Der besorgte Gutmensch

seemoz-Gutmensch(2)Eigentlich lese ich den Südkurier nicht – aus unterschiedlichen Gründen, die hier nichts zur Sache tun. Seit geraumer Zeit jedoch habe ich gelegentlich die Möglichkeit, einen Blick hineinzuwerfen und jedes Mal befinde ich mich mit mir selbst im Widerstreit, ob ich mir die Leserbriefe zur Flüchtlingsdebatte zu Gemüte führen soll. Die Neugier hat bisher immer gesiegt, so viel ist sicher.

Sicher ist auch, dass mir bei der Lektüre jedes Mal die Galle hochkommt. Ich frage mich, ist das erschreckende Meinungsbild, das sich mir dort bietet, der Selektion einer auf dem rechten Auge blinden Südkurier-Redaktion geschuldet oder ist unsere technisch und wissenschaftlich fortschrittliche „christlich-abendländische“ Gesellschaft wirklich schon derartig im Abstieg begriffen? Wenn Letzteres der Fall sein sollte, so kann ich versichern, dass diese Art des Niedergangs sicherlich nicht den ankommenden Flüchtlingen geschuldet ist, sondern eher dem nicht gefundenen Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit der Menschen, die gar nicht mehr damit aufhören können, sich als meine Mitbürger zu bezeichnen.

Solidarität mit den Mitbürgern

Die innerdeutsche Nächstenliebe ist in Zeiten der „Flüchtlingskrise“ schon deutlich angestiegen, wie sich den Lesermeinungen entnehmen lässt. Jahrelang hat sich keiner um den bestehenden Mangel an sozialverträglichem Wohnraum gekümmert, geschweige denn um die studentische Wohnungsnot in Universitätsstädten – wie auch Konstanz eine ist. Doch jetzt, wo der „Feind“ und somit die einfachste und praktischste Erklärung aller Probleme quasi vor den Toren steht, wird plötzlich Solidarität mit seinen (natürlich deutschen) Mitmenschen kundgetan. Da kommen dann Vorschläge wie „Lasst doch erst mal Studenten den Vortritt bei der Vergabe leer stehender Wohnungen“ oder „Baut mehr Wohnraum für die armen Hartz-IV-Empfänger, bevor ihr uns Flüchtlingsheime vor die Nase stellt“.

Hartz-IV-Empfänger waren im Übrigen die bisherigen Erzfeinde aller Statusbewahrer und die „Sozialschmarotzer“ schlechthin, aber das nur am Rande. Darauf, dass die Wohnungsnot vorher schon bestanden hat und zwar aufgrund von Immobilienspekulation und Luxussanierung, scheint bisher noch keiner gekommen zu sein.

Man muss seine Mitbürger natürlich auch vor der drohenden Arbeitslosigkeit schützen, da die Flüchtlinge arbeiten wollen – immerhin ein Fortschritt im Denken, oder doch nur eine paradoxe Wendung eines geschlossenen Weltbilds? – und dies – natürlich – zu einem niedrigeren Lohn als die Deutschen. Dies führe zu Lohndumping, an dem natürlich die Flüchtlinge schuld sind, weil sie, um bei den besorgten Bürgern um jeden Preis ein gutes Bild vom fleißigen Arbeiter abzugeben, ihre Arbeitskraft auch für Nichts zur Verfügung stellen. Auch hier wiederum, ein Stück zu kurz gedacht. Tipp: Möglicherweise liegt das Lohndumping an unseren geliebten deutschen Großkonzernen, die so viel Gewinn wie möglich erwirtschaften wollen und denen ihre Belegschaft vollkommen egal ist, ob die nun christlich, muslimisch, schwarz, weiß oder sonst etwas ist. Wer am wenigsten kostet, bekommt den Job.

Gegen die Gutmenschen

Mein persönlicher Favorit unter den Argumenten gegen Flüchtlinge, ist jedoch die Mär vom Standard. Hier zeigt sich einmal wieder, man kann sich auch da Probleme machen, wo eigentlich keine sind. Auch das zählt immerhin zum „christlich-abendländischen“ Kulturgut. Man unterstelle den Flüchtlingen, die aus dem Elend kommen, einfach den Anspruch auf eine Unterbringung auf hohem Standard und schon haben wir ein neues schlagkräftiges Argument gegen Zuwanderung. Mithin könne Deutschland mit seinen begrenzten finanziellen Mitteln, die Standards, die die Geflüchteten einforderten, nicht erfüllen. Die Standards im Übrigen hat sich Deutschland selbst gegeben, indem es der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten ist – ja, so gutmenschliche Völkerverträge, die man vor dem Schrecken des Zweiten Weltkriegs abgeschlossen hat. Auch hier wird wieder die absurdeste Lösung des selbst geschaffenen Problems gesucht: Statt mehr Finanzmittel bereitzustellen, oder womöglich unnötig bürokratische Regelungen anzupassen, wird selbstverständlich die Reduktion der Flüchtlingszahlen gefordert. Denn wo keine Flüchtlinge, da keine Ansprüche.

Nebenher entwickelt sich der „Gutmensch“ zum Modewort schlechthin. Und der Gutmensch ist selbstverständlich kein respektierter Mitbürger. Nein, der Gutmensch ist ungefähr das Gegenteil von dem, was sich der gute Deutsche unter einem Mitbürger vorstellt. Er kommt in der Hierarchie der schlimmsten aller Bedrohungen gleich nach dem „Flüchtlings-Feind“. Denn er ist sozusagen der Kollaborateur der Flüchtlinge, der diesen hilft, Deutschland zu überrennen. Vor einigen Jahren hätte man ihn noch Volksverräter genannt. Deswegen muss man sich jetzt offiziell gegen die Gutmenschen und ihr Tun aussprechen, ähnlich wie Landrat Hämmerle das getan hat.

Nach Hämmerles zweifelhafter Äußerung springen die Trittbrettfahrer (erschreckend viele!) aus ihren Verstecken und betonen, wie sehr der Landrat ihnen aus der Seele gesprochen habe und dass das schon lange einmal gesagt werden musste. Aber man hatte bisher ja Angst, fälschlicherweise – selbstverständlich – in die rechte Ecke gestellt zu werden. Das Problem hierbei ist: Auch wenn immer mehr Menschen derselben Meinung sind, wird sie nicht weniger rechts.

Und mit Pragmatismus hat dieses Wehklagen über Probleme nun wirklich nichts zu tun. Lösungen böten sich viele. Schon eine Vielzahl an Herausforderungen ließe sich allein durch ehrenamtliches Engagement meistern. Davon gäbe es reichlich, man müsste es nur zulassen und unterstützen. Auch finanziell wäre sicher einiges machbar, wenn man nur ein bisschen über seinen eigenen Tellerrand hinausblickte und zwar ganz ohne die soziale Unterstützung anderer Bürger zu kürzen.

Einer rationalen Logik folgend müsste der Blick auf der Suche nach Geld doch zunächst zu denen wandern, die genug davon haben und nicht zu denen, denen man eh nichts mehr nehmen kann, Stichwort Reichensteuer. Aber nein, da wird dem Gutmenschen dann gleich Naivität und Realitätsferne vorgeworfen, weil man beklagt zwar alles, hat aber keine eigenen ernst zu nehmenden Vorschläge und über die Anderer will man sich erst gar keine Gedanken machen. Tja, das Leben ist kein Ponyhof und vom Weg- oder besser Abschieben von Problemen ist noch keines aus der Welt geschafft worden.

Ratlosigkeit macht sich breit

Bei fremdenfeindlichen Äußerungen glaubt man, dass man gemeinsam mehr bewirken könne – abgesehen davon, dass man sich es alleine nicht traut – und wenn es dann mal um echte politische Maßnahmen geht, fühlen sich allesamt ohnmächtig gegenüber dem System. Vor den Stärkeren hat man Angst, vor den Schwächeren braucht man keine zu haben. Das ist ein wirklich ehrbares Verhalten.

Ich als Gutmensch, um es im „Besorgten-Bürger-Jargon“ auszudrücken, mache mir Sorgen – um die besorgten Bürger. Ich glaube, sie verrennen sich da in etwas, aus dem sie so schnell nicht wieder herauskommen und das ihnen, wenn sie ihre Haltung bewahren und ihren Geist vor Neuem verschließen, am Ende schrecklich schadet. Vor 85 Jahren hat Deutschland schon einmal zugelassen, dass sich die braune Pest ausbreitet. Das Ergebnis kann man in jedem Geschichtsbuch nachschlagen – und das hat nun wirklich nichts mit Totschlag(-argumentation) zu tun, im Gegensatz zu den Verbrechen, die Nationalismus und Rassismus heraufbeschwören.

Viele wissen nicht, was sie da reden. Manche wissen es, lassen sich aber von Fakten umstimmen. Ein kleiner Teil jedoch verschließt sich bewusst vor jedem Argument. Wie man diesen helfen soll, weiß ich nicht. Vielleicht sollte ich aufhören, mich mit diesen Mitmenschen auseinanderzusetzen – oder ich kaufe mir einfach nur Magentabletten, sehr starke. Magentabletten.

Carla Farré