungsgericht dagegen klagen.

Keine Spur von Willkommenskultur

Die „Entscheider“ in der Anhörung im Asylverfahren wurden lange aus dem Kreis ehemaligen Beamten des Bundesgrenzschutzes rekrutiert. Die Geflüchteten stellen ihre Asylanträge in den zentralen Aufnahmeeinrichtungen. Ein Augenzeugenbericht einer ehrenamtlichen Helferin aus der Einrichtung in Karlsruhe gibt einen Eindruck des Klimas in der Behörde: „Der Herr saß am Empfang, lautstark schreiend und in einer demütigen Weise abwertend und abweisend den Menschen aus Serbien und Mazedonien gegenüber und weigerte sich, diese einzulassen. Sie hätten kein Recht, in Deutschland Asyl zu beantragen“. Was hier deutlich zum Ausdruck kommt, setzt sich nach vielfachen Berichten der Flüchtlinge und ihrer Helferinnen und Helfer häufig in den Behörden in Deutschland fort. Von „Willkommenskultur“ oder Grundrecht auf Asyl also keine Spur und kein Bewusstsein.

Tatsächlich wird im Asylverfahren für Flüchtlinge aus Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina bereits so entschieden, als handele es sich um so genannte „sichere Herkunftsländer“. Stichwort: „offensichtlich unbegründet“. Nun will die Bundesregierung die Abschaffung des Asylrechts für die Roma aus diesen Ländern in ein neues Gesetz gießen.

Annette Groth: Roma haben Recht auf faires Asylverfahren
Noch gut in Erinnerung dürfte den meisten die Abschiebung einer Roma-Familie im Mai aus der Konstanzer Flüchtlingsunterkunft in der Steinstraße sein. Geht es nach dem Willen der Bundesregierung, sollen solche Akte der Inhumanität in Zukunft noch zügiger vonstatten gehen. Sie plant, per Gesetz Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien als „sichere Herkunftsstaaten“ einzustufen. Das würde es den Behörden erheblich erleichtern, Roma, die vor Diskriminierung und Not aus diesen Ländern in die Bundesrepublik geflüchtet sind, aus dem Land zu werfen. Am 19. September muss das Gesetz noch die Hürde des Bundesrats nehmen. Annette Groth, Bundestagsabgeordnete aus dem Bodenseekreis und menschenrechtspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion DIE LINKE, hat aus Anlass der Beratungen des „Gesetzes zur Einstufung von Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien als sichere Herkunftsstaaten“ in einem Brief an Ministerpräsident Kretschmann appelliert, die Zustimmung Baden-Württembergs zu diesem Gesetz zu verweigern.

Der Vorsitzende des Zentralrates Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, lehnt diese Form der Asylrechtsverschärfung deutlich ab. Es werde insbesondere der Situation der Roma in den betreffenden Ländern nicht gerecht, erklärt Romani Rose, denn alle einschlägigen Berichte des Europarates und anderer unabhängiger Organisationen belegen, dass Roma zunehmend diskriminiert und ausgegrenzt werden.

Mehr noch, durch die jetzt vorgenommenen Asylrechtsverschärfungen würden Roma nochmals auf neue Weise ins Zentrum von Rassismus und Diskriminierung gestellt, und zwar sowohl in Deutschland wie in den Herkunftsländern. In den Herkunftsländern würde die Reisefreiheit von Roma inzwischen massiv eingeschränkt, in Mazedonien gebe es bereits eine Gesetzesänderung, die Asylantragstellung in anderen Ländern unter Strafe stelle, während in Deutschland Roma pauschal als sogenannte „Armutsflüchtlingen“ und „Scheinasylanten“ stigmatisiert würden, so Rose.

Besonders besorgt ist der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma darüber, dass jetzt erneut die Roma-Minderheit stellvertretend und pauschal als Begründung für die Asylrechtsverschärfung herhalten müsse. Auf der einen Seite werde die konkrete Lage von Roma in den Herkunftsländern ignoriert, auf der anderen Seite würden Roma, die auf der Flucht vor Diskriminierung und Rassismus sind, in Deutschland als „Scheinasylanten“ zur Verschärfung des Asylrechts missbraucht.

Was ist der Grund für die Armut?

Tatsächlich stellt sich bei Roma, die aus bitterer Armut in den reichen Teil Europas fliehen, die Frage: Ist Armut die Ursache der Flucht oder lediglich Symptom der Diskriminierung? Über Generationen werden Roma stigmatisier, verfolgt und beispielsweise von Bildung und Arbeit ausgegrenzt und an die Ränder der Städte und Gesellschaft verbannt. Armut ist also nur Ausdruck und logische Folge all dieser Flucht- und Asylgründe.

Seit dem 20. Mai 2014 leben die Flüchtlingsfamilien in der Konstanzer Unterkunft in Angst (s. Archivfoto von einer Demonstration in der Konstanzer Steinstraße). Rund zwei Dutzend Polizeibeamte umstellten kurz nach 2 Uhr nachts das Lager. Sie brachen das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, drangen in das private Zimmer der Familie Osmanov ein und rissen Eltern und vier Mädchen im Alter zwischen 7 und 13 Jahren aus dem Schlaf. Die Kinder wurden zum Teil in Deutschland eingeschult und waren in Schule und beispielsweise einem Theaterprojekt integriert. Dennoch wurde die Familie „bei Nacht und Nebel“ abgeholt und ohne Vorankündigung nach Mazedonien abgeschoben. Die Kinder hatten nicht einmal die Möglichkeit, sich von ihren Freunden in der Schule zu verabschieden. Auch dies ist kein empörender Einzelfall, sondern Alltag in deutschen Flüchtlingslagern.

Alisa Alisanovic erinnern die nächtlichen Polizeiaktionen unwillkürlich an ihr Kindheitstrauma mit der Deportation ihres Vaters. Ihre Schwiegertochter ist durch den Angriff der Neonazis auf ihr Kind und sie selbst in gleicher Weise traumatisiert und deswegen in Behandlung. Der damals schwerverletze Sohn Sebastian erhält über Facebook wieder Post der serbischen Neonazis. Er zeigt einen Ausdruck mit der Nachricht: „Wir wissen, dass du derzeit nicht in Nis bist, falls du aber zurück kommst, machen wir dich kalt“. Die Neonazis werfen dem damals elfjährigen Opfer vor, einen ihrer Gefolgsleute ins Gefängnis gebracht zu haben. Vater Zoran Jusufovic zeigt einen serbiscchen Zeitungsartikel dazu, indem steht, dass ein Zeuge eines Prozesses gegen die Neonazi-Gruppe umgebracht wurde. „Das sind die gleichen Leute“, ergänzt er. Die Familie will auf keinen Fall in ihr Haus nach Nis zurück.

Neue Abschiebungen drohen

Auf Einladung der VVN-BdA Kreisvereinigungen Ravensburg-Friedrichshafen und Konstanz-Singen waren Alisa Alisanovic, ihre Schwiegertochter Esma und die Enkelin Alisa Jusufovic Gäste auf der diesjährigen Gedenkveranstaltung zu Ehren der Toten des Überlinger Außenlagers des Konzentrationslagers Dachau auf dem KZ-Friedhof Birnau. Die vorwiegend italienischen Häftlinge sollten dort ab 1944 einen bombensicheren Stollen für die Friedrichshafener Rüstungsindustrie in den Fels treiben. Alisa Jusufovic spielte mit der Geige für die Verstorbenen. Auch ihr Großvater musste sich für die deutsche Kriegswirtschaft fast zu Tode schuften. Ihre Abschiebung ist in den nächsten Monaten wahrscheinlich.

Die Familie wird in der vierten Generation von Nazis und Neofaschisten gejagt und an Leib und Leben bedroht. Es handelt sich dabei um keinen Einzelfall. Es ist Zeit, diese Tatsache in die öffentliche Diskussion zu bringen und die Nachfahren dieser Opfergruppe des Nationalsozialismus in Deutschland würdig zu behandeln und willkommen zu heißen. Ein Bleiberecht für Roma aus Opferfamilien scheint das Mindeste, was der rechtliche und moralische Nachfolger Nazi-Deutschlands diesen Menschen schuldig ist.[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]

Autor: Jürgen Weber/www.juergenweber.eu