Wut und Groll zum 1. Mai
Es war einmal der Kampftag der Arbeiterklasse. Der 1. Mai. Heute ruft der DGB, der Deutsche Gewerkschaftsbund: Moin, moin, Mindestlohn oder Adios Lohn-Dumping, und die Industriegewerkschaft Metall steht treu an der Seite von SPD-Gabriel – bei TTIP und beim „Tarifeinheitsgesetz“. Gerhard Manthey verspürt darüber nur Wut und Groll.
„Bon jour, Bildung“, „Adios, Lohndumping“, „Bye-bye, Burn-out“ – drei von zehn flotten Parolen des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) zum 125. des 1. Mai. Zu 125 Jahren täglicher Auseinandersetzungen um Menschenwürde, Arbeit, gerechten Lohn, Arbeitszeit, Fünftagewoche, Kündigungsschutz, Kultur, Pressefreiheit. Immer verbunden mit Fortschritten, Niederlagen und steten Veränderungen der Arbeitswelt.
Der DGB will Kapital und Arbeit „zum Ausgleich bringen“. Davon sind wir noch weit entfernt. Ein Blick auf die Brüder und Schwestern in Europa zeigt ein beträchtliches Gefälle, gar nicht zu reden von der Lage der Ausgebeuteten in Asien, Afrika und all den Schwellenländern, die die verlängernden Werkbänke unseres Wohlstands sind.
Das wird schwierig, wenn wir mit der DGB-Losung „Moin, moin, Mindestlohn“ auf den Lippen aufwachen, ein „Ahoi, Mitbestimmung“ dem Herrn Piëch zurufen und unsere türkischen Mitarbeiter mit einem erfrischenden „Fuck off, Rassismus“ begrüßen. Und am Ende des Tages merken, dass es trotz Mindestlohn immer noch Austräger der „Welt am Sonntag“ gibt, die nur Stücklohn und keine 8,50 Euro verdienen. Dass sich trotz Mitbestimmung die Eigentumsverhältnisse im VW-Konzern nicht geändert haben und die TV-Bilder von den vollen Booten im Mittelmeer und den Wohnstätten der Asylbewerber hier eine andere Wirklichkeit über Völkerverständigung lehren.
Die 35-Stunden-Woche ist glatt unter den Tisch gefallen
Zwischen erzielter und in 125 Jahren erkämpfter Teilhabe am Kapitalismus und nach wie vor mangelnder Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit in Wirtschaft und Gesellschaft müssten wir resümieren: „Die Wut gewinnt an Boden.“ Wir müssten darauf verweisen, dass die Arbeiterbewegung die 35-Stunden-Woche glatt unter den Tisch fallen lässt. Kein Gewerkschafter mit dem Sonnenemblem ist zu sehen. Der ehemalige baden-württembergische IG-Medien-Chef Werner Pfennig – wegretuschiert? Dabei bleibt Arbeitszeitverkürzung – bei vollem Lohnausgleich – das Kernstück gewerkschaftlicher Arbeit für die zu erkämpfende Viertagewoche. Wo bleibt diese Parole?
Schauen wir nach Frankreich: Das „Linksradikale unsichtbare Komitee“, 2010 gegründet, hat zum 1. Mai 2015 im Nautilus-Verlag die Flugschrift „An unsere Freunde“ herausgegeben und ist der Meinung, dass der Wallstreet-Kapitalismus die Welt zerstört und die Menschen mit einem permanenten Krisengefühl infiziert. „Der westliche Mensch hat das Existierende ins absurde Nichts verwandelt“, heißt es dort. Dagegen helfe nur der entschlossene Aufstand. Die Botschaft der Flugschrift lautet: „Blockieren wir alles“, wie zur Eröffnung der EZB-Zentrale in Frankfurt.
Das beitragszahlende Mitglied einer DGB-Gewerkschaft im Aufstand? Schön wär’s. Stattdessen sieht es sich mit der Losung „Die Arbeit der Zukunft gestalten wir“ konfrontiert und müsste eigentlich erklärt bekommen, dass deren Einlösung die Beherrschung des Kapitals voraussetzt. Aber der DGB will die Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der reichen Bundesrepublik Deutschland „positiv mitgestalten“.
Schauen wir nach Athen, Barcelona und in den Kosovo: Solidarität mit den Werktätigen in den ärmeren Regionen Europas? Dazu müsste der DGB bei seinen Mitgliedern zuerst die Einsicht wecken, dass auf nationaler Ebene keine politische Gestaltung mehr möglich ist. Die Europäische Union und ihre nicht direkt vom Volk bestimmten politischen Strukturen und Figuren machen deutlich: Der Staat tischt das auf, was die Troika bestimmt. Und die Troika wird vom Kapital instrumentalisiert und die Politik exekutiert. Die Antwort muss also lauten: Unser Kampf ist international, und für die direkte tägliche Demokratie ist das Lokale unsere Plattform.
Die Kluft zwischen den Gewerkschaften wird immer breiter
Dazu braucht es einen starken und einigen DGB, der von seinen Mitgliedsgewerkschaften gemeinsam getragen und einvernehmlich regiert wird. Aber da gibt es ein Problem im 125. Jahr des 1. Mai. Zwischen den Industrie- und den Dienstleistungsgewerkschaften wird die Kluft immer breiter. Die Frontlinien sind klar. Ein Betrieb – eine Gewerkschaft – ein Tarifvertrag, fordert der IG-Metall-Vorsitzende Detlef Wetzel. Die anderen Gewerkschaften, wie zum Beispiel Verdi, sollen in diesen Betrieben kein Mitglied werben können und dürfen. Bisher hat das DGB-Schiedsgericht versucht, dies einvernehmlich zu regeln. Jetzt will es die IG Metall, im Verbund mit dem DGB, im Alleingang durchsetzen. Warum regelt es die mächtigste deutsche Arbeitnehmerorganisation nicht solidarisch mit den anderen, im Sinne der Arbeitnehmer, Angestellten und Beamten? Der Österreichische Gewerkschaftsbund hätte bestimmt einige Mediatoren entsenden können, um sein Einheitsmodell in Berlin vorzustellen.
Und das ist nicht der einzige Graben, der sich durch die Gewerkschaften zieht. Obwohl überzeugende Zahlen auf dem Tisch liegen, die deutlich machen, dass das Freihandelsabkommen der EU mit den USA (TTIP) kaum zusätzliche Arbeitsplätze und Gewinne bringen wird, sondern nur nationale Gerichtsbarkeiten einschränkt sowie Kultur, Medien und Urheberrechte bedroht, sieht sich Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) weiter vom DGB und der IG Metall unterstützt.
Ähnliches ist bei dem Tarifeinheitsgesetz zu beobachten, das von der Bundesregierung, den Arbeitgebern und der IG Metall gewollt wird. Der Kampf mit den Gewerkschaften GdL und EVG im Eisenbahnbereich führt sehr anschaulich vor, was in der Zukunft verhindert werden soll: dass kleinere Organisationen im gleichen Beritt Mitglieder gewinnen und Tarifverträge aushandeln. Da mag man der IG Metall zurufen: Demokratie wagen! Sich mit einem Tarifeinheitsgesetz in das Streikrecht, auch der kleineren Gewerkschaften, eingreifen zu lassen, wäre im 125. Jahr des 1. Mai ein schwerwiegender Fehler.
Die Einheit ist wichtiger als Macht, Geld und Einfluss
Stattdessen entzieht sich die IG Metall lieber solchen Debatten und befördert damit den Streit unter den Beschäftigten. Gehört das Logistikunternehmen von Airbus nun zu Ver.di oder zu den Metallern? Zählt die Tochtergesellschaft, die Windräder baut, zur Energiewirtschaft oder zur IGM? Das muss in aller Solidarität entschieden werden, denn die Errungenschaften der Einheitsgewerkschaft sind wichtiger als Macht, Geld, Einfluss einer einzelnen Organisation.
Artikel 20 unseres Grundgesetzes besagt, dass alle Gewalt vom Volke ausgeht. Wandeln wir die DGB-Parole also einfach um und formulieren forsch: „Wir gestalten die Zukunft der Arbeit.“ Wir warten nicht auf den DGB, die IG Metall und Sigmar Gabriel und nicht auf höhere Mächte. Das „Linksradikale unsichtbare Komitee“ hat in einem „Zeit“-Interview auf die Frage, wann der Ausnahmezustand der Geschichte ende, mit Franz Kafka geantwortet: „Der Messias wird erst kommen, wenn er nicht mehr nötig sein wird.“ Wir sind also auf uns selbst angewiesen.
Wir wär’s denn damit, nach der 1.-Mai-Kundgebung nach Karlsruhe zu fahren und uns von dem Philosophen Peter Sloterdijk über „Zeit und Zorn“ aufklären zu lassen, damit wir den Tag bestimmen, an dem wir Wut und Groll loslassen und zum Abschied des Systems „Adieu, Diktatur der Bosse“ rufen können?
Gerhard Manthey/kontextwochenzeitung.de. Der Autor war bis Ende 2014 Mediensekretär bei der Gewerkschaft ver.di in Stuttgart.[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]
In Frankreich gibt es noch Gruppen und Grüppchen, die in erfrischender Art und Weise und durchaus in ihrer Analyse vernünftig und unverblendet antikapitalistisch an situationistische Positionen anknüpfen. Die Situationistische Internationale war, nach meiner Interpretation, eine höchst interessante anarchistische „Spielart“, die sich von keinem System vereinnahmen lies. Einen Hauch davon würde ich mir bei den großen deutschen Gewerkschaften wünschen, die selten über den Tellerrand ihrer Facharbeitervertretung hinausblicken. Das Vorhaben, die GDL über das Tarifeinheitsgesetz kalt zu stellen, ist hingegen (sorry!) typisch deutsch. Was wir dringend brauchen ist die (Neu-)Entwicklung einer Widerstandskultur in diesem Land, und wenn möglich am liebsten zusammen mit einigen Gewerkschaften!