„Bis zum letzten Ukrainer…“
Es bleiben viele offene Fragen, auch nach Reinhard Lauterbachs Vortrag über den Ukraine-Konflikt letzte Woche in Konstanz. Wenn „Der Spiegel“ mit der Schlagzeile „Stoppt Putin Jetzt!“ aufmacht, zeugt dies nicht von einer unparteiisch-sachlichen Berichterstattung. Umso wichtiger ist es, auch gegenüber dem „Euromaidan“ und dem Westen kritische Stimmen zu hören
Die Situation in der Ukraine ist schier unüberschaubar: Von den Euromaidan-Protesten Ende 2013 über 2014 mit Wahlen und Regierungswechseln hin zu einem blutigen Bürgerkrieg mit internationaler Beteiligung: Allein schon die Dynamik – oder eher die Hektik – der Entwicklung in der Ukraine erschwert einen sachlichen Blick auf die Ereignisse.
Schon die Protestwelle auf dem Maidan ist einer kritischen Betrachtung zu unterziehen: Beispielsweise finanzieren sich die beiden erst mit dem Aufkommen des Euromaidans gegründeten, die Protestwelle medial unterstützenden Fernsehsender „Espreso TV“ und „Hromadske.TV“ vor allem mit Geldern aus den USA. Auch die EU-freundliche Partei „Ukrainische demokratische Allianz für Reformen“, mitgegründet von Schwergewichtsboxer Vitali Klitschko, wird unter anderem mit Gelder der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützt. Wobei Klitschko kein Politiker ist – nicht sonderlich redegewandt, weshalb bei kritischen Fragen nicht er, sondern andere Parteifunktionäre Rede und Antwort stehen. Nach Lauterbachs Einschätzung ein klarer Fall von Selbstüberschätzung – oder schlichtweg der Wunsch, den Ruhm aus der zu Ende gehenden Boxkarriere irgendwie weiterzuführen.
Schmiergeld für frische Wäschen im Hospital
Der Lebensstandard in der Ukraine ist sehr gering, was die Niedriglohnsektoren der Nachbarländer attraktiv macht. So arbeiten allein 2.5 Millionen der 45 Millionen Ukrainer im polnischen Nachbarland. Wo Armut ist, ist auch Korruption. Diese durchzieht auch den staatlichen Apparat. „Vom Schulzeugnis und Führerschein bis hin zur sauberen Bettwäsche im Krankenhaus: Überall muss Schmiergeld fließen“, so Lauterbach. Für einen Wechsel in der Ukraine müsste also zuerst einmal gegen die allgegenwärtige Korruption vorgegangen werden.
An einer echten Mitgliedschaft der Ukraine in die EU besteht im Westen übrigens wenig Interesse, meint Lauterbach: Leisten momentan die westeuropäischen Mitgliedsstaaten finanzielle Unterstützung an die Neumitglieder durch die EU-Osterweiterung, müssten selbst letztere der Ukraine finanziell unter die Arme greifen – und die haben daran kein Interesse. Es geht vielmehr um eine erweiterte europäische Hegemonialzone, ohne direktes wirtschaftliches Verschmelzen. Die Ukraine übrigens ist ökonomisch zu gleichen Teilen von Europa wie von Russland abhängig, was von Region zu Region verschieden ist – ist dies der Grund für die tiefe Spaltung des Landes in einen pro-russischen und einen pro-westlichen Teil?
Der ehemalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch war im Zuge der Maidan-Proteste gestürzt worden und nach Russland geflohen. Die vorgezogenen Präsidentschaftswahl im Mai letzten Jahres gewann Petro Poroschenko, unter anderem unterstützt von Klitschko und seiner Partei. Poroschenko verfolgt einen prowestlichen Kurs, vor allem am einstigen Status der Krim und dem Assoziierungsabkommen mit der EU will er festhalten. Bis 2025 soll die EU-Mitgliedschaft angepeilt werden.
Noch vor der Wahl Poroschenkos kam es zu Kämpfen zwischen prorussischen Separatisten und ukrainischen Regierungstruppen, nachdem die Übergangsregierung den „Antiterrorkampf“ deklariert hatte. Daraufhin riefen die Separatisten ein „Neurussland“ mit den Volksrepubliken Donezk und Lugansk aus – der bis heute andauernde Bürgerkrieg war da. Russland steht im dringenden Verdacht, die Milizen mit Waffen wie auch Truppen unterstützt zu haben. Doch schon der Übergang der Krim-Halbinsel an Russland bedeutete für Russland: Die „rote Linie“ der Ostausbreitung der NATO ist erreicht.
Osteuropa-Kenner Lauterbach: „Es gibt ein neues ukrainisches Sprichwort: Der Westen und Russland bekriegen sich bis zum letzten Ukrainer.“ Angesichts der derzeitigen Situation lässt dies wenig hoffen.[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]
Autor: Nicolas Kienzler