Armenien: Die Hilferufe verhallten ungehört
Noch ein Nachtrag zum Jahrestag des armenischen Genozids vor einer Woche: Ralph Hug berichtet über den Appenzeller Arzt Jakob Künzler (s. Foto), der Zeuge der Schlächtereien wurde. Und wir dokumentieren die Rede von Zahide Sarikas aus Konstanz, über die seemoz zwar schon berichtete, die sich aber Wort für Wort nachzulesen lohnt, wenn man die Zusammenhänge gestern wie heute verstehen will.
Ein Arzt, der nicht helfen kann
Der Appenzeller Arzt Jakob Künzler war dabei, als die Jungtürken 1915 den Völkermord an den Armeniern verübten. Seine Hilferufe blieben damals ungehört. Hundert Jahre später wird der vergessene Helfer wiederentdeckt.
Zwei kleine Gedenktafeln an den Kirchen von Hundwil und Walzenhausen (Appenzell Ausserrhoden) erinnern an den «Armeniervater» Jakob Künzler (1871-1949). Doch wer hat diese Tafeln schon mal beachtet? Den Übernamen hatte sich Künzler durch seinen selbstlosen Einsatz für armenische Flüchtlinge erworben. Mit seinen Warnungen und Hilferufen konnte er den Völkermord nicht stoppen. Jahrzehntelang war Künzler in Vergessenheit geraten. Heute holt ihn das Gedenkjahr zum ersten Genozid des 20. Jahrhunderts wieder ins Licht der Öffentlichkeit.
Künzler war Laienarzt und seit 1899 im Missionsspital in der südostanatolischen Stadt Urfa tätig. Dorthin gekommen war er durch Kontakte mit dem Armenischen Hilfswerk in Basel. Dieses schickte ihn als Krankenpfleger in das Schweizer Spital nach Urfa. Künzler war der Sohn eines Maurers und einer Stickerin und hatte in Hundwil eine harte Kindheit verbracht. Von Beruf hatte er Zimmermann gelernt.
Laut Künzlers Schilderungen hatten sich die Vorboten des Völkermords schon lange angekündigt Als er 1914 eine Reise nach Bagdad unternahm, hörte er den Jungtürkenführer Näfis Bey sagen: „Wir Türken müssen die Armenier entweder samt und sonders ausrotten, oder wir müssen sie zur Auswanderung zwingen. Ein Zusammenleben mit ihnen in den Grenzen unseres Reiches ist völlig ausgeschlossen.“ Im Herbst 1915 setzten die Jungtürken dieses Vorhaben in die Tat um, indem sie die Armenier zusammentrieben und auf Todesmärsche in die syrische Wüste schickten. Der Genozid, den die Türkei bis heute leugnet, war Tatsache geworden.
In Urfa hatte Künzler erlebt, was es damals hieß, ein Armenier zu sein. Schon 1895 gab es in der Stadt Pogrome gegen die ungeliebte Minderheit. Leute wurden mit Petroleum übergossen und angezündet. Im Frühjahr 1915 notierte Künzler dann in sein Tagebuch: „Die Türken der Stadt bedrohen die Armenier fast jeden Tag.“ Sie wurden als Kollaborateure der Russen verdächtigt, mit denen das jungtürkische Regime im Krieg lag. Künzler alarmierte Diplomaten im syrischen Aleppo, als er mitansehen musste, wie Armenierfamilien ins Gefängnis geworfen und gefoltert wurden.
Doch er fand kein Gehör. Zu sehr waren die Politiker mit den Wirren des Weltkriegs beschäftigt, der vor einem Jahr begonnen hatte. Der Völkermord spielte sich im Schatten der großen Katastrophe ab. Schließlich erlebte Künzler hautnah die ersten Deportationen von Armeniern. Die Stadt Urfa war der Kreuzungspunkt, wo sich die Deportiertenzüge aus den verschiedenen Regionen trafen. Künzler erblickte Hunderttausende Frauen und Kinder, die in endlos scheinenden Kolonnen daher wankten und Richtung Wüste getrieben wurden. Teilweise waren sie völlig nackt.
Das Schweizer Spital wurde von Hilfesuchenden überrannt. Künzler notierte deren Schilderungen, war geschockt und fassungslos: „Es war ein Jammer, eine Not, wie ich sie nie, selbst hier im Lande der chronischen Not, gesehen habe.“ Besonders belastete ihn, dass er der Katastrophe nichts entgegensetzen konnte. Ihm war klar geworden: Hier wurde „mit Plan und Wille ein Volk auf die Schlachtbank geführt“, schrieb er in seinem 1921, erschienenen Bericht unter dem Titel «Im Landes des Blutes und der Tränen».
Vor fünfzehn Jahren wurde das Buch neu aufgelegt, weil die Debatte um den Armenier-Genozid politische Dimensionen erreicht hatte. Ganz machtlos blieb «Arztbruder Künzler» wie er genannt wurde, jedoch nicht. 1922 gelang es ihm, rund achttausend armenische Waisenkinder ins französische Mandatsgebiet Syrien zu bringen. Er rettete sie damit vor dem Tod. Mit dieser Aktion erwarb sich Künzler den Ruf als «Armeniervater».
Künzler war christlich-humanistisch motiviert. In seiner Hilfstätigkeit machte er keinen Unterschied zwischen Herkunft oder Religion. Er verarztete genauso Armenier wie kranke und verletzte Türken. Dies gebot ihm sein christlicher Glaube, dem er in großer Aufopferung verbunden war. Als Laienpfleger war er in Urfa angekommen. Die Stadt verließ er als versierter Mediziner und Chirurg, der sich die nötigen Kenntnisse in der Praxis erworben hatte. Dafür verlieh ihm die Universität Basel im Jahr 1947 den Ehrendoktortitel. Eine Veranstaltungsreihe in Hundwil erinnerte jüngst an den «Armeniervater».
Ralph Hug
„Ich stehe vor Ihnen und verbeuge mich“
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,
dass die Angehörigen der Überlebensgemeinschaften des Genozides mir erlauben, bei der heutigen Gedenkfeier eine Rede zu halten, erfüllt mich mit großem Dank. Diese Rede ist für mich eine große Herausforderung, eine große Verantwortung und nicht zuletzt eine große Ehre, an diesem Tag hier sprechen zu dürfen.
Heute vor 100 Jahren, am 24. April 1915, verhaftete die osmanische Regierung (Jungtürken) in Konstantinopel die gesamte Führungsschicht des armenischen Volkes. Kulturschaffende, Freiberufler, Unternehmer, Politiker und Priester wurden gefangen genommen und umgebracht. Es sollte der Auftakt zum Völkermord an den Armeniern werden – einem der ersten Genozide des 20. Jahrhunderts, der sich gegen das älteste christliche Volk der Welt richtete.
Die Armenier waren bereits zuvor Opfer kleinerer und größerer Verfolgungen geworden. 1895-1896 wurden bei den Massakern durch den roten Sultan Abdulhamit II. weit über 100 000 Christen getötet und ebenso viele zwangsweise islamisiert. Der Ablauf des Genozides 1915/1916 ist sehr gut dokumentiert. Es gibt unzählige Augenzeugenberichte: Reisende, Missionare, Diplomaten. Nicht zuletzt waren es deutsche Diplomaten und Militärs, die Zeugen der mörderischen Maßnahmen vor Ort wurden und ihre Beobachtungen nach Deutschland meldeten.
Wir wissen heute aus deutschen, österreichischen, amerikanischen, russischen, französischen, englischen und anderen Archiven, wie die jungtürkische Regierung unter dem Deckmantel des Weltkrieges sich der Armenier, die sie bereits länger als „Problem“ empfand, entledigte. Wir wissen heute ebenso, dass Deutschland sehr gut über die unsägliche Lage der Armenier informiert war. Um seine Alliierten nicht zu verprellen, bevorzugte es Deutschland jedoch, eine strenge Pressezensur zu praktizieren und wegzuschauen statt zum Wohl der Armenier zu intervenieren.
Der Genozid an den Armeniern führte zum ersten Völkermordprozess 1919 in Konstantinopel. Quasi ein Nürnberger Prozess vor dem Nürnberger Prozess. Damals gab es für dieses Verbrechen an den Armeniern kein Wort, keinen Begriff. Am 15. Juli 1919 wurden Talaat, Enver, Cemal und Doktor Nazim in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Insgesamt sprachen die beiden Kriegsgerichte 17 Todesurteile aus. Drei von ihnen wurden vollstreckt. Diejenigen Täter, die mit deutscher Hilfe ins Ausland geschafft wurden, wurden später von armenischen Attentätern erschossen.
Am 6. Dezember 1921 wurde der ehemalige Großvezir Said Halim in Rom, am 21. Juli 1922 Cemal Pasa in Tiflis liquidiert. Im April 1922 wurden der Chef der türkischen Sondereinheiten Teskilat Mahsusa, Dr. Bahaddin Sakir, sowie der Polizeipräsident – der „Henker von Trabzon“ – Cemal Azmi, am selben Tag zur selben Uhrzeit auf der Uhlandstraße in Berlin erschossen. Ihre Gräber liegen immer noch auf dem türkischen Friedhof in Neukölln. Der ehemalige Grosswesir und Innenminister Talaat Pasa, der maßgeblich für die Vernichtung der Armenier verantwortlich war, wurde ebenfalls am 15. März 1921 in der Heidelberger Straße zu Charlottenburg vom armenischen Studenten Salomon Teilirian erschossen. Am 3. Juni 1921 sprach das Berliner Schwurgericht Teilirian (Soghomon Tehlirian), der den einst allmächtigen Leiter der türkischen Kriegspolitik gerichtet hatte, nach zweitägiger Verhandlungen frei. Der paradoxe Satz, dass nicht Teilirian, sondern der Ermordete Schuld trüge, fand im Urteil seinen Niederschlag. Das Gericht hatte Verständnis für den Seelenkrampf, die völlige Entwurzelung eines Menschen, der nach einem betäubenden Schlag auf den Kopf selbst zwei Tage unter der Leiche seines Bruder gelegen hatte und die Verzweiflungs- und Schmerzensschreie seiner Schwester, welche von türkischen Soldaten vergewaltigt wurde, miterleben musste.
Raphael Lemkin hat durch diesen Prozess über die Vernichtung der Armenier erfahren und später dem Verbrechen einen Namen gegeben. Es waren seine Ausführungen, die als Grundlage für die ‚Internationale Genozid Konvention‘ dienten und seither haben Historiker in aller Welt die Verbrechen gegen Armenier und Aramäer, der Vernichtung der Juden, der Roma und Sinti in Europa und der Vernichtung der Tutsi in Ruanda als „absoluten“ Völkermord eingestuft.
Wenn heutzutage Politiker und Journalisten lediglich von der „armenischen Frage“ sprechen, dann ist das ein deutlicher Rückschritt. Es gibt nach meiner festen Überzeugung keine „armenische Frage“. Die so genannte Armenische Frage des vorigen Jahrhunderts wurde durch die Vernichtung beantwortet. In der Gegenwart bleibt nur die türkische Frage: die türkische Verleugnung des Völkermordes, die türkische Diffamierung der Diaspora, die türkische Arroganz und Respektlosigkeit gegenüber den Opfern und Nachkommen. Die Leiden der armenischen Kinder, Frauen und Männer, die in den Euphrat geworfen oder auf dem Weg nach Dere Sor massakriert wurden, haben immerhin Eingang in eine UN-Konvention gefunden.
Wir gedenken der Opfer des Genozids heute zum 100. mal. Wir tun das nicht an irgendeinem Ort, sondern in Deutschland, wo die Nazis 20 Jahre später die Welt angegriffen und während des Weltkrieges einen weiteren ultimativen Völkermord begangen haben. Zwei Länder und zwei Verbrechen, mit denen wir uns auch in der Gegenwart noch auseinander zu setzen haben . Beide Länder stehen seit Jahrhunderten in guten Beziehungen.
Helmut Graf von Moltke, der von 1836-1839 Instrukteur der osmanischen Truppen war, war an der Niederschlagung der kurdischen Aufstände beteiligt. Als die Jungtürken ihr Nationalstaatsprojekt (eine Nation, eine Sprache, ein Land ) vorantrieben, indem sie die christlichen Minderheiten vertrieben und vernichteten, war Deutschland Verbündeter der Türkei. 1938, als die Nazis am 9/10. November mit dem Programmnacht das jüdische Leben in Deutschland zu vernichten begannen, massakrierte die türkische Armee Aleviten und Kurden in der Provinz Dersim, deren Bewohner sich während des Völkermordes mit dem Deportierten solidarisiert hatten.
Es ist unglaublich, beschämend und entsetzlich: das Land, das einen der ersten großen Völkermorde dass 20. Jahrhunderts verursacht hat, verleugnet bis heute seinen Genozid. Mich empört es, wenn immer wieder Forderungen der Vertreter der türkischen Gemeinde in Deutschland, die die Massaker an den Armeniern aus dem Lehrplan entfernen möchten, weil dies die schulische Leistungen der türkischen Schüler beeinflusse und inneren Frieden gefährde. Wir stützen also durch Geschichtsfälschungen unsere „türkischen Schüler“. Was machen wir aber mit „unseren“ deutschen, kurdischen, arabischen, armenischen, russischen, persischen, polnischen, serbischen, italienischen, griechischen oder bosnischen Schülern? In der Türkei wird nach wie vor in den offiziellen Schulbüchern von den Deportationen der Armenier gesprochen, dies aber nicht als Genozid bezeichnet. Hier in Deutschland muss es aber allein auf Grund der deutschen Geschichte anders sein: Geschehenes ist Teil unserer Geschichte, und wir machen es nicht ungeschehen, indem wir es ignorieren. Gerade hier in Deutschland wissen wir, dass uns unserer Vergangenheit stellen müssen, um sie zu bewältigen und um sicher zu gehen, dass sie sich nicht wiederholt.
Wenn wir diesen Menschen das durchgehen lassen, dann machen wir uns schuldig an der türkischen Geschichtsfälschung. Und wir ermuntern Rassisten und Nationalisten, ihre kruden Ideologien zu verbreiten. Eines ist gewiss, sie werden es nicht beim Verbreiten ihrer Ideologien belassen. Das sehen wir an der Ermordung des armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink, der 2007 mitten in Istanbul ermordet wurde. Seine letzten Zeilen in der armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos lesen sich wie ein Testament. Er sehe sich furchtsam wie eine Taube. Aber er wisse, dass in diesem Land die Menschen die Tauben nicht antasten. Mitten in der Stadt könnten Tauben daher leben, umgeben von Menschenmengen, aber in Freiheit. Hrant Dink liebte das dichte Treiben in der Halaskergazi-Straße, in der die Redaktion der Agos liegt. Lediglich wenige Meter trennten ihn vom Eingang zu den Redaktionsräumen, die er nicht mehr erreichen sollte. Ein 16jähriger türkischer Nationalist erschoss ihn aus nächster Nähe. Um sicher zu gehen, dass Dink auch wirklich stirbt, feuerte er mehre Schüsse auf Dinks Kopf und Hals. Auch mitten in der Stadt konnte die Taube nicht in Sicherheit leben. Er hat sich sein Lebenslang für eine Verständigung zwischen Türken und Armeniern für ein gemeinsames, friedliches Leben in der Türkei gewünscht.
2007 werde für ihn wahrscheinlich ein schweres Jahr werden, hatte er geschrieben. Alte Verfahren würden weiter gehen, neue beginnen. „Wer weiß, mit welchen Ungerechtigkeiten ich noch konfrontiert werde?“ Sein Wunsch war es, in der Türkei zu leben. Hrant Dink starb, weil fanatische Nationalisten nicht akzeptieren wollen, dass türkische Staatsbürger sein kann, wer kein ethnischer Türke ist. Er hat aber auch immer gesagt, „mein wahrer Wunsch ist, in der Türkei zu leben“. Ich wünsche mir, dass in seinem Sinne ein friedliches und gemeinsames Leben zwischen Armeniern und Türken möglich ist. Dies wird aber nur möglich sein, wenn die Türkei auch offiziell den Völkermord an den Armeniern zugibt.
Das letzte Opfer, Sevag Balikci, wurde am 24. April 2011 von einem nationalistischen Kameraden während seines Militärdienstes erschossen.
Nicht nur in der Türkei, sondern weltweit wurde der armenische Völkermord in der Geschichte einfach ausgeblendet. Und die Armenier mit ihrem Leid alleine gelassen. Ich stehe heute vor Ihnen und verbeuge mich am 100sten Gedenktags des Genozids in tiefer Scham, Demut und Respekt vor dem Leid alle Armenier, denen ein Leben, eine Heimat und sogar ein Grab verwehrt wurden. Den Überlebenden und ihren Nachfahren verspreche ich, sie in ihrem Bestreben nach Anerkennung, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung nicht alleine zu lassen – das schulden wir allen Opfern dieses grausamen Verbrechens.
Danke
Zahide Sarikas am 24. April 2015 in Konstanz[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]