Der jüngste Kandidat mit der größten Aufgabe
Morgen startet der Landtagskandidat der Linken in Allensbach seine Tour über die Dörfer im Land-und Wahlkreis. Vorab sprach seemoz mit Simon Pschorr über Wohnraum-Not und Flüchtlingsflut, über die Versorgung gerade der Landgemeinden mit Ärzten oder auch nur mit Bussen. Erster Eindruck: Der junge Jurist kennt sich aus und hat Schneid. (Interviews mit den anderen KandidatInnen werden bei passendem Anlass folgen.)
Flüchtlingsunterbringung und Wohnraumnot sind zwei Seiten einer Medaille. Nicht nur in Konstanz, zunehmend auch im Landkreis. Was ist nach all‘ den Unterlassungssünden der Vergangenheit jetzt zu tun?
Diese Frage wird mir oft gestellt und das nicht ohne Grund. Die Unterbringung von Flüchtlingen wird entscheiden, ob wir als Gesellschaft Solidarität und Menschlichkeit leben, oder ob Herzlosigkeit und nackte Zahlen über unsere Moral entscheiden. Ich sage ganz klar: Deutschland kann die Flüchtlinge aufnehmen, die zu uns gelangen. Das ist nur eine sehr kleine Zahl im Vergleich zu den Vielen, die in Entwicklungsländern stranden. Aber wenn wir nicht sofort – am besten vorgestern – anfangen zu bauen, dann werden wir beide Aufgaben zugleich nicht lösen können. Für die Linke ist es keine Alternative, den Armen und Schwachen unserer Gesellschaft zugunsten Geflüchteter ihre Wohnung, ihre Lebensgrundlage zu entziehen. Wir wollen nicht, dass wir ein zweites Weimar erleben, dass diejenigen, die in unserer Wirtschaftsordnung durchs Raster fallen, ihr Heil im Fremdenhass suchen.
Wenn ich höre, wie stark die Straftaten von rechts ansteigen, wird mir übel. Um zu verhindern, dass Rassismus in Deutschland wieder hoffähig wird, müssen wir kommunizieren: Wir helfen Menschen, die zu Recht ihr Heil in der Flucht suchen, aber wir lassen die Einheimischen nicht dafür im Stich. Soziale Gerechtigkeit ist ein Gemeingut, ungeachtet der Herkunft oder der Hautfarbe. Keinesfalls hilfreich ist, Flüchtlinge wieder in den Erstaufnahme-Unterbringungen einzusperren, ihnen das Arbeiten zu verbieten und den Zugang zu Integrationsmaßnahmen zu erschweren. Wer arbeitslos ist, muss sein Geld vom Staat bekommen. Wer eingesperrt ist, kann sich nicht einbringen. Wer kein Deutsch lernen kann, wird sich in unserer komplexen Welt nicht zurechtfinden und sich niemals integrieren. Wer so mit der Bevölkerung spielt, der macht sich zum (geistigen) Brandstifter.
Aber wer soll das alles bezahlen? Wird es da nicht Zielkonflikte geben?
Natürlich fragt man sich, wer denn das bezahlen soll. Etwa wieder die kleinen Leute, so wie immer? Große Worte werden die drängenden Fragen der Gegenwart nicht lösen. Dafür brauchen wir Geld, Bereitschaft und offene Arme für alle Hilfsbedürftigen. Ein Flüchtlingssoli oder ähnliche Abgaben kommen für die Linke nicht in Frage. Ich finde, wir sollten die Reichen Deutschlands an der Finanzierung der sozialen Aufgaben wieder mehr teilhaben lassen. Hierzulande wird mit Krieg viel Geld verdient, gerade bei uns am Bodensee. Aber auch an der bitteren Armut der sogenannten dritten Welt haben wir einen Anteil. Wer also Profite macht, der sollte auch die Folgen zahlen. Wir brauchen eine höhere Einkommenssteuer für Arbeitseinkommen über einer Million € im Jahr. Darüber hinaus müssen wir Erträge aus Kapital progressiv besteuern. Ich finde, Einkommen aus Arbeit und Einkommen aus Vermögen sollen nicht unterschiedlich behandelt werden – so, wie sich die Arbeit nicht von selbst macht, so vermehrt sich das erwirtschaftete Vermögen nicht von selbst. Warum sollte man das nicht versteuern?
Neben der Wohnungsbaupolitik kommen nun auch andere Versäumnisse ans Tageslicht. Als Stichworte nur: ÖPNV von Bus und Bahn…
Wieder Probleme, die seit Jahren verschlafen wurden. Den ÖPNV nutzen hauptsächlich Menschen in Städten und ohne eigenes Auto, also zumeist mit niedrigem Einkommen. Für die Linke ist entscheidend, dass jeder sich den Bus zur Arbeit oder zur Schule leisten kann. Leider müssen wir feststellen, dass fast überall die Preise der Nahverkehrsbetriebe steigen. Dies resultiert seltener aus den hohen Preisen für Benzin und Diesel, häufiger aus dem Drängen der Trägergesellschaften, Gewinne zu machen. Dadurch sinken oder stagnieren die Fahrgastzahlen und viele steigen wieder eher auf eigene Transportmittel um. Das ist klimaschädlich und nicht für jedermann zu bezahlen. In einigen europäischen Städten wurde jetzt ein ganz anderes Modell ausprobiert: Kostenfreier Nahverkehr.
Jedermann kann dann den ÖPNV nutzen und prompt steigt die Nachfrage. Ohne Tickets braucht es keinen Fahrkartenverkauf und keine Kontrolleure, sodass auch die Kosten gesenkt werden. Natürlich: Umsonst ist nur der Tod und der kostet das Leben, sagt man in meiner Geburtsstadt Regensburg. Das muss aus Steuermitteln finanziert werden. Dann nehmen alle teil an den Kosten der sozialen Daseinsvorsorge, nicht nur die Fahrgäste. Schon heute wird der Großteil der Kosten von den Gemeinden getragen, eine egalitäre Beteiligung aller wäre damit keine Revolution.
…oder die Gesundheitsvorsorge gerade in ländlichen Gemeinden?
Besonders ältere Leute trifft es schwer, wenn ÄrztInnen aus dem Umland in die Städte gehen. Im Alter nehmen die Gebrechen zu, medizinischer Rat wird häufiger notwendig. Zugleich ist man in der Beweglichkeit immer mehr eingeschränkt, sodass jede Fahrt in die nächste große Ortschaft zur Anstrengung wird – gerade dann, wenn aus Kostengründen der ÖPNV in den Heimatort gestrichen oder auf Drei-Stundentakt reduziert wird. Wenn die Kinder oder Enkel mithelfen, mag das vielleicht noch zu schaffen sein. In unserer mobilen Arbeitsrealität ist es jedoch alles andere als selbstverständlich, dass die Kindergeneration noch dort wohnt, wo die Eltern leben.
Die Bundesregierung hat jahrelang hilflos versucht, Anreize für MedizinerInnen zu schaffen, auf dem Land zu bleiben. Dabei schreckt doch die meisten der geringe Verdienst ab: Mit den mickrigen Sätzen, die die gesetzliche Krankenversicherung für die Behandlung von Alltagsgebrechen zahlt, lässt sich eine Praxis kaum mehr betreiben. Viele ÄrztInnen sind deswegen auf eine Mischkalkulation mit PrivatpatientInnen angewiesen. Die wohnen eher selten auf dem Land, sodass viele Praxen den PrivatpatientInnen folgen – in die Städte. Eine bessere Bezahlung für die Behandlung von gesetzlich Versicherten könnte zumindest teilweise Abhilfe schaffen. Dafür müssten die Krankenkassen auf ihren Profit verzichten! Ein Tausch, der sich verkraften lässt.
Stattdessen ‚reformiert‘ der Bundesgesetzgeber die Landkrankenhäuser zu Tode. Mit dem neuen Krankenhausstrukturgesetz wird die Finanzierungsgrundlage von überwiegend kleinen Krankenhäusern erneut signifikant geschwächt und die Zentralisierung in Polikliniken und Großkrankenhäusern gefördert. Das mit einem Gesetz, dessen Ziel die Verbesserung der Krankenvorsorge sein soll? Janusköpfig. Gesundheitsvorsorge ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Wir sollten uns die Gesundheit unserer Alten, unserer Kinder und uns einiges kosten lassen. Sie ist es wert.
Ganz anderes Thema: Bei den KandidatInnen anderer Parteien ist der große Umbruch angesagt: Frau Erikli verdrängt den Grünen-Abgeordneten Lehmann, Minister Friedrich von der SPD will sich durch ein Abgeordneten-Mandat absichern. Welche Chancen hat da ein Kandidat der Linken?
Mir geht es nicht um Chancen, mir geht es auch nicht um ein Mandat. Damit möchte ich nicht sagen, dass ich keine Ambitionen hätte, in den Landtag einzuziehen. Allerdings: Für mich steht im Vordergrund, die Politik in Baden-Württemberg zu ändern. Jedes Gespräch, jede Minute auf der Straße, allein die Präsenz der Linken als Partei leistet dazu einen Beitrag. Wir sollten uns immer wieder daran erinnern, dass in einer Demokratie das Volk der Souverän ist – nicht irgendeine geschlossene Politikerkaste. Jeder und jede von uns kann Politik machen und hat Anteil an unserer gesellschaftlichen Ordnung, wenn er oder sie sich informiert und mitdiskutiert. Aber zurück zu Deiner Frage. Die Linke wird, dafür sprechen die aktuellen Umfragen, dieses Jahr zum ersten Mal in den Landtag einziehen und dafür sorgen, dass Leben in die Bude kommt. Wir werden mitgestalten und wir werden zeigen, wo sich CDU, SPD und Grüne irren. Unsere Aufgabe ist, wachzurütteln und wieder ein Gespür für die sozial Schwachen zu wecken. Ohne mahnende Stimme wird an den 50% weniger Begüterten vorbeiregiert.
Mit 23 Jahren bist Du der jüngste Kandidat im Wahlkreis Konstanz. Nachteil oder gar Vorteil?
Das wird sich herausstellen. Mir mangelt es an Lebenserfahrung, keine Frage. Ich habe noch nicht Jahre des Arbeitslebens hinter mir, dafür bin ich gerade erst durch die Instanzen des Bildungssystems durch – eine der zentralen landespolitischen Kompetenzen. Meine Vorstellungen von Welt und Gesellschaft sind nicht festgefahren und ich habe noch ein wenig Zukunft vor mir. Dafür fehlen mir womöglich Kenntnisse, wie die Älteren das Leben hier erleben. Niemand kann gleichzeitig alles sein: Alt und jung, erfahren und unverbraucht, arm und reich. Jeder ist anders und hat deswegen seinen Teil beizutragen. Wenn mir die Leute von ihrem Weg erzählen, dann kann ich sehr viel lernen und das nach Stuttgart mitnehmen.
Als Jura-Prädikats-Student kurz vor dem Examen könntest Du bald die Fliege machen. Wie sicher ist Dir eine Zukunft in Konstanz, in Deinem Wahlkreis?
Lacht. Jetzt mal den Ball flach halten. Meine Noten bekomme ich leider erst im Dezember. Bis dahin muss ich warten, wie jeder andere Absolvent auch. Ich würde mir wünschen, dass das Prädikat geklappt hat, aber das steht in den Sternen.
Ich habe vor, direkt im Anschluss an die mündliche Prüfung im Januar und im Anschluss an die Landtagswahl im März mein Referendariat in Konstanz zu beginnen. Das bedeutet, dass ich auf jeden Fall von April 2016 ab zwei Jahre im Kreis bleiben werde. So schnell habt ihr mich also nicht los.
Die Fragen stellte hpk; die Fotos machte nik
Lieber Herr Pschorr!
Dass „Zukunftsvisionen immer schwierig zu entwickeln sind“, wird vor allem in der Politik sichtbar. Soweit liegen Sie richtig. Es sei wiedermal an Schmidt-Schnautze aus Hammburg erinnert, der feststellt: „Hat einer Visionen, soll er einen Arzt aufsuchen“. Nun: Ohne ein Stück „Vision“ geht es im Leben wohl nicht – in der Politik als Vorgabe schon gar nicht. Und so hatte die Kretschmann-Crew eben auch einige Projektionen entwickelt. Davon wurden welche realisiert, andere sind noch in der Pipeline, einige blieben auf der Strecke. Alles nicht ungewöhnlich bei einer Regierung. Es kommt auf die Wertigkeit des Gesamtergebnisses einer Regierungsperiode an. Und – als nicht unwichtiger Effekt – auch auf den Landeschef und dessen Ausstrahlung „ins Volk hinein“. Da schneidet „der gemütliche, ruhige, sachliche Kretschi“ ordentlich ab, denke ich, ohne dass dies bereits einer politischen Wertung gleichkommt. Es gehört halt zu einem Land, wie B-W. Was er und seine regierenden Frauen und Mannen Positives geleistet haben, wissen Sie selbst natürlich auch. Dass das eine Opposition aus einem anderen Winkel heraus sieht, ist üblich, wenn auch nicht immer grundehrlich. Aber es ist nun mal in der Politik so. Weiter nicht schlimm. Es gibt bei uns eben unterschiedliche Parteiprofile. Daher sind Wahlen stets auch ein mögliches Korrektiv zum gegenwärtigen Stand der Dinge in einem demokratischen Land. Das ist der Maßstab, dem auch Sie sich stellen wollen. Viel Glück.
Sehr geehrter Herr Neidhart,
Eine realisierbare Zukunftsvision mit positiven Bezügen zu entwickeln ist immer schwierig. Das wird mich nicht davon abhalten, es zu tun. Ich möchte allerdings darauf verweisen, dass die Regierung Kretschmann bei Weitem nicht so erfolgreich ist, wie sie bei Amtsantritt versprach. Sie gab ihr Herz in Flüchtlingssachen, gab ihren Sachverstand bei Stuttgart 21, gab ihre egalitäre Zielsetzung in der Schulpolitik und gab ihren demokratischen Impetus bei den immer noch nicht abgeschlossenen Verhandlungen zur Reform der Gemeindeordnung ab. Ein Neustart ist abgesagt.
Gruß
Simon Pschorr
Landtagskandidat Die Linke
S. Pschorr hat die Absicht, alles anders und besser zu machen als die erfolgreiche Regierung von Kretschmann. Schwierig.
…ein wirklich informativer Diskussionsabend mit dem jungen Juristen Simon Pschorr im Weinbrunnen/Allensbach. Es ging um EU-Recht, Asyl, aber auch um Wohnen und Arbeiten am Bodensee. Nebenbei warf ich noch einen Blick auf die Wirkungsstätte des legendären Kunstmalers Otto Marquard, der nach heutigem Sprachgebrauch wohl als Fluchthelfer eingestuft würde.