Ein anderes Weihnachten in Palästina

seemoz-Palestine-1„Ein Volk so zu behandeln wie die Palästinenser, ist nicht jüdisch. Und es ist nicht antisemitisch, dagegen zu sein.“ (Rami Elhanan, Israeli, Jude, Sohn von Holocaust-Überlebenden und Vater eines getöteten Kindes – „Parents-Circle“, Israel/Palästina). Solche Zeugnisse und Eindrücke bringt die Konstanzerin Doris Künzel von einer Begegnungs-und Solidaritätsreise nach Palästina/Israel mit.

„Eingesperrt und umgeben von hohen Mauern“

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Graffiti an der Mauer in Bethlehem. Foto: Doris Künzel

das ist kein Sinnbild, sondern Realität für die Palästinenser im Westjordanland. Der Anblick der neun Meter hohen Betonmauer, die das Westjordanland umschließt, war dann auch mein erster Eindruck, der das Gefühl von tiefer Beklemmung bis zum Ende der Reise bei mir anhalten ließ. Seit 2003 auf palästinensischem Grund erbaut, ist diese Mauer, die die israelische Regierung als Schutzwall gegen terroristische Attentäter bezeichnet, mit einer Länge von derzeit 500 Kilometer illegal. Sie verstößt gegen das Völkerrecht, so hat der Internationale Gerichtshof 2004 entschieden. Sie trennt wichtige Zufahrts- und alte Handelsstraßen, trennt ganze Familien, trennt Bauern von ihren Feldern, Schüler von ihren Schulen, Arbeiter von ihrem Arbeitsplatz und kranke Menschen von den Krankenhäusern. Ausgestattet mit 600 Checkpoints, Stacheldraht und elektrischen Anlagen, bestimmt sie den Alltag und das Leben der Palästinenser. 4,6 Millionen Euro wurden für sie veranschlagt und ihr Bau von insgesamt 760 Kilometer Länge hält bis heute unter strengster, militärischer Bewachung an.

So wurde unsere Gruppe gleich zu Beginn unserer Reise Zeuge und Teilnehmer einer Protestandacht gegen weitere Baumaßnahmen im Cremisantal nahe Bethlehem. Zehn Jahre hatte das christliche Kloster Cremisan dagegen geklagt, dass seine 0livenhaine mit bis zu zweitausend Jahre alten Bäumen dem Bau der Mauer bei Beit Jala zum Opfer fallen und 58 Familien dadurch enteignet und vertrieben werden. Vergeblich.

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Protest- und Friedensandacht bei Beit Jala. Foto: F. Fahrbach

Wie viele Tage zuvor, hatten auch an diesem Morgen die beiden Priester Akthem Hijazin und Saliba Rishmawi ihren provisorischen Altar vor der Baustelle aufgebaut. Um ihn hatten sich die betroffenen Familien, Mitglieder von Menschenrechtsgruppen und unsere Reisegruppe versammelt.

Eine große Anzahl von Militärjeeps, Soldaten mit Maschinenpistolen, Polizeifahrzeuge und Sicherheitskräften waren vor und hinter der Absperrung aufgestellt, um die Baumaßnahmen zu sichern. Bagger und Bulldozer warteten hinter einem Zaun in einiger Entfernung. Es herrschte sichtlich große Nervosität. Wir Ausländer waren hier ganz offenbar ungebetene „Zaungäste“.

Die bewegenden und zornigen Reden der Priester gegen die anhaltende Besatzung, die Enteignung der Familien und die bevorstehende Landzerstörung trieb manchem Anwesenden Tränen der Ohnmacht, Trauer und Wut in die Augen. Hilflos standen wir mit unserer Pacefahne vor den Soldaten und unser Gesang von „We shall overcome“ wurde in diesem Augenblick von den heranfahrenden Baggern und Bulldozern übertönt. Eine Woche später, so erfuhren wir, sind die Olivenbäume herausgerissen, ist das Gelände plattgewalzt, das Fundament der Mauer gegossen und das schöne Tal zerstört.

Dieser Bericht enthält lediglich meine Eindrücke, die ich auf dieser Reise gewonnen habe. Zum Israel/Palästina Konflikt existieren viele ausgezeichnete Quellen, über die sich jede/r selbst informieren kann. Fakt ist jedoch die Besatzung des Gebietes der Palästinenser seit 1967 durch Israel und seine Aufteilung in drei Verwaltungszonen, wobei Israel in allen drei Zonen ein hartes Militärrecht ausübt. Fakt ist die Abhängigkeit der Palästinenser in allen Fragen des Wassers, der Elektrizität, des Verkehrs- und Bauwesens, der Bewegungs- und Reisefreiheit von den Entscheidungen der Besatzungsmacht. Fakt ist die Abhängigkeit von der Ausbezahlung der Gelder, die Israel durch Steuern und Zölle von den PalästinenserInnen erhebt und die oft einbehalten werden. Fakt ist die 500 Kilometer lange illegale Mauer, die zu 85 Prozent auf palästinensischen Grund erbaut wurde. Fakt ist der international verurteilte, illegale Siedlungsbau Israels auf dem Gebiet der Palästinenser. Fakt ist, dass 6000 Palästinenser in israelischen Gefängnissen sitzen, mehrere Hundert davon ohne Anklage und Urteil. Fakt ist das unerfüllte Abkommen von Oslo 1993, das den Palästinensern bis 1998 einen eigenen Staat zugesichert hatte. Fakt ist auch, dass die israelische Regierung seit 2014 die Anerkennung des Existenzrechts Israels, welches die Palästinenser bereit sind anzuerkennen, nicht mehr nur als israelischen, sondern nunmehr als „jüdischen“ Staat von den Palästinensern fordert.

Beeindruckend waren für mich an diesem Vormittag das überzeugte Eintreten der beiden Priester gegen das Unrecht der Besatzung und seine Folgen für die Menschen. Dieses unbeirrbare, mutige Engagement fanden wir bei allen unseren Gesprächspartnern der von uns besuchten Friedens- und Menschenrechtsgruppen.

„ICAHD“ – Israeli Committee Against Hausing Demolation

Jessica, eine junge Israeli, Kriegsdienstverweigerin und Aktivistin, berichtet uns bei einer Fahrt durch Ost-Jerusalem über das Ausmaß und die Methoden der Hauszerstörungen bei palästinensischen Familien. Allein 562 palästinensische Häuser und Unterkünfte wurden dieses Jahr in Ost-Jerusalem und der Westbank zerstört, 27 000 Häuser insgesamt seit der Besatzung 1967. Dabei ist die Vorgehensweise für unsere Verhältnisse kaum vorstellbar: Es genügt, dass die Behörden zwei Tage zuvor ein Schreiben an die Haustüre heften mit dem Hinweis, dass das Haus abgerissen wird und die Bewohner ihre Habe zusammenpacken und das Haus verlassen sollen. Gründe dafür sind entweder die Enteignung aufgrund von „Sicherheitsinteressen“ des israelischen Staates oder, dass ein Nachweis (aus osmanischer Zeit!) für den Besitz des Grundes fehlt oder Vergeltungsmaßnahmen gegen die gesamte Familie eines Attentäters. Dann rücken nach zwei Tagen unter Militär- und Polizeiaufsicht die Bulldozer an und reißen das Haus ein. Zynischerweise erhält die Familie danach eine Rechnung für den Abriss und die Entsorgung des Schutts.

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Mit „ICAHD“ bei einem abgerissenen palästinensischen Haus. Foto: Doris Künzel

„ICAHD“ hat sich zur Aufgabe gemacht, den betroffenen Familien beizustehen, indem es mit Hilfe von Anwälten versucht, den Abriss zu stoppen und falls dies nicht gelingt, den Abriss zu blockieren. Auch wenn der Abriss nicht verhindert werden kann, so gewähren die AktivistInnen von „ICAHD“ doch moralischen Beistand und Solidarität, machen Öffentlichkeitsarbeit und versuchen, den obdachlosen Familien zu helfen.

An einem Aussichtspunkt erklärt uns Jessica anhand einer Karte den Plan der israelischen Regierung für ein „Greater Jerusalem“, bei dem um die Stadt herum systematisch neue Siedlungen gebaut werden. Sie zeigt in der Ferne in die karge Landschaft und berichtet von der Absicht der Regierung, die palästinensische Wüste von all ihren Bewohnern frei zu machen, um das Land für militärische Zwecke zu nutzen und um dort Siedlungen zu bauen. Betroffen sind 62 Prozent der Fläche des Westbankgebiets von Jerusalem, Jericho, Anata, El-Azarija und Abu Dis bis zum Toten Meer. 12.500 palästinensische Beduinen sollen der zwangsweisen Vertreibung und diesem groß angelegten „Landraub“, wie Menschenrechtsgruppen das Vorhaben nennen, zum Opfer fallen.

200 000 jüdische Siedler leben inzwischen in Ost-Jerusalem und ca. 400 000 in den Siedlungen des besetzten Westjordanlands. Sie alle sind illegal, weil nach internationalem Recht die Besatzer das Land nicht für eigene Zwecke nutzen dürfen. Trotz mehrerer UN- und EU-Resolutionen hält ihr rasanter Ausbau jedoch unvermindert an und schafft so unverrückbare Fakten. Es stellt sich mir nach diesem Vortrag, mit Blick auf die Landkarte, die Frage, wo, wenn überhaupt, denn hier jemals ein palästinensischer Staat entstehen soll.

„Rabbis for Human Rights“(RHR)

1988 gegründet, bezeichnen sich die Rabbiner für Menschenrechte als „Stimme des Gewissens“. „Tikun Olam“, bedeutet: „die Welt reparieren“ – dies sei der Grundsatz seiner Organisation, erklärt Rabbi Yehiel Grenimann bei unserem Treffen in Jerusalem. Ihr Vorbild ist Rabbi Abraham Josua Heschel, der in den USA für die Rechte der schwarzen Bevölkerung eintrat. Ein Foto im Büro von RHR zeigt ihn an der Seite von Martin Luther King auf dem berühmten Marsch von Selma (USA), 1965.

Die Arbeit von „Rabbis for Human Rights“ besteht aus Aktionen des zivilen Ungehorsams, z.B. bei Hauszerstörungen, anwaltlicher Begleitung bei Landenteignungen und dem Schutz palästinensischer Bauern bei der Olivenernte. Sie versuchen, Hassverbrechen zu verhindern und Palästinenser vor Angriffen radikaler Siedler zu schützen, beraten junge Menschen bei Kriegsdienstverweigerung und stehen ihnen bei, wenn ihnen dafür Gefängnisstrafen drohen. In ihrer Bildungsarbeit versuchen sie aufzuklären, dass die Verletzung von Menschenrechten an der palästinensischen Bevölkerung, wie sie vom israelischen Staat begangen wird, nicht mit dem Judentum vereinbar ist.

„Zochrot“ (Erinnerung) in Tel Aviv

Im Flur fällt unser Blick auf ein altes touristisches Werbeplakat „Visit Palestine“ und eine hebräische Landkarte, die mit schwarzen Punkten übersät ist. Sie kennzeichnen die 600 palästinensischen Städte und Dörfer, die 1948 von jüdischen militärischen Einheiten dem Erdboden gleichgemacht wurden. Von 950 000 palästinensischen Bewohnern wurden damals 800 000 in die Flucht getrieben.

„Um den Konflikt zu verstehen und um eine Lösung zu finden, muss die israelische Gesellschaft anerkennen, dass zur Geschichte und Staatsgründung Israels 1948 auch die „Nakba“ (arab. Katastrophe, Vertreibung der Palästinenser 1948) gehört“, so Umar Al-Ghubari, unser Gesprächspartner. Die Aufklärung und Aufarbeitung der „Nakba“ in der israelischen Bevölkerung, insbesondere bei der Jugend, die wenig von dieser Geschichte weiß, ist das Hauptanliegen von „Zochrot“.

Die Organisation unternimmt Exkursionen mit palästinensischen Zeitzeugen an die historischen Orte der Zerstörung, bei denen die Geschichte der ehemaligen Dörfer und ihrer Bewohner erzählt wird. Inmitten der verbliebenen Steine werden erneut Ortsschilder mit den palästinensischen Namen zur Erinnerung aufgestellt. Die Geschichte der Dörfer wird in Broschüren festgehalten und in Filmen werden die Aussagen der Zeitzeugen und die Exkursionen dokumentiert.

„Zochrot“ ist es untersagt, solche Filme in der Öffentlichkeit zu zeigen, und in den Schulen Israels ist es den LehrerInnen verboten, über die „Nakba“ zu sprechen. Trotz solcher Verbote setzen die AktivistInnen von „Zochrot“ unbeirrbar ihre Arbeit fort, gerade auch dadurch, dass sie versuchen, ehemalige palästinensische Dörfer wieder aufzubauen. Mit der Erstellung einer Nakba-App, mit deren Hilfe die Orte gefunden werden können, hat „Zochrot“ in Israel inzwischen viel Aufsehen erregt.

„Tent of Nations“

„Wir weigern uns Feinde zu sein“, ist auf einem großen Stein am Eingang des Grundstücks des Palästinensers Daoud Nassar zu lesen. Bevor wir das Gelände erreichen, müssen wir aus unserem Bus aussteigen und einen längeren Fußweg zurücklegen. Die Zufahrtsstraße zu Daoud Nassars Land wurde von israelischen Behörden mit Bauschutt versperrt.

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„Wir weigern uns Feinde zu sein“, Eingang „Tent of Nations“. Foto: Doris Künzel

Daoud Nassar kämpft seit 1991 um sein eigenes Land, für das er eine rechtmäßige Urkunde aus dem Jahr 1916 besitzt. 160 000 Dollar hat ihn der Rechtsstreit mit dem israelischen Staat, der auf seinem Hügel eine weitere Siedlung bauen will, bisher gekostet. Seitdem erhält Daoud Nassar keine Baugenehmigung für ein Haus, ja, noch nicht einmal für ein Zelt. Unser Gespräch mit ihm findet deshalb in einer Art Erdhöhle statt. Er erzählt, dass das Land schon immer von seiner Familie bewirtschaftet wurde und dort sowohl Oliven, Wein und Früchte angebaut wurden. Obwohl seine Familie selbst nicht auf dem Hügel leben kann, ist er dennoch gezwungen, das Land zu bewirtschaften, denn ließe er es brach liegen, würde es automatisch nach drei Jahren dem israelischen Staat zufallen. Auch mit Gewalt wurde immer wieder versucht, ihm sein Land wegzunehmen. So haben Siedler aus der Umgebung vor einiger Zeit 250 alte Olivenbäume zerstört und vom Militär wurden 1400 Aprikosenbäume kurz vor der Ernte abgeholzt.

Trotz allem weigert sich Daoud Nassar, ein Feind der Israelis zu sein. Im Gegenteil, er lädt sie auf sein Grundstück ein und inzwischen haben einige Siedler den Weg, wenn auch zunächst aus Neugierde, zu ihm gefunden. Sie sind überrascht, dass Daoud Nassar noch nicht einmal einen öffentlichen Zugang zu Wasser für seinen Landbau hat, obwohl gegenüber in der jüdischen Siedlung viele Swimmingpools mit Wasser gefüllt sind. Sie beginnen, sich für seine Geschichte zu interessieren und haben ihm auch schon ihre Hilfe angeboten. Solche Kontakte wurden ihnen jedoch vom israelischen Militär verboten.

Der Streit um Daoud Nassars Grundstück hat inzwischen internationale Öffentlichkeit erlangt. „Tent of Nations“ hat er sein Gelände genannt, auf dem er ungebrochen für jeden ausgerissenen Baum einen neuen Setzling pflanzt. Viele junge Menschen aus allen Teilen der Welt sind ihm inzwischen als Volontäre dabei behilflich. Gemeinsam mit ihnen veranstaltet er für Kinder und Jugendliche kreative Workshops, Sommercamps sowie eine Zeltschule für Bildungsarbeit. Am 05.Mai 2016 feiert er den 100. Geburtstag seines Landes und lädt die Welt dazu ein.

„Neve Shalom/Wahat al Salam“ (Oase des Friedens)

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Mosaik im Friedensdorf „Neve Schalom/Wahad al Salam“. Foto: Doris Künzel

Die Weigerung, Feinde zu sein, der Wille zur Versöhnung und zu einem friedlichen Zusammenleben auf der Basis gleicher Rechte, haben wir auf unserer Reise bei vielen Menschen und Organisationen gefunden. So waren für mich die Philosophie, die Arbeit und das Zusammenleben von 60 arabischen und jüdischen Familien im Dorf „Neve Shalom/Wahat al Salam“ (Oase des Friedens) beispielhaft.

Tief beeindruckt hat mich auch die Versöhnungsarbeit von „Parents Circle-Families Forum“, einem Zusammenschluss von israelischen und palästinensischen Eltern, deren Kinder entweder von israelischen Soldaten oder bei einem palästinensischen Attentat getötet wurden. Rami Elhanan (Israeli) und Georg Christ (Palästinenser) bezeichnen sich heute als Brüder, in deren Adern das gleiche rote Blut fließt und die den gleichen Schmerz und die gleiche Trauer über den Verlust ihrer Kinder empfinden. Bei gemeinsamen Veranstaltungen erzählen sie ihr Schicksal und fordern zur Versöhnung auf.

Auch die Bildungs- Jugend- und Frauenarbeit von „Arab Education Institut“ (AEI), der christlich palästinensischen Partnerorganisation von „Pax Christi“ und die Organisation „Dyar“ von Reverend Dr. Mitri Raheb, leisten einen unschätzbaren Beitrag in der palästinensischen Gesellschaft, die gekennzeichnet ist durch das Unrecht der Besatzung, durch Mangel, Armut, Demütigung und Diskriminierung. Insbesondere versuchen sie, der Jugend, die ohne Hoffnung und Perspektive ist, Halt, Sinn und Lebensfreude zu geben.

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Eingang zum Flüchtlingscamp Aida/Bethlehem. Foto: Doris Künzel

So positiv die Begegnung mit diesen Menschen auf dieser Reise für mich war, so bedrückend und deprimierend waren für mich die gesamte Atmosphäre und die Bilder, die dieses Land unter der israelischen Besatzung kennzeichnen: Immer wieder die aus allen Himmelsrichtungen gut sichtbare, kilometerlange Mauer mit Wachtürmen und Stacheldraht, die die Landschaft prägt. Schwer bewachte Checkpoints an den Straßen mit Sperranlagen und käfigartigen Tunnels als Durchgänge, durch die sich täglich tausende PalästinenserInnen auf ihrem Weg zur Arbeit drängen. Überall – ob in den Bazars, der Synagoge, auf den Straßen und Plätzen, unzählige, mit Maschinenpistolen bewaffnete Soldaten, deren Anblick allein Beklemmung und Furcht auslösen. Ihre massive Präsenz, insbesondere in Hebron und am Eingang des Flüchtlingslagers Aida/Bethlehem, stellt nicht nur für mich eine Provokation dar. Eine Gruppe kleiner Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren wirft aus dem Lager mit Steinen nach ihnen und der Geruch von Tränengas hängt bei unserem Besuch noch in der Luft.

Die massiven Unterschiede, die wir in den jeweiligen Ortschaften erlebten: Hier sattes Grün von Bäumen und Blumen, moderne Häuser mit Swimmingpools, Parks mit Teichen, eine gut ausgebaute Infrastruktur mit modernen Läden und Cafés in den jüdischen Siedlungen und West-Jerusalem. Dort Dürre, Staub, Müllberge (die israelische Müllabfuhr verweigert den Abtransport), Bauschutt von abgerissenen Häusern oder halbfertigen Gebäuden, provisorische, schlechte Straßen und schwarze Wassertanks auf den Häusern in den palästinensischen Gebieten. Lediglich 30-70 Liter Wasser stehen jedem Palästinenser täglich zur Verfügung, im Gegensatz zu den 300 Litern, die ein Israeli verbrauchen kann (UNO 2012). Überall ist die Armut der Menschen – 75 Prozent der PalästinenserInnen leben unterhalb der Armutsgrenze – deutlich sichtbar.

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Mauerdurchgang bei Bethlehem. Foto: Doris Künzel

Auf den nagelneuen, sauberen Straßen und Autobahnen dürfen nur Israelis und keine Palästinenser fahren, was die Polizei anhand der Nummernschilder überprüft. Palästinenser müssen deshalb oft stundenlange Umwege auf Landstraßen in Kauf nehmen, um beispielsweise in ein Krankenhaus oder zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen. Immer wieder Hinweisschilder, die entweder den Zutritt für Palästinenser oder den Zutritt für Israelis untersagen. Überhaupt, so habe ich den Eindruck, sollen Israelis keinen Kontakt zur palästinensischen Bevölkerung haben. Wo immer möglich, wird verhindert, dass sie miteinander verkehren und sich gegenseitig kennenlernen.

Kurden, Roma und Palästinenser – alle drei Völker haben auf dieser Welt keine Lobby, so schien es mir immer während meiner langjährigen Flüchtlingsarbeit. Hatte ich in der Vergangenheit die Möglichkeit, in Türkisch – Kurdistan und in Mazedonien Flüchtlingsfamilien zu besuchen und das Leben und ihre Probleme dort kennenzulernen, so hatte ich jetzt die Gelegenheit, mit der Friedensorganisation „Pax Christi“ nach Palästina zu reisen. Überzeugt haben mich das Programm mit den zahlreichen Begegnungen mit palästinensischen und israelischen Menschenrechtsgruppen, die Unterbringung bei palästinensischen Familien, aber auch die klaren Aussagen von „Pax Christi“ zum Völkerrecht und zu den Grund- und Menschenrechten des palästinensischen Volkes.

Am Ende der Reise erinnert mich die Situation an den Satz des südafrikanischen Bischofs und Friedensnobelpreisträgers Desmond Tutu vom Juni 2014, in welchem er Israel den Vorwurf eines „Apartheid-Staats“ macht: „Die Nachhaltigkeit von Israels Heimat und damit für das jüdische Volk war schon immer abhängig von seiner Fähigkeit, Gerechtigkeit für die Palästinenser zu liefern. Ich weiß aus erster Hand, dass Israel eine Apartheid-Realität innerhalb seiner Grenzen und durch seine Tätigkeit erstellt. Die Parallelen zu meinem eigenen, geliebten Südafrika sind in der Tat schmerzhaft stark.“ In einem Brief an den Deutschen Evangelischen Kirchentag vom Mai 2015 fordert Bischof Desmond Tutu deshalb den Boykott und Sanktionen gegen Israel, wie sie auch in den 80-er Jahren gegen Südafrikas Apartheidsregime von vielen Ländern verhängt wurden.

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Graffiti des Künstlers Banksy bei Beit Sahour. Foto: Doris Künzel

Zurück in Deutschland, erreichen uns wenige Tage später die Nachrichten von den Unruhen auf dem Tempelberg, den Messerangriffen junger Palästinenser auf Soldaten und Israelis. Für unsere Reisegruppe war dies vorhersehbar. In einem Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel hatten wir davor gewarnt: „Das Fehlen einer politischen Entwicklung und Israels illegale Siedlungspolitik sowie die harte und unnötige Maßnahme, palästinensische Häuser zu zerstören, haben den gewalttätigen Extremismus auf beiden Seiten erhöht.“ (Ban Ki Moon, UN Generalsekretär August 2015 nach einem tödlichen Anschlag orthodoxer jüdischer Siedler auf eine palästinensische Familie.)

Zu einer ähnlichen Einschätzung ist auch unsere Gruppe nach dieser Reise gekommen. Fehlende Perspektiven, große Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht sowie das Gefühl, in einem großen Gefängnis zu leben, lässt viele junge Palästinenser heute wieder zu Steinen und Messern greifen. Die Antwort des israelischen Staates darauf sind erneut harte Vergeltungs- und Strafmaßnahmen und vielfach auch die Ermordung dieser meist jungen Menschen ohne Anklage, Prozess und Urteil. Allen dürfte klar sein, dass dies keine Lösung ist. Was sie hingegen brauchen ist Friede, Hoffnung und eine Lebensperspektive.

Doris Künzel, Konstanz

Ein ausführliches Reisetagebuch unserer Gruppe und ein Fotokalender 2016 mit beeindruckenden Fotos über diese Reise kann zu je 7 Euro über Doris Künzel, doris.kuenzel@freenet.de oder „Pax Christi“ Augsburg, augsburg@paxchristi.de, www.augsburg.paxchristi.de, bestellt werden.

Weitere Infos:
www.icahd.org
www.nswas.com
www.rhr.org.il/eng/
www.tentofnations.org
www.theparentscircle.org
www.aeicenter.org