Dichtung als Dickicht – Gedichte zum Googeln
Jochen Kelter hat einen weiteren Lyrik-Band herausgebracht: Nach der Gedichtsammlung „Hier nicht wo alles herrscht“, erschienen 2014, nun in diesem Jahr frisch das poetische Werk „Die Möwen von Sultanahmet“ mit siebzig Gedichten, je sieben in zehn Kapiteln. Schon der Titel lässt ahnen: Die neuen Gedichte beinhalten sowohl Allbekanntes und Alltägliches – hier „die Möwen“ – als auch Fremdes: hier „Sultanahmet“.
Sultanahmet ist der Name eines historischen Platzes in Istanbul. Im byzantinischen Reich war er sozialer Mittelpunkt der Hauptstadt. Hier befand sich zur Zeit des antiken Konstantinopel das Hippodrom, die Pferderennbahn. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde an derselben Stelle, unweit der Hagia Sophia, die gleichnamige Moschee gebaut und Ende des 19. Jahrhunderts das riesige Sultanahmet-Gefängnis für rund tausend Insassen. In dieser Haftanstalt waren oft Schriftsteller, Journalisten und Künstler interniert. Der Name Sultanahmet findet sich deshalb an prominenter Stelle in der neueren türkischen Literatur. Beispielsweise hat der 1938/39 und 1950 als Kommunist inhaftierte Dichter Nazım Hikmet sein Werk „Menschenlandschaften“ (Memleketimden İnsan Manzaraları) hier begonnen. 1969 wurde der Haftbetrieb eingestellt, und heute beherbergt das Gebäude das „Four Seasons Hotel Istanbul at Sultanahmet“.
Das Beispiel zeigt, dass Jochen Kelter (s. Foto) in seinem neuen Band Dichtung als Dickicht kultiviert und seinen Leserinnen und Lesern eine Vielzahl von Vorkenntnissen abverlangt. Um den weit verzweigten Verästelungen und Verwurzelungen der Gedichte folgen zu können, werden Kenntnisse vorausgesetzt – Kenntnisse auf dem Gebiet der Geografie, der Geschichte, der Literatur, der politischen und sozialen Verhältnisse, der örtlichen Beherbergungs-Möglichkeiten und Hotels; kurz: ein zusätzliches Wissen, das es zu googeln gilt.
Viele der Gedichte erweisen sich auf den ersten Blick als poetische Reise- und Verweilnotate. Sie führen in die geheimnisvollen „Oasen der Omayaden“ (S. 20); an den „Benaulim Beach“ (S. 110) im Süden des indischen Staates Goa; nach Istanbul zur Kleinen Hagia Sophia „Kücük Agyasofya“ (S. 70); ins syrische „Homs“ (S. 61); nach Spanien in die andalusischen Städte „Grenada und Jaén“ (S. 38); nach „Zagreb“ und zum „Kalemegdan“-Park in Belgrad (S. 88); zu einem der größten Plätze Europas, der„Esplanade des Quincones“ in Bordeaux (S. 50); nach Paris auf die „Avenue de Breteuil“ (S. 45), in den von Claude Monet gemalten „Parc Monceau“ (S. 46), in den „Jardin du Luxembourg“ (S. 60) und in das Einwandererviertel Goutte d’Or (S. 48). Usw.
Schweizerische und deutsche Orte sind ebenfalls Schauplatz, Rahmungsort und Inspiration der Kelter’schen Dichtung: in der Schweiz der „Silsersee“ (S. 113) des Oberengadin, „Appenzell“ und „Hohentwiel bis zum Gebirge des Säntis“ (S. 55), im Thurgauischen die Kartause „Ittingen“ (S. 30) und Kloster Fischingen (S. 31); auf der deutschen Seite des Bodensees im Badischen „Beuron“ (S. 26), „Salem“ (S. 29) und „Langensee“ (S. 81); in Ostdeutschland „Dresden“ (S. 67) und „Die Elbe bei Meissen“ (S. 68); nicht zuletzt der Geburtsort Kelters: „Köln“ und sein „Melaten“-Friedhof, der im Mittelalter Hinrichtungsstätte und Ort einer Siechenanstalt war.
Erinnerungen an Kindheit und Jugend kommen auf. Das Gedicht „Horror vacui“ beschreibt den „Kinderwunsch … / nichts möge sich rühren / bewegen verändern kippen / zum nächsten zum neuen / Unglück … / … im kleinen dunklen / Gärtchen vor dem Zimmer / der Köchin mit bloßen Fingern / alles möge für immer verharren / im Unglück …“ (S. 80). In „Missgeschick“ erscheint der „Vater der deine Träume heimsucht / vom Fenster des ersten Stocks misstrauisch / mit seinem Blick die Abstände zwischen / Stauden und Sträuchern bemisst … / … bis an / dein Lebensende wird er mit dem Rasen / seinen Pflanzen also dir kaum zufrieden sein“ (S. 109)
Die väterliche Unzufriedenheit plagt noch heute, im Alter, den Autor „nach einem Leben / das mich mit jedem Jahr / ein wenig schweigsamer / und länger überm Abgrund hält / … / da sind wohl Zweifel sehr verzweigt / an mich herangewachsen / ich spüre sie jetzt immer mehr / da ist die Liebe abgestorben / die Leidensmacht und das Begehren / …“ (S. 27). Da merkt man beim Lesen das herannahende Alter – Kelter wird im nächsten Jahr siebzig -, vernimmt ein leises, ironisches Memento mori, erahnt die elegische Attitüde der Endlichkeit, die Beschwernisse der Jahre und „Letzte Rosen“ (S. 101): „Unser Gang die Treppen hoch / aus der Metro wird schwerer / die Bewegungen aufs Kanapee / sind weniger rund wohl ähneln / sie denen von alten Leuten / … doch/ nun plagt das Knie ein Wirbel / oder angesichts der dunkelnden / Bäume im Herbst jagt die Angst / vor dem Tumor ins Hirn …“ (S. 90)
Gewiss ist die Lektüre der Gedichte Kelters keine leichte Kost, nicht zuletzt auch in denjenigen Passagen, wo seine Lyrik die schwermütige Melodie von Krankheit und körperlichen Plagen anstimmt oder den zartbitteren Ton von Zweifel und Verzweiflung. Doch gelingt es ihm, poetisch einzulösen, wofür er bei dessen Beschreibung den Konjunktiv wählt: „Ich trauerte dem blauen / Tag nicht nach dem verwesten / Winter der versengten Liebe kaum / so es gelänge ein Netz zu knüpfen / über die Tage alle Winter / das versäumte Leben kämen sie / an im Bernstein der Worte“ (S. 114).
Kelters Klagen kommen an „im Bernstein der Worte“, und so reiht sich seine Stimme ein in den Chor jener Dichter, denen er einzelne seiner Texte gewidmet hat (Johannes Poethen, Sinan Gudzevic, Volker Braun, Pedrag Matvejevic) oder die er im Gedicht „Andaluz“ besingt: „den genialischen Crnjanski / … / … den entschiedenen / den strengen genauen Lorca / … den verwirrten Crnjanski / den entschlossenen Hernándes / …“ (S. 37). Das „Andaluz“-Poem mündet ein in die stille Schlichtheit einer poetischen Nacht-Szene: „… ich schaue dem Mond / zwischen den Palmen zu wie er / wandert und wandert ich höre / die Engländer wie sie lachen / wie sie den Mond noch weglachen / hier brennt jetzt nichts mehr“.
So fraglos unschwer wie in dieser Textpassage lesen sich die Gedichte nicht durchwegs. Es würde die Lektüre um vieles erleichtert haben, hätte der Autor sich bereit gefunden, seinen Texten Anmerkungen hinzuzufügen. Ohne erläuternden Zusatz bildet ein Großteil der Texte ein schwer zu durchdringendes Dickicht. Selbst mit Hilfe von Google bleibt so manches im Dunkel des Zweifels; etwa beim „Epitaph für Marie Jenni“ (S. 100). Ob es sich bei „Marie Jenni“ vielleicht um die finnische Popsängerin Jenni Marie Vartiainen handelt, laut Wikipedia die Interpretin von „Ich will heute Nacht nicht sterben“? Wer weiß?
Rudolph Bauer
(… ist Sozialwissenschaftler, Schriftsteller und Maler. Er lebt seit 1972 in Bremen, wo er bis 2002 als Professor an der Universität tätig war und als Bildender Künstler arbeitet. Seine jüngsten Veröffentlichungen: „Flugschriftgedichte“ (2013) und „Gemischtes Herrendoppel“ (2014) mit Richard Staab.)
Jochen Kelter: Die Möwen von Sultanahmet. Gedichte. Frankfurt am Main: Weissbooks 2015. 128 Seiten. ISBN 978-3-86337-017-6. 16,90 €.
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08.01.2015 | Hier (,) nicht (,) wo alles herrscht