Konstanzer Besucher befürchten: Droht der Türkei nach der Parlamentswahl das Schicksal Syriens?

seemoz-hdp-wahl-2015Am nächsten Sonntag sind Parlamentswahlen in der Türkei. Aus Solidarität mit unseren MitbürgerInnen mit Wurzeln in dem Land an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien steht diese seemoz-Ausgabe ganz im Zeichen dieser wichtigen Wahl. Zunächst ein Reisebericht einer achtköpfigen Gruppe aus Konstanz, die in den letzten neun Tagen auch die HDP-Zentrale in Istanbul besuchte…

„In der Nähe der Einkaufsstraße und des Taksimplatzes in Istanbul ist das HDP-Parteigebäude. Schutzmaßnahmen waren nicht sichtbar, als wir im Stadtteil Tarlabasi die HDP-Fahne sahen. Wir waren irgendwie verwundert darüber, da in den letzten Tagen einige grausame Anschläge in der ganzen Türkei auf HDP-Büros verübt worden sind.

Wir wurden ganz herzlichst empfangen von allen Personen im Parteigebäude. Im Eingang waren an einer Wand Bilder von den drei Frauen, die in Paris vor einigen Jahren ermordet wurden. Kurz nach den Morden wurde vom türkischen Staat behauptet, dass es anscheinend interne Streitigkeiten gab in der PKK und diese drei Frauen dort aktiv waren und nach Unstimmigkeiten ermordet worden sind. Aber im Nachhinein hört man viel darüber, dass der türkische Geheimdienst seine Finger im Spiel hatte.

Als wir durch das Parteigebäude liefen, haben wir sehr unterschiedliche Menschen getroffen, darunter viele Frauen. Hier arbeiten Frauen mit und ohne Kopftuch zusammen und es herrscht ein respektvoller Umgang miteinander und auch gegenüber uns waren alle sehr ehrlich zuvorkommend.

Die Gespräche wurden im Raum der Vorsitzenden geführt. Auch hier ist das Modell mit einer Frau und einem Mann an der Spitze zu sehen. Zudem wird versucht, bei Entscheidungen ein Gleichgewicht zwischen Westen und Osten einzuhalten. Dies bedeutet idealerweise: Eine Frau oder ein Mann mit türkischen Wurzeln aus dem Westen und ein Mann oder eine Frau mit kurdischen Wurzeln. Es werden natürlich bewusst auch Vertreter andere kleineren Volksgruppen mit in die Partei eingebracht. So gibt es einige Armenier, Tscherkessen, Zaza`s, etc. die aktiv in der Partei sind und sich auch auf höhere Posten aufstellen lassen können.

400 Anschläge auf HDP-Büros

Als die Gespräche dann begangen mit den beiden Co-Vorsitzenden der HDP in Istanbul kam natürlich erst der Tee und es wurde Kolonya (Kölnisch Wasser) verteilt. Die Atmosphäre war für uns alle gleich sehr positiv, auch wenn die Istanbuler Luft sehr schwül war. Im Zimmer gab es drei Bilder – zwei von diesen Personen erkannte ich. Sie waren Opfer von dem Terroranschlag in Suruc, der vermutlich von einem türkischen-islamischen Staat-Sympathisanten durchgeführt worden ist. Eine genaue Aufklärung seitens des Staates gibt es noch nicht.

Die beiden Co-Vorsitzenden erzählten vom alltäglichen Leben als PolitikerInnen, die sich gegen Ungerechtigkeiten einsetzen. Momentan machen die staatlichen Institutionen Druck gegen die Organisationen, die etwas verändern wollen. Hier sind massive Repressionen Normalität und es kommt immer wieder zu Verhaftungen. Das größte Ziel der HDP ist, den Friedensprozess weiterzuführen mit den Türken und den Kurden. Aber die Demokraten, die Kurden, die Linken und die alternativen kritischen Stimmen gegenüber der AKP und der Regierung werden als Böse dargestellt.

Grafitti: Die Gefallenen von Suruc sind unsterblich!

Grafitti: Die Gefallenen von Suruc sind unsterblich!

Bisher wurden in der gesamten Türkei über 400 Angriffe auf die HDP-Büros gezählt. Die AKP-Regierung und Staatspräsident Erdogan unternehmen nichts dagegen und versuchen sogar, die Debatten und die Vorwürfe gegen HDP und Kurden zu erhöhen. Bei den Kundgebungen der AKP-Leute gibt es immer wieder chauvinistisch und nationalistische Aussagen denen gegenüber, die eine demokratische und friedliche Gesinnung verfolgen. Es wird immer wieder behauptet, dass die HDP ein politischer Arm der PKK sei und damit wird versucht, die nationalistischen Türken für die nächsten Wahlen zu gewinnen.

Ein Freund hat letztens von seiner Marmarareise berichtet. Als er in Marmara ankam, fragte er einen Bewohner, ob es ein HDP-Parteigebäude gäbe. Der Bewohner sagte „leider ja“. Als der Freund fragte, ob es ein Anschlag gab, sagte der Bewohner „leider nein“. Dieses Stimmungsbild ist vor allem im Westen der Türkei alltäglich und die Parteifunktionäre und -helfer haben es extrem schwer, hier etwas für die Partei und damit zur Demokratisierung beizutragen.

Die Gewalt auf die HDP-Parteibüros war organisiert und die Vermutung ist groß, dass die Regierung dahinter steckt, auch deshalb, weil die Strategie der Angriffe immer die gleiche war. Nicht die Menschen aus dem Volk stehen dahinter und auch nicht Mitglieder der nationalistischen Partei MHP. Zu Beginn war die Untergruppe der MHP bei den Angriffen dabei, doch nach einer gewissen Zeit distanzierte sich die Parteiführung der MHP von diesen Angriffen. Das Positive ist, dass das Volk diese Aktionen nicht unterstützt und die Angriffe nicht mehr fortgesetzt wurden.

Die beiden Co-Vorsitzenden meinten auch, dass die momentane Situation in der Türkei der Situation in Deutschland im Jahre 1930 ähnelt, als Hitler so langsam mit seiner Partei an die Macht kam. Dies geht vor allem vom Staatspräsidenten Erdogan aus. Diesen Vergleich haben wir auch von anderen Menschen in der Türkei gehört.

Die Polizei hält sich zurück, die Medien wiegeln ab

Es wird vermutet, dass Polizeieinheiten auch bei den Anschlägen und Angriffen auf die HDP-Parteigebäude die Strippenzieher waren. Auf den Überwachungsvideos ist immer zu sehen, dass die Polizei zu Beginn der Angriffe zaghaft etwas übernehmen möchte, doch nach ein paar Minuten verschwinden sie und überlassen den Angreifern das Feld.

Ein großes Problem sind die abhängigen Medien. So ist es momentan schwer, dass überhaupt Spots von der HDP im Fernsehen laufen können. Zwar wird sehr viel über die HDP in den Medien geredet, doch kein großer Fernsehsender lädt zum Beispiel bei Diskussionsveranstaltungen HDP-Abgeordnete oder –Politiker ein. Staatliche Zuschüsse erhält die HDP auch nicht, obwohl sie seit den Juni-Wahlen im Parlament sitzt und laut Gesetz ein Anrecht auf staatliche Finanzierung haben. Das Problem ist, dass die Finanzierung erst ab dem neuen Jahr in Kraft treten würde. Somit wäre dies erst ab 2016 der Fall. Dies ist auch einer der Gründe, weshalb man die Neuwahlen so schnell durchführen möchte – in diesem Jahr am ersten November.

PARTEIEN IN DER TÜRKEI
► Die Halkların Demokratik Partisi (Abkürzung HDP, deutsch Demokratische Partei der Völker) ist eine politische Partei in der Türkei. Sie befürwortet Minderheitenrechte, insbesondere für die kurdische Minderheit.
► Die Cumhuriyet Halk Partisi (deutsch Republikanische Volkspartei, Abkürzung CHP) ist eine kemalistische und sozialdemokratische Partei in der Türkei. Sie wurde 1923 von dem ersten türkischen Präsidenten Mustafa Kemal Atatürk gegründet und ist somit die älteste aktive Partei des Landes.
► Die Adalet ve Kalkınma Partisi (auch AK Parti oder AKP; deutsch Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ist nach eigener Programmatik eine konservativ-demokratische Partei und lehnt trotz gegenteiliger Wahrnehmung eine Klassifizierung als „muslimisch-demokratisch“ ab. Beobachtern zufolge führt die AKP-Regierung jedoch zu einer stärkeren Islamisierung der Gesellschaft.
► Die Milliyetçi Hareket Partisi (MHP), auf deutsch Partei der Nationalistischen Bewegung, ist eine rechtsextreme Partei in der Türkei. Ihr Vorsitzender ist seit 1997 Devlet Bahçeli.

Nicht nur die regierungsnahen Medien machen das Leben der HDP schwer. Es sind auch die unabhängigen oder säkularen Mediengruppen, die unter dem massiven Druck der Regierung eine gewisse Selbstzensur durchführen und damit die HDP ebenfalls nicht einladen oder über sie berichten. Die HDP stellte Anzeige, doch statt sich den wirklichen Tätern zu widmen, werden auch noch die Antragsteller der HDP angezeigt oder sogar verhaftet. Somit sind viele der Anschläge in der Türkei nicht aufgeklärt und man überlegt sich ein paar Mal, ob eine Strafanzeige bei der Polizei überhaupt lohnt. Die Risiken für eine Verhaftung sind sehr groß und die Aufklärungschancen seitens der Polizei ziemlich gering.

Die anderen Parteien haben zuletzt gemeinsam im Parlament grenzüberschreitenden Militärangriffen zugestimmt. Nicht nur die AKP, sondern auch die CHP wie auch die MHP haben dafür gestimmt. Nur die HDP war dagegen. Auch hier müssten die anderen Parteien ein Zeichen setzen und den Kurdenkonflikt befrieden, aber das tun sie leider nicht.

Bezüglich der bevorstehenden Wahlen wird die HDP vermutlich nicht viel verlieren. Die Wähler, die aus Protest und zur Unterstützung bezüglich der zehn Prozent Hürde HDP gewählt haben und eigentlich CHP-Wähler sind (sozial und liberal), werden aufgrund der türkischen Identifikation wieder ihre Stimme an die CHP abgeben. Aber die vielen Anschläge und Gewalttaten vom Staat im türkischen Kurdistan, wie zum Beispiel in Cizre, Suruc, Diyarbakir und Sirnak haben vor allem den kurdischen Menschen die Augen geöffnet, die bisher die AKP gewählt haben. Diese Menschen, die vor allem unter den Repressionen leiden, bringen wiederum mehr Stimmen für die HDP.

Droht ein Bürgerkrieg?

Das Misstrauen in das politische System und den Staat ist hoch. Die politischen Prozesse in der Türkei sind nicht gleich wie in Europa. Hier sind nicht nur die Wahlen von Parteien entscheidend, sondern es kommen auch noch andere Interessen hinzu. Bei den nächsten Wahlen wird eine Koalition zwischen der AKP und der ultranationalistischen MHP wahrscheinlich. Dies wird auch zum stärkeren Türkentum in der ganzen Türkei führen und den Friedensprozess mit den Kurden vermutlich wieder schwächen.

Falls aber die Regierung (egal in welcher Konstellation) die Probleme des Landes nicht bald lösen kann, so besteht die Gefahr eines Bürgerkrieges und somit einer ähnlichen Situation wie in Syrien. Dies sollten die Europäer und die Amerikaner nicht aus den Augen verlieren. Jede bedingungslose Unterstützung an Erdogan und seiner Gefolgsleute erhöht das Risiko eines Bürgerkrieges. Die AKP wird vermutlich wieder 40 Prozent der Wählerstimmen für sich gewinnen und es werden wieder vier Parteien ins Parlament einziehen. Das zeigen momentan alle Prognosen. Wichtig wird auch sein, dass die Wahlbeteiligung sehr hoch sein sollte wie zum Beispiel bei den letzten Wahlen im Juni mit 85 Prozent.

Die Unterstützung der HDP bei den anstehenden Wahlen ist möglich durch Stimmenabgabe, wenn man berechtigt ist. Auch sind Spenden ein wichtiger Faktor, damit man noch mehr Leute erreichen kann, um die Demokratie in der Türkei durch diese wichtige Partei und den unterschiedlichsten Menschen darin zu helfen.“

Hakan