Mehr als eine schlichte Beziehungsgeschichte
Es ist erst drei Monate her, als die Lesung zur Neuvorstellung des Romans „Das Pferdchen“ im Theater an der Grenze in Kreuzlingen statt fand. Vor ausverkauftem Haus las der Autor A.J. Koemeda aus seinem 226-Seiten-Roman, der bekannte Akkordeonvirtuose Goran Kovacevic begleitete den Abend mit einfühlsamen Melodien.
Adolf Jens Koemeda ist in Prag geboren und aufgewachsen. Er studierte Medizin und wanderte nach dem Publikationsverbot in der damaligen CSSR in die Schweiz aus, wo er sich zum Psychoanalytiker weiterbildete. Seit mehr als zwei Jahrzehnten lebt er in seiner Thurgauer Wahlheimat am Untersee. Neben seinen Fachaufsätzen schrieb Koemeda immer schon Erzählungen, zunächst in seiner Muttersprache Tschechisch, bald auch auf Deutsch. Das belletristische Werk Koemedas umfasst neben seinen Erzählsammlungen bislang drei Romane: „Die Grenzgängerin“ (1996), „Die Rivalin“ (2004) und „Levors Reise“ (2007). Mit „Das Pferdchen“ legte er nun seinen vierten Roman vor, der sich keineswegs auf den ersten Blick erschließt.
Die Geschichte beginnt mit einer Szene in der Gefängniszelle. Die Italienerin Graziella wartet auf ihren Prozess und schreibt für Frau Dr. jur. Bosshard, die ihre Verteidigung übernommen hat, ihren ersten Bericht. „Ob ich mich schuldig fühle?“ fragt sich die Mörderin ihres Schweizer Lebensgefährten Rainer in der ersten Zeile. Nach dem Paukenschlag der Mordtat fließt die Komposition in Rückblenden wie ein breiter Fluss dahin, aber immer wieder bedrohen heimtückische Strudel das Lebensschiff der Hauptfigur.
Der Roman kann auf drei verschiedene Arten gelesen werden. Vordergründig ist es die subtil erzählte Geschichte einer Lebensgemeinschaft zweier Menschen, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Rainer, ein typischer Angeber und Aufschneider, sein Credo ist das Lockere und Leichte und Graziella, die Journalistin aus dem italienischen Ponte Tresa, bei der er den „gesunden Hang zur Oberflächlichkeit“ vermisst und dieses Manko als „ziemliche Belastung und Lebenserschwernis“ betrachtet. Er verstärkt ihre Unsicherheit bis zum Crescendo, verbietet ihr, eigenes Geld zu verdienen, betrügt sie, kündigt sogar seine gut bezahlte Stelle, um sich nicht dem schnöden Konkurrenzdruck aussetzen zu müssen und frönt seinem Ego als Surflehrer in Australien. Er lebt ausschließlich nach seinen eigenen Vorstellungen. Sie will gefallen und anerkannt werden, fühlt sich jedoch wie eine Puppe, die nur daliegt und nichts tut, keine eigenen Entscheidungen trifft. Sie hasst ihre heftige Eifersucht, flüchtet sich in Kaufrausch und Fressattacken. Anfangs will sie mithalten mit seinen sportlichen Ambitionen, bringt sich mit Ideen zu gemeinsamen Aktivitäten ein, er aber blockt ab.
Diese Lesart einer komplizierten Beziehungsgeschichte ist gut erzählt, aber zu schlicht und alltäglich. Denn Koemeda wäre nicht der Psychologe mit einer über lange Jahre erworbenen Beobachtungsgabe, wenn er keine zweite Bedeutungsebene über die 28 Berichte der inhaftierten Graziella gelegt hätte. Er sieht in den psychotischen Schüben der Protagonistin eine beginnende schizophrene Erkrankung, die sich bis zur Tötungsszene steigert. Sie wird zunehmend depressiv, hört Stimmen und verbringt Wochen untätig im Bett. Mit seinem Buch will der Autor und Psychoanalytiker dafür werben, dass seine Leser seelisch Erkrankte in ihrem Umfeld „anders verstehen: selbstverständlicher, angstfreier, besser.“
Mir erscheint jedoch auch diese zweite Ebene noch nicht die ultimative zu sein. Denn ich sehe die Problematik des Fremden in dem Roman mehr als überdeutlich aufscheinen. Die bekannte Psychoanalytikerin Julia Kristeva hat in ihrem Werk „Fremde sind wir uns selbst“ den Satz geprägt: „Keinem Ort zugehörig, keiner Zeit, keiner Liebe. Der Ursprung ist verloren, die Verwurzelung unmöglich…“ Sie beschreibt einprägsam die innere Welt der Immigranten als ein „Abgeschnittensein von dem bittersüssen Schlaf der Kindheit.“
In ihrem 22. Bericht schreibt Graziella: „…eine neue düstere Periode, einer der schwersten Lebensabschnitte in der Schweiz: keine Heimat, fremd – leider immer noch – die Sprache, die ich täglich spreche, ebenfalls mir wenig vertraut die Menschen hier …“
Der Prager Jens A. Koemeda, der vor 25 Jahren in die Schweiz übersiedelte, konnte seiner Hauptfigur eigene frühe Fremdheitserlebnisse einschreiben. Nur die dritte Lesart ist für mich in ihrer Eindringlichkeit naheliegend und überzeugend. Dennoch ist es der Leser, der das Buch in seinen Erfahrungshorizont einreihen wird.
Autorin: R.Bosch