Zwischen Recht und Bauchgefühl

„Aktuelle Stunde – Flüchtlingskrise“ hieß der Vortragsabend an der Konstanzer Uni. Der Vorlesungssaal A701 war am Mittwoch bis auf den letzten Platz gefüllt, als Richter und WissenschaftlerInnen neue rechtliche und kulturelle Aspekte in der gegenwärtig alles beherrschenden Debatte ausmachten.

Jörg Müller sieht eine Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung des Asylrechts und den Fakten. Er erläuterte in seinem aufschlussreichen Vortrag die Unterschiede und Feinheiten der verschiedenen Formen von Asyl auf nationaler und internationaler Ebene, die sich zum Teil stark von der öffentlichen Wahrnehmung unterscheiden. Der Richter am Verwaltungsgericht Sigmaringen erzählt von den Schwierigkeiten seiner Arbeit: Bei einem Asylverfahren komme es zum großen Teil auf subjektive Kriterien an. Man müsse sich vor allem auf die Glaubwürdigkeit der Aussagen des Asylsuchenden stützen. Diese „Verhörsituation“ sei aufgrund seelischer Verletzungen und der Traumata der Betroffenen sehr heikel. Da komme es schon mal zu Bauchentscheidungen -„ich habe da sicher auch schon Fehlentscheidungen getroffen.“, räumt er ein.

Dieses Jahr seien 1,1 Milionen Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, die Verfahren würden aber nach wie vor nicht schnell genug abgearbeitet. Derzeit seien etwa 350.000 Verfahren noch nicht bearbeitet worden. Das Bundesamt für Migration (BAMF) hat zwar 4000 neue Stellen zugesagt bekommen, doch das lerne man nicht in einem Wochenendkurs. „Man kann sagen, das Bundesamt verwaltet sich gerade selbst.“ Doch sagt er, später in der Diskussion: „Das mit der Verwaltung kriegen wir hin, da mache ich mir keine Sorgen, die große Aufgabe hingegen ist die Integration.“ Das reflexhafte Verhalten der Politik auf die Ereignisse in Köln, nordafrikanische Länder zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären, hält Jörg Müller für rechtlichen Unsinn.

Welche Krise ist gemeint?

Estela Schindel ist Wissenschaftlerin im Konstanzer Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“. Sie erzählt von einem Flüchtenden, dessen Schlauchboot von maskierten, griechischen Soldaten nachts sabotiert wurde: „Sie haben die Ölleitung des Motors zerschnitten und sind weggefahren. Doch am nächsten Tag wurde das Boot von denselben Soldaten aus Seenot gerettet. Auf seine Frage weshalb sie das in der vergangenen Nacht getan hätten, wurde ihm erwidert: Wir wollen nicht, dass ihr zu uns kommt.“ Zentral ist nicht die Sabotageaktion durch das griechische Militär, denn das ist leider eine bekannte Praxis in der Ägäis. Vielmehr werde hier die Diskrepanz und Paradoxie zwischen dem Akt, die Grenze zu sichern und dabei humanitär zu bleiben, deutlich: „Abschreckung und Rettung werden von den gleichen Institutionen durchgeführt, sie sind das Objekt derselben Machtoperation. Doch beides brauchte man nicht, gäbe es legale Einreisewege.“

Schindel regte eine Reflektion des Begriff ‚Krise‘ an: „Ist die Krise die Menge an Flüchtlingen? Ist es eine Krise des Managements? Oder eine Krise unserer Kultur?“ Was sagt es über die Medien und unsere Kultur aus, wenn durch die Nennung großer Zahlen von Geflüchteten das Bedürfnis nach Grenze wächst, wohingegen ein totes Kind am Strand zur Ikone wird?

Vier Quadratmeter pro Flüchtling

Marion Mallman-Biehler von Save-me Konstanz gab einen Überblick über die Situation im Landkreis Konstanz: „Derzeit befinden sich etwa 2200 Flüchtlinge im Landkreis. In der Stadt direkt sind es fast 1000, verteilt auf vier Gemeinschaftsunterkünfte.“ Die Wohnsituation sei zum Teil sehr schlecht, vor allem in den Turnhallen. Für sie ist die Enge ein zentraler Auslöser für Konflikte in vielen Unterkünften. „Jedem Flüchtling stehen nur 4,7m² zu, in der Realität sind es meist weniger.“ Geflüchtete müssten unter Umständen bis zu zwei Jahren in einer solchen Unterkunft bleiben. „Wer da noch nicht depressiv ist, der ist es spätestens jetzt.“ Save me hat derzeit 1000 Freiwillige registriert, aktiv helfen ein paar hundert. „Wenn Sie helfen wollen, melden Sie sich bei uns. Organisieren Sie Gruppenaktivitäten, wie zum Beispiel Sportveranstaltungen.“

Langfristig rät sie Geflüchteten jedoch, Konstanz zu verlassen und sich in Gebieten wie Niedersachen oder in Ostdeutschland niederzulassen. Dieser Vorschlag erntete beim Publikum höhnische Lacher, denn das Problem mit Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit ist bekannt. Mallman-Biehler aber denkt pragmatisch: Es gebe im Landkreis, in dem der Dienstleistungssektor stark vertreten ist, zu wenig Jobchancen und der Wohnungsmarkt sei bekanntlich schlecht und teuer.

Theater kann helfen

Die Figur des Fremden, das Ankommen, die Rastlosigkeit, Ziellosigkeit und Angst – all‘ das findet sich in Gesetzen und Politik kaum wieder. Juliane Vogel, Professorin für neuere Literatur in Konstanz, lenkte den Blick in ihrem Vortrag deshalb auf eine kulturelle Institution: „Es gibt eine rasant anwachsende Theaterszene um das Thema Flucht und Asyl.“, erklärt sie, „Inzwischen gibt es zahlreiche Theaterprojekte mit, von und für Flüchtlinge.“ Auch bieten einige Theater, wie das Thalia Theater in Hamburg, Stellen für geflüchtete Menschen an: „Das Theater kann nicht nur seelische Nahrung bieten, sondern auch konkrete Hilfe und Schutz.“

In ihrem Vortrag ging Juliane Vogel auch auf das Werk Elfriede Jelineks ein. Die Schutzbefohlenen, ein Stück, das sich mit der herrschenden Flüchtlingspolitik und ihren Folgen auseinandersetzt. Theater kann also auch ein kulturelles Sprachrohr sein: „Die Figur des Flüchtlings wird so in der Öffentlichkeit sichtbar.“

Grenzen sind nur auf der Landkarte sicher

Daniel Thym, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz, referierte über den Begriff der Grenze. Diese habe sich fest in unser kulturelles Gedächtnis eingeschrieben und erscheine uns so als die natürliche Ordnungsstruktur. Ihre Bedeutung für die Flüchtlingsdebatte ist immens: „An der Grenze kristallisieren sich Hoffnung und Kritik.“ Doch sie ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. „Die Annahme, dass Staaten an der Grenze ihre Migration gesteuert haben, ist aus migrations-soziologischer Perspektive falsch“, sagt Daniel Thym, „Grenzen sind nicht der entscheidende Faktor für Migration und nur auf der Landkarte ein sicherer Ort.“ Auch auf die rechtliche Verfassung der Grenze geht er ein: „Die Staatsgrenze im Kommentartext ist über 100 Seiten lang und keiner weiß, wie das genau ausgelegt wird. Das sollte irritieren.“

Die viel beschworenen Werte, die es zu beschützen gilt, kamen in der abschließenden Diskussion zur Sprache und auch die Frage, ob Migration überhaupt steuerbar sei. Ein Raunen ging durch den Raum, als einer der Fragenden sich als Bezirksvorstand der AfD vorstellte. Er pochte auf die Unterscheidung von Integration und Bleiberecht. Jörg Müller erwiderte: „Was ist, wenn die Möglichkeit zurückzukehren in absehbarer Zeit nicht gegeben ist? Da ist es verantwortungslos, Integration zu verweigern.“

Rafael Cuenca Garcia