Was kommt nach dem Auto?
Jobs in der Autoindustrie garantieren schon längst nicht mehr, was sie früher boten: ein akzeptables Auskommen und eine halbwegs sichere Zukunft. Und doch ist die Umstellung der Branche weg vom Klimakiller Auto ein schwieriges Unterfangen. Ein Bericht von einer Gewerkschafter-Konferenz über die Frage: Was kommt nach dem Auto? Gibt es Chancen für einen Umstieg?
Valter Sanches kann nicht klagen. Noch nie zuvor seien in Brasilien so viele Autos produziert und verkauft worden wie in den letzten zwölf Monaten, sagt der Gewerkschafter, der seit 1988 im Daimler-Werk São Bernando do Campo arbeitet. «Wir sind – global gesehen – als Letzte in die Krise geschlittert und kamen als Erste wieder heraus», und so werde wieder kräftig im weltweit viertgrössten Fahrzeugmarkt investiert. Das komme sogar den Beschäftigten zugute: Erst vor kurzem habe seine Metallarbeitergewerkschaft eine Reallohnerhöhung von neun Prozent durchsetzen können, berichtet Sanches, der seit 2007 im Aufsichtsrat der Daimler AG sitzt.
Von einem Aufschwung in der Branche erzählt auch Au Loong Yu, Aktivist der in Hongkong ansässigen nichtstaatlichen Organisation Globalization Monitor. In China habe der Autoverkauf im vergangenen Jahr um 42 Prozent zugenommen, und dank der Streikwelle im Frühsommer würden die Beschäftigten, die derzeit rund vierzehn Millionen Autos montieren, etwas besser entlohnt. Enorme Wachstumsraten vermeldet auch Hasan Arslan. In der Türkei sei die Autoproduktion im ersten Halbjahr 2010 um 27 Prozent gestiegen, so der Organisator der türkischen Gewerkschaft Birlesik Metal Is. Den Beschäftigten in der Fahrzeugindustrie – nirgendwo in Europa werden so viele Busse hergestellt wie in der Türkei – sei dieser Aufschwung bisher allerdings kaum zugutegekommen.
Verschlechterte Arbeitsbedingungen
Es gibt sie also noch, die Boomregionen der Autoindustrie, auch wenn dort – von wenigen Ausnahmen wie Brasilien abgesehen – die Arbeitsbedingungen nicht besser sind als in anderen Branchen. In den traditionellen Autohochburgen verschlechtern sich hingegen die Arbeitsbedingungen, die einst viel besser waren als in anderen Industriezweigen. In Mexiko, den USA und Kanada haben Massenentlassungen die Belegschaften dezimiert und den Gewerkschaften die frühere Kampfkraft genommen. In Schweden und im Baskenland werden Sozialleistungen gekürzt und immer mehr Aufträge an Fremd- und Leiharbeitsfirmen vergeben.
Auch im deutschen Autobau schrumpfen die Stammbelegschaften – trotz des plötzlichen Aufschwungs, den Unternehmen wie Daimler, Audi und BMW mit ihren Prestigekarossen dem chinesischen und dem US-amerikanischen Markt verdanken. Im Daimler-Werk Rastatt zum Beispiel schaffen altgediente Arbeiter neben Jüngeren, die erst vor ein paar Jahren fest eingestellt wurden und aufgrund der Verzichtspolitik der Gewerkschaft weniger Lohn beziehen. Und die wiederum stehen neben langfristig angeheuerten LeiharbeiterInnen, neben TemporärarbeiterInnen und neben Werksvertragsbeschäftigten, die gänzlich rechtlos sind und nur neun Euro in der Stunde verdienen. Wie soll da noch eine Solidarität aufkommen? Wie kann aus solchen Bedingungen die grosse Offensive erwachsen, auf die die Welt dringend angewiesen ist: der Umbau der gesamten Autoindustrie?
Frühere Initiativen
Dass eine Umstellung nötig ist, wissen auch die BelegschaftsvertreterInnen in den Schwellenländern. «So kann es auf Dauer nicht weitergehen», sagte Valter Sanches aus São Paulo, und Gautam Mody aus Delhi formulierte die zentrale Frage so: «Was wollen wir eigentlich mit all den Autos, die derzeit produziert werden?» Braucht es die überhaupt?
Nein, sagten etliche kritische GewerkschafterInnen aus der Autobranche an der grossen Konferenz Auto-Mobil-Krise der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der deutschen Linkspartei, die in Stuttgart abgehalten wurde. Etwas anderer Meinung waren jedoch führende Vertreter der deutschen MetallarbeiterInnengewerkschaft IG Metall, die zwar ebenfalls den Verdrängungswettbewerb und die Leistungsverdichtung kritisieren und eine Konversion der Industrie befürworten, einen schnellen Umbau aber nicht für machbar halten. Denn wie soll eine Konversion ohne Beschäftigungsverlust vonstatten gehen? Welche neuen Produktfelder bieten sich an? Wer setzt den hoch komplexen Prozess in Gang? Und wen interessiert das überhaupt?
Stuttgart, der Konferenzort, ist noch immer ein wichtiges Zentrum der Autoindustrie. Nirgendwo in Europa arbeiten so viele Menschen an und für Autos (180?000 Beschäftigte), nirgendwo in Deutschland gibt es eine solche Dichte an Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen. Das Auto hat die Stadt und ihr Umland zur bedeutsamsten Industrieregion der BRD gemacht, und in den Werkshallen von Daimler sind kampfstarke Belegschaften herangewachsen, die – wie etwa bei der Durchsetzung der 35-Stunden-Woche oder der Verteidigung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – bundesweit den Ton angaben. In Stuttgart fand 1983 auch ein Technikkongress der IG Metall statt, auf dem über die Grenzen und die Gefahren der Technik diskutiert wurde. «Kapitalistisch angewandt», hieß es in einer Entschließung, «zerstört die Technik die Lebens- und Arbeitschancen und die Umwelt.»
Damals, 1983, hatten sich zuerst bei Blohm & Voss und danach bei weiteren, von der Werftenkrise geschüttelten Schiffsbauunternehmen etwa vierzig Arbeitskreise Alternative Produktion gebildet. Ihr Ziel, seinerzeit von der IG Metall unterstützt, war die Entwicklung neuer Produkte. Bei Blohm & Voss wurden plötzlich Computertische statt U-Booten produziert. Auch beim Flugzeugbauer MBB entstand ein solcher Arbeitskreis, und noch Anfang der neunziger Jahre diskutierten die Delegierten eines IG-Metall-Kongresses durchaus kritisch über die Zukunft des Autos.
«Stuttgart 21»: Die falsche Umstellung
Die Entwicklung neuer Mobilitätskonzepte – eine wesentliche Voraussetzung der Autokonversion – verlangt einen Aus- und Umbau des öffentlichen Verkehrs. Bedingung für eine Eindämmung des motorisierten Individualverkehrs und eine nachhaltige Verlagerung des Transportaufkommens auf die Schiene ist aber, dass die Projekte gesellschaftlich nützlich sind, den Interessen der Allgemeinheit dienen und von der Bevölkerung getragen werden. Beim größten deutschen Schienen- und Bauprojekt «Stuttgart 21» (S21) sind all diese Prämissen nicht gegeben. Und deswegen wird der Kampf um S21 so erbittert geführt.
- Der Plan, den Hauptbahnhof in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof umzubauen, dient vor allem privatwirtschaftlichen Profitinteressen: Da die Zufahrten unter die Erde gelegt werden sollen, entsteht mitten in der Stadt ein hundert Hektar großes Gelände. Ein Bombengeschäft für Immobilienunternehmen, die hier Bürobauten, Shoppingcenter und Appartements errichten wollen. Interesse am Bauprojekt haben auch Tunnelbohrmaschinenhersteller, Baukonzerne und die Stuttgarter Geschäftswelt, darunter die Autofirmen.
- Ein Ausbau des öffentlichen Verkehrs ist nicht geplant, im Gegenteil. Seit die staatseigene Deutsche Bahn (DB) privatisiert werden soll, wird das Unternehmen vorwiegend von ehemaligen Automanagern geführt; drei der vier DB-Vorsitzenden der letzten zwanzig Jahre hatten zuvor für Daimler gearbeitet. Die DB zieht sich aus der flächendeckenden Versorgung zurück, legt Nebenstrecken still und investiert nur noch in Intercity-Verbindungen. Die Gelder (etwa elf Milliarden Euro) für S21 und die geplante Neubaustrecke von Stuttgart nach Ulm (auf der schwere Güterzüge nicht fahren können) fehlen für fällige Investitionen anderswo.
- An einer offenen Debatte hatten die BetreiberInnen (der Bund, das Land Baden-Württemberg, die Stadt Stuttgart und die DB) kein Interesse. Sie unterzeichneten bereits 1995 alle wesentlichen Verträge – und zwar «unwiderruflich». Als die Kritik zunahm, unterschrieb die Stadt schnell Arbeitsvergabeverträge (ohne Rücktrittsklausel), dann wurden Teile des alten Kopfbahnhofs abgerissen und Bäume gefällt.
Und die Gewerkschaften? Die sind gespalten. Während die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, die Landesdelegiertenversammlung des Gewerkschaftsbunds DGB und die Stuttgarter IG-Metall-Basis S21 ablehnen, macht sich die IG-Metall-Führungsebene für das Großprojekt stark: Der baden-württembergische IG-Metall-Chef Jörg Hofmann sitzt im Komitee der BefürworterInnen, der zweite IG-Metall-Bezirksbevollmächtigte Uwe Mainhardt spricht sich dafür aus, und der Daimler-Gesamtbetriebsratsvorsitzende Erich Kemm tut ohnehin meistens, was die Geschäftsleitung von ihm verlangt. Ist es Zufall, dass die regionale IG-Metall-Spitze von einer Konversion der Autoindustrie, die nur von unten kommen kann, so wenig wissen will?
Wendepunkt Peak Oil
«Wir waren schon einmal weiter», sagt Hans-Jürgen Urban vom Hauptvorstand der IG Metall auf der Konferenz in Stuttgart. Ins Hintertreffen sei man durch den Shareholder-Value geraten, die kurzfristige Orientierung der Unternehmen an maximaler Rendite. Doch es waren nicht nur die Unternehmen, die nicht mehr perspektivisch denken wollten und deswegen keine Belegschaftsideen mehr aufgriffen – , auch die Gewerkschaften, und insbesondere die IG Metall, änderten sich und befassten sich vorwiegend nur noch mit den unmittelbaren Interessen ihrer Kernbelegschaften. Nicht Technikkritik und Debatten über Arbeitsinhalte oder ProduzentInnendemokratie waren gefragt, sondern Standortpolitik und Sozialpartnerschaft.
Zwei Jahrzehnte später sind die Zukunftsfragen noch viel drängender geworden. Die gigantischen Überkapazitäten auf dem Automobilsektor haben einen ruinösen Verdrängungswettbewerb von globalen Ausmaßen ausgelöst, der Produktionsstätten und ganze Konzerne vernichtet und durch Leistungsverdichtung die Beschäftigten auslaugt. Dazu kommen die irreversiblen Schäden, die die zunehmende Verbreitung von Verbrennungsmotoren dem Planeten zufügt. Außerdem scheint das Ölfördermaximum (der Peak Oil) bald überschritten, ab dem wahrscheinlich die Kraftstoffvorräte den Benzinbedarf nicht mehr decken. «Das geölte Wachstum ist vorbei», formulierte es der Politikwissenschaftler Elmar Altvater während der Konferenz und plädierte für einen Umbau der Autoindustrie – und der gesamten Gesellschaft: «Wir müssen weg vom Öl, weil wir die Verantwortung für die nächsten Generationen tragen, und weil uns gar nichts anderes übrig bleibt.»
Eine Konversion wird stattfinden, so oder so, sagt auch Tom Adler, linker IG-Metall-Betriebsrat im Daimler-Werk Stuttgart-Untertürkheim, «es gibt auf jeden Fall eine massenhafte Vernichtung von Arbeitsplätzen» – kurzfristig durch Produktionsverlagerungen in Billiglohnländer, langfristig durch den Peak Oil. Es müsse also nach Alternativen gesucht werden für «diese Autos», die, so Adler, «die Welt ohnehin nicht braucht».
Aber worin könnte die Alternativen bestehen? Wer entwickelt sie, und wer setzt sie durch?
Dass das Elektroauto keinen Ersatz darstellen kann und nur in die Sackgasse führt, sprach sich auf der Konferenz schnell herum. Es gibt technische Probleme (Batteriespeicherkapazitäten), logistische Schwierigkeiten (wo tankt man den Strom, und kommt der aus einem AKW?), beschäftigungspolitische Nachteile (ein Verbrennungsantrieb besteht aus 1400 Teilen, ein Elektroantrieb aus 210) und nicht zuletzt emissionstechnische Einwände: «Ein Drittel des CO2-Ausstosses eines Fahrzeugs entsteht bereits bei der Produktion», erläuterte Daimler-Betriebsrat Michael Clauss, «und für die Leichtbauweise wird vorwiegend Aluminium eingesetzt, ein Werkstoff, dessen Herstellung am meisten CO2 emittiert.»
Auf Solarzellentechnik ausweichen, wie das Bosch – der Stuttgarter Konzern ist der weltweit größte Automobilzulieferer – versuchsweise in Thüringen tut, bietet ebenfalls keine Allgemeinlösung. «Auf dem Gebiet ist die Konkurrenz mittlerweile so groß, dass die Löhne im Keller sind», sagte die Bosch-Betriebsrätin Gertrud Moll. Und außerdem habe Bosch nur ein Werk dazugekauft, also diversifiziert statt konvertiert. Immerhin sind die 100?000 kleinen Blockheizkraftwerke, die VW derzeit in Salzgitter fertigen lässt, ein kleiner Lichtblick. Bei der Lohnrunde 2006 hatte die IG Metall durchsetzen können, dass der Autokonzern jährlich zwanzig Millionen Euro für die Entwicklung von innovativen Produkten jenseits der Automobilfertigung bereitstellt. Aber was sind schon zwanzig Millionen? Und auch da habe das Management darauf bestanden, berichtete ein VW-Betriebsrat, dass sich das Unterfangen sofort auszahlen müsse.
Denkbar sind natürlich viele Projekte: im Transportbereich etwa der flächendeckende Um- und Ausbau des öffentlichen Verkehrswesens (allerdings nicht wie bei «Stuttgart 21», vgl. Kasten), die Wiedereinführung eines Tramsystems in allen Städten (wie derzeit in Frankreich geplant) oder die Entwicklung von mehr multimodalen Mobilitätskonzepten, wie das Huckepacksystem beim Gütertransport durch die Alpen. Im Energie- und Immobiliensektor ließe sich der Gebäudebestand sanieren und eine dezentrale Energieerzeugung und -versorgung ausbauen. Im Forschungsbereich könnten gemeinnützige Entwicklungseinrichtungen wiederbelebt werden (derzeit fließen die staatlichen Fördermittel vorwiegend in Privatinstitute, die der AKW-Industrie zuarbeiten). Und im sozialen Bereich, im Bildungs- und Gesundheitswesen etwa, ist der Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften ohnehin hoch.
Die Skepsis an der Basis
Aber wer könnte einen solch gigantischen Umbau angehen, der die bestehenden Machtverhältnisse umkrempelt und die Kapitalinteressen wie die Politik herausfordert? Eine solche Offensive kann nur von einer breiten Bewegung getragen werden: Die Ökolinke, UmweltschützerInnen, die Fachwissenschaft und regionale Körperschaften müssten zusammenarbeiten – etwa in Regionalräten, wie sie die IG Metall in Esslingen etabliert hat. Und in der Gewerkschaften und die Automobilbelegschaften eine zentrale Rolle spielen. Denn ohne sie geht nichts.
Doch bei den AutobauerInnen sitzt der Schock tief, den die Wirtschaftskrise im Gefolge des Finanzmarktcrashs ausgelöst hat. In manchen Betrieben ist der Leistungsdruck so groß, dass die Beschäftigten sich einen alternativen Entwicklungspfad kaum vorstellen können. In anderen Werken fahren sie freiwillig Sonderschichten, um die Einkommensverluste wieder wettzumachen, die durch die lange Kurzarbeit entstanden sind. Und überall sind die Belegschaften so sehr auf Standorterhalt und Konkurrenz fixiert, dass sie sich keine Gedanken über ein gemeinsames Vorgehen machen – schon gar nicht im internationalen Rahmen. Nur im Opelwerk Bochum, dessen 6000 Beschäftigte derzeit gerade mal zu sechzig Prozent ausgelastet sind, gibt es Gremien, die sich für alternative Produkte interessieren und Kontakte zu Hochschulen aufbauen.
Dass die Autobeschäftigten Experimente ablehnen, ist freilich kein Wunder. Anders als vor zwanzig Jahren, als im Ruhrgebiet der Niedergang der Kohleindustrie begann, gibt es heute keine Restrukturierungsmaßnahmen, die die Beschäftigten halbwegs sozialverträglich auffangen könnten: Heute geht es direkt hinab ins Elend von Hartz-IV.
Und eine weitere Frage ist offen: die nach dem Konzept der IG Metall. Vorstandsmitglied Urban sagte, dass ein Umbau nur mithilfe der Autokonzerne möglich sei – jenen Firmen also, die nach der Benzinpreisexplosion 2008 an neuen Motoren werkeln ließen, inzwischen aber wieder Spaßfahrzeuge wie den «grünen» Porsche 918 Spyder mit 730 PS heraushauen. «Es geht nur gegen die Unternehmen», antwortete darauf Tom Adler, «und nur mit einer gewerkschaftlichen Weiterbildung der Belegschaften.» Das sah auch Reiner Hofmann so, Betriebsrat bei Porsche: «Die Leute sind nicht blöd. Man muss sie informieren und mit ihnen debattieren. Und man darf sie nicht von oben herab behandeln, wie das bei unserer Gewerkschaft oft der Fall ist.» Dazu gehöre, dass die Gewerkschaft ihren allzu unternehmerfreundlichen Kurs aufgebe und entschieden für die Interessen der Mitglieder eintrete. Denn nur dann, so Adler, sei sie glaubwürdig – und könne Ideen und Konversionskonzepte vertreten, die den Leuten momentan nicht einleuchten. Aber langfristig das Überleben sichern.
Autor: Pit Wuhrer/WOZ