Stuttgart 21: Braucht die Politik ein neues Volk?

Foto: tilwe/flickr.com

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Seit Heiner Geißlers „Schlichterspruch“ scheint die Stimmung im Ländle gekippt. Plötzlich gibt es eine vermeintliche Mehrheit für S21, vermelden Meinungsumfragen. Warum das so ist und warum der Schlichterspruch des „heiligen Heiner“ keiner war, darauf gab Winfried („Winnie“) Wolf zum Wahlkampfauftakt der Partei DIE LINKE.Konstanz viele interessante Antworten. Sein Fazit: Es gibt Alternativen zu S21. Auch und gerade jetzt.

Moderiert von Bernhard Hanke, dem Konstanzer-LINKE-Landtagskandidaten, kommentierte Winfried Wolf, ehemaliger PDS-Bundestagsabgeordneter der PDS, jene Lügen, mit denen die Politik versuchte und versucht, Stuttgart21 als Projekt der Zukunft zu verkaufen. So ist der Schlichterspruch von Heiner Geißler für Winfried Wolf zumindest verblüffend: „In allen Bereichen der Schlichtungsgespräche gab es Punktsiege für die Gegner – und Geißler fällt diesen Schlichterspruch. Er war dazu juristisch nicht befugt – aber einen Tag später kippte die politische Stimmung im Ländle. Das war ein sehr schlauer Schachzug von den Befürwortern des Projekts.

Ich sage nicht, dass man sich nicht auf die Schlichtungsgespräche hätte einlassen sollen, denn sonst hätte man nach außen den Eindruck vermittelt, dass man sich vor der Argumentation scheut. Die letzten drei Verhandlungstage aber waren eine Katastrophe. Und als Geißler bei der Verkündung zu gewissen Punkten fragte, ob es Leute im Raum gäbe, die Einwände gegen Gesagtes hätten, da hat niemand interveniert. Der Fehler war, dass man keine Rückkoppelung mehr mit der Basis suchte“.

Eine Lüge: „Der Kopfbahnhof ist ein Hindernis für den effizienten Schienenverkehr.“

Das Argument, der Kopfbahnhof sei ein Hindernis für den effizienten Schienenverkehr, entlarvte Wolf: „Bereits 1907 hat man zur fahrgastfreundlichen Verkehrsführung einen Kopfbahnhof in Stuttgart errichtet. So sollten Fahrgäste möglichst unkompliziert ins Stadtzentrum herangeführt werden. Und man war gleich am städtischen Nahverkehr dran. Außerdem: Durchgangsbahnhöfe führten und führen häufig zur Ghettoisierung von Stadtteilen. Je nachdem, in welchem Stadtteil man lebt, wohnte man in der besseren oder schlechteren Gegend“. Auch deshalb hat man sich aus städteplanerischen Gründen gegen den Durchgangsbahnhof entschieden.“

Wolf bescheinigt, dass der Kopfbahnhof 1969 schon 40% mehr Leistung hatte als in seinem heutigen Zustand. So gab es auf den 16 Gleisen 1969 ca. 809 Zugbewegungen pro Tag, wohingegen es jetzt 650 pro Tag sind. „Würde man den Kopfbahnhof optimieren, wäre das Leistungsvolumen von 1969 wieder möglich. Dazu braucht es keinen Durchgangsbahnhof. Heute muss man nicht mal mehr die Lokomotive wechseln“, so Wolf, der als weiteres Argument anführt: „Geht man davon aus, dass die Kapazität eines Gleises auf dem Kopfbahnhof um 18 Prozent geringer die Kapazität eines Durchgangsgleises, so ergibt sich bei einem achtgleisigen Durchgangsbahnhof, der S21 werden soll, eben diese Minderung der Kapazität um 40 Prozent im Vergleich zum jetzigen Bahnhof mit 16 Gleisen.“

Die Lüge vom Stresstest

Laut Schlichterspruch soll der Stresstest nun die Frage beantworten, ob S21 hält, was seine BefürworterInnen versprechen. Winnie Wolf ist da skeptisch: „Die Bahn selbst macht diesen Stresstest mit einer Software, die nur sie kennt. Niemand von außen kann das Ergebnis unabhängig beurteilen. Ein entsprechender Ausschuss zur Lenkung des Stresstests wurde abgelehnt“. Auch das Gutachten von SMA über den städtebaulichen Nutzen von S21 zweifelt Wolf an: „Diese Firma aus der Schweiz ist völlig abhängig von Aufträgen der Bahn und deren Vertragspartnern. Wenn die Bahn wegen eines nicht genehmen Gutachtens die Geschäftsbeziehungen kappt, ist SMA pleite.“

Bolzstrecken“ top – Fläche flop

Besonders scharf kritisiert Wolf das Flächennetz der Bahn: „Das Problem ist, dass die Bahn seit Mitte der 1990er Bolzstrecken teuer ausbaut, auf denen man ziemlich schnell fahren kann. Flächenprojekte werden hingegen vernachlässigt. Ich gehe davon aus, dass S21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm zusammen 14 Milliarden kosten werden. Dieses Geld könnte man in Bahnprojekte über ganz Baden-Württemberg aufteilen.

Nach dem 2. Weltkrieg gab es in Baden und Württemberg über 5100 km Schienennetz. Heute sind es noch 3800 km. Wenn man die fehlenden Kilometer wieder reaktivieren würde, wäre das weit sinnvoller als in eine einzige Strecke zwischen Ulm und Stuttgart zu investieren. Ihr Flächennetz lässt die Bahn im Bundesgebiet regelrecht verlottern. Heute liegt die Fernverkehrsleistung der Deutschen Bahn rund 18% niedriger als 1995“.

Gegenbeispiel Schweiz

Ganz anders gehe aber die Schweiz vor: „Hier wird das vorgemacht, was ich mir für Deutschland wünsche. Ein integraler Taktverkehr wird dort praktiziert. Die Langstrecken sind vielleicht ein paar Minuten langsamer, aber die Priorität liegt auf der Fläche. In jedem Bergort mit über 3000 Einwohnern gibt es Bahnstationen, an welchen im Halbstundentakt Züge abfahren. Es gibt dort Bahnschalter, an denen man von Menschen bedient wird. Hier in Deutschland werden Automaten aufgestellt.“

Ein Umdenken hin zu regenerativen Energien.

„Durch S21 werden die Bahnmittel für Langstrecken wohl auf die nächsten zehn bis 15 Jahre gebunden sein. Mit dem Geld könnte man die Bahnstrecken vollständig elektrifizieren. In der Schweiz sind 95% des Bahnnetzes elektrifiziert, in Baden-Württemberg sind es gerade mal 50%. Wenn man zwischendurch immer mal wieder die Lok wechseln muss, um auf Diesel umzustellen, ist das nicht gerade umweltfreundlich. Strom kann man regenerativ gewinnen, fossile Energieträger nicht. Mit Umweltfreundlichkeit hat das nichts zu tun.“

So schildert Wolf in dem Zusammenhang auch, dass mehrere Tausend Menschen bereits jetzt pro Jahr aus Stuttgart wegen der schlechten Luft und der Kessellage wegziehen. Es sei nachgewiesen, dass die Gleisbette des oberirdischen Bahnhofs sogar Kälte abstrahlen, wohingegen die meisten Gebäude Wärme abstrahlen. Ein unterirdischer Bahnhof hätte diesen Vorteil nicht mehr. Auch sei offen, wie groß die in der Schlichtung verkündete Frischluftschneise wird.

Die Autoindustrie hat die Fäden in der Hand

Überhaupt, die offensichtlich auf Geklüngel ausgerichtete Bahnstrategie passt Wolf nicht: „Ich mag diese Leute nicht ,Maultaschen-Connection‘ nennen oder ,Spätzle-Connection‘. Es liegt mir fern, die Namen meiner Lieblingsspeisen für so etwas herzugeben. Dennoch, die Politik ist darauf ausgerichtet, der Autoindustrie in die Karten zu spielen und nicht den Fahrgästen der Bahn oder der Stadtplanung. Der Erfinder von S21 und Autoindustrielle Heinz Dürr antwortete 1996 auf die Frage nach der Notwendigkeit des Projekts mit: ,Ja, notwendig, können wir sagen, ist’s eigentlich nicht. Nur, es ist eine Weiterentwicklung, ein Fortschritt, dass wir Gleisanlagen, die für den Reisenden nicht mehr erforderlich sind, aufgeben und dann den Städten zur Verfügung stellen, um hier, äh, neue Entwicklungen für die Stadt zu machen.“ Wenn Gleisanlagen entfallen, wenn es nach Vorstellungen von Heinz Dürr ginge, dann steigen Leute eben auf das Automobil oder bei Fernreisen auf das Kurzstreckenflüge um. Ganz im Sinne der Autoindustrie.

Bürgerentscheide wurden abgebügelt

Zum Ende der ausgesprochen informativen Veranstaltung standen weitere Fragen im Raum: Wie kam es zum Beispiel dazu, dass der Protest erst so spät begonnen hat?

Wolf: „Seit der Verkündung des Projekts gab es Initiativen und fundierte Kritik. Über 17 Jahre entwickelte die Initiative Aktivitäten und wir bekamen mehr und mehr Unterstützer. Und auch in der Bevölkerung gab es von Anfang an kritische Stimmen zu dem Projekt. Doch neben dem Kartell der Industrie und dem der Politik gibt es auch ein Kartell der Medien. Das drückte sich auch in den beiden lokalen Zeitungen aus, die von Anfang an Stuttgart21 unterstützten. Zudem gab zwei Versuche, einen Bürgerentscheid der Stuttgarter zu ermöglichen. Einen gab es 1996. Da wurden 13.000 Unterschriften gesammelt und einen gab es ein Jahr später, da waren es 67.000 Unterschriften. Beim letzteren waren es dreimal mehr als das erforderliche Quorum. Beide Male lehnte eine Gemeinderatsmehrheit die Durchführung eines Bürgerentscheides ab, beim zweiten Mal verhinderte das Gericht zusätzlich einen Bürgerentscheid. Die damalige Behauptung, die Sache sei im Bund demokratisch entschieden worden, ist ebenfalls falsch. Die Bahn weigert sich seit 17 Jahren, das Projekt als Bundesangelegenheit zu verstehen, sondern behandelt es als Länderprojekt und Projekt der Deutschen Bahn AG.“

Ob jetzt eine landesweite Bürgerbefragung den ProjektgegnerInnen helfen könnte, beantwortete Wolf skeptisch: „Das glaube ich nicht. Leute außerhalb Stuttgarts sind weniger betroffen und gehen – gerade nach dem Schlichterspruch – mit einer ganz anderen Haltung ran. Wenn Konstanzerinnen und Konstanzer über den Bahnhof in Stuttgart entscheiden, dann wäre das wie eine Entscheidung von Stuttgarterinnen und Stuttgartern, wie der Bahnhof in Konstanz künftig aussehen soll.“

Die Politik braucht ein neues Volk

Die Behauptung der Regierenden, das Volk „hat es nicht gerafft“ und die Kommunikation pro S21 „hat nicht funktioniert“, also „trommeln wir solange auf deren Köpfe ein, bis sie es kapieren“, erinnerte den Referenten an die Haltung SED-Politbüros, die nach den Aufständen des 17. Juni 1953 bekanntgab, die Streikenden hätten „das Vertrauen in die Regierung verloren“ und sie müssten „sich dieses Vertrauen neu erarbeiten.“

Und so bezog er Bertolt Brechts Worte auf die Ereignisse vom 30. September: „Wäre es da / Nicht doch einfacher, die Regierung / löste das Volk auf / und wählte sich ein anderes?“

Winfried Wolf war von 1994 bis 2002 Bundestagsabgeordneter für die PDS und in dieser Zeit Vertreter im Verkehrsausschuss des Bundestages. Heute ist er Herausgeber der vierteljährlich erscheinenden Wirtschaftszeitung LunaPark21 und Autor von „Verkehr. Umwelt. Klima – die Globalisierung des Tempowahns“ (Wien, 2009) und zusammen mit Sabine Leidig, Gangolf Stocker und Volker Lösch Mitherausgeber des Buchs „Stuttgart 21 – Wem gehört die Stadt“ (Köln 2011)

Autor: Ryk Fechner