Im Umkreis von AKWs werden immer weniger Mädchen geboren

Tausende von Kindern kommen – allein in Deutschland und der Schweiz – wegen radioaktiver Strahlung nicht auf die Welt. Zu diesem Schluß gelangt eine neue Studie. Claudio Knüsli, Onkologe in Basel und Präsident der ÄrztInnen gegen Atomkrieg Schweiz, erklärt die Ergebnisse der Untersuchung, die auch für Baden-Württemberg relevant sind. Siehe dazu auch seemoz: „Blankoscheck für die Schweizer Atomindustrie“ v. 20.11.

Glaubt man der vor kurzem in München publizierten Studie, sind Atomkraftwerke eigentliche Embryokiller: Sie sollen allein in Deutschland und der Schweiz die Geburt von bis zu 20000 Mädchen verhindert haben. Kann man die Studie ernst nehmen?

Sehr wohl. Sie wurde von drei renommierten Wissenschaftlern – Ralf Kusmierz, Kristina Voigt und Hagen Scherb – verfasst. Voigt und Scherb arbeiten in München beim Helmholtz-Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt, das vom Staat getragen wird. Kusmierz ist an der Universität Bremen tätig.

Was genau haben die drei untersucht?

Sie versuchten herauszufinden, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen der Anzahl geborener Knaben respektive Mädchen und der Wohndistanz zum nächsten Atomkraftwerk. Dabei kamen sie zu hochsignifikanten Resultaten. Sie haben herausgefunden, dass in einem Umkreis von 35 Kilometern um die Atomanlagen – konkret geht es dabei um 27 Anlagen in Deutschland und 4 in der Schweiz – im Verlaufe der letzten vierzig Jahre ein Verlust von 10000 bis 20000 Lebendgeburten bei Mädchen nachweisbar ist.

Es wurden also bis zu 20000 Mädchen weniger geboren als normalerweise zu erwarten wäre?

Genau.

Und warum ist das wichtig?

Normalerweise werden 105 bis 106 Knaben pro 100 Mädchen lebend geboren. Im Verlaufe des Lebens verändert sich dieses Zahlenverhältnis, das Sex Odds genannt wird, zum Zeitpunkt der Geburt ist es jedoch weitgehend stabil, es sei denn, Stress wie Krieg oder radioaktive Verstrahlung belasten die Bevölkerung. Vergleicht man die Sex Odds verschiedener Orte, lässt sich ziemlich einfach feststellen, ob in einer bestimmten Region Mädchen oder Jungen fehlen. Nach dem Super-GAU von Tschernobyl konnte man in jenen Gebieten Europas und Asiens, die durch die radioaktive Wolke verseucht worden waren, eine sprunghafte und anhaltende Veränderung der Sex Odds registrieren.

Dann hat also schon Tschernobyl dazu geführt, dass weniger Mädchen auf die Welt kamen?

Richtig.

Warum sind vor allem Mädchen betroffen?

Weibliche Embryonen sind offenbar noch strahlenempfindlicher als männliche. Grundsätzlich reagieren alle Embryonen äußerst strahlenempfindlich – und je kleiner sie sind, desto empfindlicher sind sie. Dies lässt sich durch letale Mutationen, also tödliche Veränderungen im Erbgut der Keimzellen oder der Embryonen erklären, bedingt durch die Verstrahlung mit radioaktiven Stoffen wie Cäsium-137. Deshalb kommt es dann zu spontanen Aborten der befruchteten Eizellen respektive der Embryonen. Männliche Embryonen sind davon ebenfalls betroffen: Beobachtungen aus Dänemark vor und nach 1986 legen nahe, dass die radioaktive Verstrahlung durch Tschernobyl auch viele fehlende Knabengeburten verursacht hat. Auf etwa drei fehlende Mädchengeburten kommt eine fehlende Knabengeburt.

Dann fehlen also insgesamt noch viel mehr Kinder?

Ja, davon muss man ausgehen. Gemäß den vorliegenden Daten fehlen – als Folge des Reaktorunfalls in Tschernobyl 1986 – in Europa und Teilen Asiens mindestens eine Million Kinder. Anders als in den USA, die von Tschernobyl kaum betroffen waren.

Zurück zur eingangs erwähnten Studie: Was bedeutet sie für die Schweiz?

Die drei Wissenschaftler haben auch die Geburten einbezogen, die es in den letzten vierzig Jahren im 35-Kilometer-Radius um die Schweizer Atomkraftwerke gab, das waren 1,78 Millionen Lebendgeburten. Auch hier lässt sich nachweisen, dass Mädchen fehlen. Hochgerechnet sind es jedes Jahr mehrere Dutzend Mädchenlebendgeburten, die bei uns verloren gehen.

Ist das hieb- und stichfest?

Die Resultate sind hochsignifikant, sie halten auch strengen statistischen Zusatztesten wie einer Sensitivitätsanalyse stand. Man kommt an diesen Resultaten der verlorenen Kinder in der Umgebung von AKWs nicht vorbei. Es muss angenommen werden, dass die radioaktive Strahlung, die AKWs auch im Normalbetrieb abgeben, dafür verantwortlich ist. Es kann zusätzlich auch zu Erbgutveränderungen kommen, die nicht sofort tödlich wirken, sondern erst Jahre später zu schweren Erkrankungen wie Leukämie führen. Wir müssen die genetischen Veränderungen sehr ernst nehmen, denn das Erbgut – „das kostbarste Gut der Menschheit“, wie dies die Weltgesundheitsorganisation einmal formuliert hat – wird nachweislich geschädigt. Eine verantwortungsbewusste Gesellschaft darf sich deshalb die folgenschwere Atomtechnologie nicht leisten. Die medizinischen Argumente sind nicht zu übersehen, deshalb müssen wir auf Atomenergie verzichten.

Autorin: Susan Boos/WOZ

Der vollständige Text der Studie «Is the human sex odds at birth distorted in the vicinity of nuclear facilities?» von Ralf Kusmierz, Kristina Voigt, Hagen Scherb ist in der englischen Version zu finden unter: www.tinyurl.com/scherb