Merkels Herbst der falschen Gesten

Weil alle, die eigene Partei wie die anderen, die Öffentlichkeit wie die veröffentlichte Meinung, sie bedrängten, fing die Kanzlerin vor einigen Wochen mit dem Entscheiden an: das neue Energiekonzept, die Gesundheits-Reform, die neuen Hartz IV-Gesetze, das Bahnhofs-Projekt Stuttgart 21. Seit Angela Merkel entscheidet, ist endgültig klar, wie prekär es um sie und ihre Koalition bestellt ist. Denn es stellt sich heraus, dass dieser Regierung buchstäblich die Instinkte abhanden gekommen sind.

Die von Anfang an umstrittene Steuerbefreiung für Hoteliers, die inzwischen sogar den eigenen Leute peinlich ist, war offenkundig nicht der einmalige Fehltritt, sondern der erste von vielen. Bei jedem Thema entscheidet sich die Kanzlerin gegen klare Mehrheiten in der Bevölkerung, teilweise sogar gegen klare Mehrheiten bei der eigenen bürgerlichen Wähler-Klientel. Eine Kanzlerin entschlossen auf dem Weg in die Sackgasse.

Angela Merkel hatte sich in den vergangenen stürmischen Jahren der Großen Koalition fast schlafwandlerisch-sicher überparteilich positioniert und sich aus den anhaltend hohen Spitzenwerten bei Meinungsumfragen eine politisch kugelsichere Weste zugelegt. Zur Erinnerung: Nach einem krachend-schlechten Ergebnis bei der Bundestagswahl 2005, mit dem sie weit hinter allen Erwartungen zurückgeblieben ist, vermochte sie es trotzdem, sich als Kanzlerin gegen alle Männer-Konkurrenten innerhalb und außerhalb ihrer Partei, von Gerhard Schröder, SPD, bis Roland Koch, CDU, durchzusetzen und zu etablieren. Zwar hat sie mit ihrer eigenen Politik – unter anderem aufgrund der konsequenten Deregulierung der Finanzmärkte – die Finanzmarktkrise erst einmal sehr befördert, als diese jedoch da war, legte sie zusammen mit ihrem Finanzminister Peer Steinbrück, SPD, ein ebenso passables Krisenmanagement an den Tag; unter anderem immer in enger Abstimmung mit den Gewerkschaften.

Ihr Meisterstück: Nach vier Jahren Großer Koalition landete ihr Koalitionspartner SPD bei der letzten Bundestagswahl im vergangenen Herbst 2009 im Keller bei etwa 24 Prozent, während sie sich mit einem passablen Ergebnis für ihre Union als Kanzlerin in die seither regierende konservativ-liberale Wunschkoalition rettete. Nichts davon war souverän und elegant – aber von alleine kommt eine solche Leistung auch nicht.

Meisterin der Rücksichtnahmen

Angela Merkel verantwortete bisher eine Politik, die nie jemanden so richtig zufrieden stellte, große Mehrheiten jedoch irgendwie zustimmen ließen und die vor allem nie polarisierte. Sie besetzte jene imaginäre politische Mitte, von der keiner so genau weiß, wo sie ist, weil sie nicht nur mit realen Entscheidungen, sondern auch viel mit Rücksichtnahmen und Einbindungen, mit unberechenbaren, wechselnden Gefühlen und Stimmungen zu tun hat. Nun sieht es aus, als habe sie, mit dem politischen Leichnam FDP an ihrer Seite, buchstäblich die Orientierung verloren. Als verstehe sie die Welt nicht mehr.

Da gab es vor wenigen Wochen die Entscheidung über das neue Energiekonzept, das Merkel „weltweit beispielhaft“ nennt und in dem tatsächlich viel von erneuerbaren Energien und der Schaffung von intelligenten Netzen und vielen anderen guten Dingen die Rede ist. Nur: Vor allem steht übergroß der Deal mit den Atomkraft-Konzernen. Mit Konzernen, denen fast alle, bis tief in das bürgerlich-konservative Lager hinein, nur Schlechtes und zuallererst eine fragwürdige bis skrupellose Preispolitik zutrauen. Vor allem ist übergroß das freudige Gesicht von Jürgen Großmann, Vorstandsvorsitzender von RWE, einem der drei großen Energiekonzerne, zu sehen, der mit seinen Kollegen viel längere Laufzeiten für ihre gefährlichen AKWs einsacken, als sie je erwartet haben; und jedes Jahr länger ist verdammt viel Geld.

Der Fünf-Euro-Hohn

Es kam die Entscheidung über die Hartz IV-Gesetzgebung. Ursula von der Leyen, die Arbeits- und Sozialministerin, die bisher mit dem Reden über das Soziale und der einen oder anderen sozialen Geste auffiel, kann noch energischer strahlen und lächeln – die Fünf-Euro-Note macht ihr Lächeln eisig. Fünf Euro. Fünf Euro mehr sollen Hartz IV-Empfänger nach dem Willen der Bundesregierung erhalten; es war im Vorfeld von 20 oder 15 Euro die Rede gewesen. Aber fünf Euro … . Nach all dem, was während der Finanzmarkt-Krise passiert ist, nach all dem, was die Öffentlichkeit weiß über Boni-Zahlungen und Manager-Gehälter, gerinnt eine solche Fünf-Euro-Geste zwangsläufig zu Hohn und Demütigung; für diejenigen, die betroffen sind und diejenigen, die wenigstens ein bisschen mit den Betroffenen fühlen.

Es kam die Entscheidung über das Gesundheitssystem und mit ihr der langsame Einstieg in die Kopfpauschale. Die Arbeitgeber werden nach und nach aus der gemeinsamen Finanzierungs-Verantwortung entlassen, und die Verkäuferin zahlt bald so viel ein wie der Manager. Damit wird eine im Prinzip bewährte Finanzierung eines sehr leistungsfähiges Gesundheitssystems aufgekündigt; ungeachtet aller Notwendigkeiten, dieses System im kleinen wie im großen Detail zu verändern.

Und dann folgte noch das große Bekenntnis der Kanzlerin: „Die Landtagswahl wird die Befragung zu Stuttgart 21 sein.“ Das Vorhaben eines unterirdischen Bahnhofes, das in diesen Tagen Stuttgart und ganz Baden-Württemberg auf den Kopf stellt und inzwischen in unversöhnliche Hälften teilt.

Ihr bleibt unten“

Keine Frage: Im Prinzip sind das politische Entscheidungen, die zu dieser Regierung passen. Also: eher für die Kopfpauschale, eher für Atomenergie, eher für ein starres Festhalten an einmal gefassten Entscheidungen von Parlamenten. Aber: In der heutigen Stimmung, unter den heutigen Gegebenheiten in Deutschland ist eben eine Kopfpauschale zuviel, sind es eben einige Jahre Laufzeit zu viel, sind es einige Euros zu wenig und es ein Wort zuviel und zu scharf.

Wegen dieser letztlich kleinen Übertreibungen werden die Entscheidungen von Angela Merkel zu Symbolen, zu politischen Gesten, die weit über die eigentliche realpolitische Bedeutung der jeweiligen Entscheidungen hinausreichen. Die Kopfpauschale zeugt von dem alten Marktradikalismus der Kanzlerin, nach dem diejenigen, die wenig, und diejenigen, die sehr viel verdienen, gleichermaßen zur Kasse gebeten werden. Die fünf Euro sagen, wir lassen Euch dort, wo Ihr seid – ganz unten, abgehängt.

Die vielen Jahre Laufzeit-Verlängerung sagt, wir halten es mit den alten gefährlichen Energien und nicht mit der erneuerbaren Energiezukunft, was scheren mich Eure Ängste, die Atommeiler in Zeiten des Terrors und herumliegender nicht-entsorgter Atommüll verursachen. Und das scharfe respektlose Wort zu Stuttgart 21 sagt, demonstriert Ihr nur, das ist mir doch egal.

Mit all diesen Entscheidungen werden nicht die Linken provoziert. Die haben das nicht anders erwartet. Bei jeder dieser Entscheidungen stößt die regierende Union nennenswerte Teile ihrer Klientel, die sie mit der eigenen Modernisierungspolitik gewonnen hat, vor den Kopf. Die schrumpfende Gruppe der Handliner wird sich vielleicht freuen. Aber was will Merkel mit denen anfangen?

Die Wiederherstellung der Wagenburg

Die paar Jahre zuviel, die zu große echte Freude der AKW-Manager, der Polizei- und Kanzlerinnen-Einsatz gegen die eigenen Wähler, die paar Euro zuwenig, die bringen den Kern des Charakters dieser Regierung an den Tag. Jedes Mal der entscheidende Kick zuviel oder zuwenig. Entscheidungen kann man korrigieren. Politische Gesten nicht, sie brennen sich ein in das kollektive Gedächtnis.

Es sind keine Gesten des – von Merkels eigenem Lager eingeforderten – Konservativismus. Denn Konservativismus bedeutet unter anderem: das Bewährte bewahren, das Vorhandene nur behutsam ändern, die Schöpfung schützen, den Hilfsbedürftigen helfen. Es sind vielmehr Gesten einer Politik der Re-Ideologisierung und des Zerstörerischen: Zerstörung von Vertrauen, der Missachtung von Ängsten, dem Fehlen von Respekt. Untergegangen geglaubte Rituale werden wiederbelebt: viel Feind`viel Ehr`, alte Lagerbildung in einem neuen Fünf-Parteiensystem. Klammern wie ein angeschlagener Boxer. Angela Merkel fällt in diesem Herbst von einem Extrem ins andere: von der Abschaffung zur Wiederherstellung der Wagenburg. Der Segen des Papstes ist ihr sicher, der macht das auch so.

Nun bleibt die spannende Frage: Warum irrlichtert Angela Merkel? Es bieten sich mehrere Antwort-Versuche an. Die Widerstände gegen ihre Politik der gesellschaftlichen Modernisierung – enge Abstimmung in sozialen Fragen mit Gewerkschaften, die Gesellschaft in sexuellen und religiösen Fragen öffnen, keine Polarisierung gegen den Islam, eine verbal harte Linie gegen verantwortliche Finanzmarkt-Akteure – sind so stark geworden in den eigenen Reihen, dass sie sich zur Zeit nicht durchsetzen kann. Das wäre kein Novum: Sogar der im Nachhinein so stark wirkende Helmut Kohl konnte sich Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre nur sehr mühsam und manchmal gar nicht gegen die europaskeptischen Kreise in seiner Union durchsetzen.

Die zweite Variante: Merkel hat tatsächlich kein politisches Koordinatensystem, sondern sie moderiert eben die politischen Verhältnisse, in denen sie sich gerade befindet. Und entsprechend ist sie beispielsweise eben mal eher gegen und eher mal für Atomenergie, eher gegen oder eher für die Kopfpauschale. Die dritte Variante einer Antwort: Sie ist tatsächlich politisch `durch den Wind` und ohne Orientierung, weil sie es in der Regierung mit zwei Partnern zu tun hat, die so abgrundtief schlecht und unprofessionell sind, wie sie selbst und niemand anderes zuvor es je erwartet hatte:

Die echte Merkel

Horst Seehofer, Ministerpräsident von Bayern und Vorsitzender der CSU, gilt inzwischen zurecht als jemand, der beinahe täglich ohne Not und Grund Positionen wechselt; er wird deshalb immer weniger ernst genommen. Und die FDP befindet sich mit ihrem Parteivorsitzenden, Außenminister und Vizekanzler Guido Westerwelle im freien Fall, liegt sie doch bei den jüngsten Meinungsumfragen bei inzwischen unter fünf Prozent. Mit zwei Partner regieren zu müssen, von denen jeder auf seine Art einem Ausfall gleichkommt, das will erst einmal verkraftet werden.

Die letzte Variante: Das ist die echte Angela Merkel. Sie kann sich politisch endlich ausleben: noch möglichst lange möglichst viel Atomenergie, ein ungerechtes Gesundheitssystem mit Kopfpauschale, hart gegen Bürger vorgehen. Es kann das eine sein oder das andere oder eine Mischung aus allem. Viel Spaß beim Raten.

Autor: Wolfgang Storz