Offener Brief einer Syrerin an die KonstanzerInnen
In der Gemeinderatssitzung am 25. Februar verlas Bürgermeister Osner einen offenen Brief der Syrerin Lorin Mohamed. Die junge Frau lebt mit ihrer Tochter seit September in der Gemeinschaftsunterkunft in der Konstanzer Luisenstraße. Sie berichtet von ihren vielen Fluchten und ihren Hoffnungen in ihrem neuen Zuhause. Der erschütternde, dennoch optimistische Brief im Wortlaut:
„Liebe Konstanzerinnen und Konstanzer,
mein Name ist Lorin Mohamed, ich bin 25 Jahre alt und komme aus Afrin in Syrien. Seit dem 1. September wohne ich in der Gemeinschaftsunterkunft in der Luisenstraße, wo ich zur Zeit auf die Anerkennung meines Asylantrages warte.
In Syrien habe ich zwei Jahre lang an der Latakia Universität Projektmanagement studiert. Bis zum Ausbruch des Krieges. Danach war ich mit meiner Familie zweieinhalb Jahre innerhalb Syriens auf der Flucht. Wir sind wie Nomaden durch das Land gezogen. Immer wenn die Bomben kamen, haben wir uns zu anderen Verwandten aufgemacht, um das, was uns der Krieg gelassen hat, in Sicherheit zu bringen. Aber irgendwann gab es in Syrien keinen sicheren Ort mehr. Irgendwann war kein Ort mehr sicher vor der Zerstörungskraft der Bomben.
Meinem Mann und mir war klar, dass wir unserer kleinen Tochter im Krieg keine sichere Zukunft bieten konnten. Deshalb sind wir nach diesen zweieinhalb Jahren in die Türkei gegangen, weil wir hofften, dass die Lage in Syrien besser wird. Nach eineinhalb Jahren sind wir wieder nach Syrien zurückgekehrt. Wir dachten, die Lage hätte sich verbessert. Aber das Gegenteil war der Fall. Wir mussten erkennen, dass wir auf absehbare Zeit nicht in Frieden in Syrien leben können.
2015 hat sich mein Mann Hawal über Libyen auf den gefährlichen Weg nach Europa gemacht. Wir wussten, wie gefährlich der Weg über das Mittelmeer ist und wie viele Menschen dort ertrunken sind. Aber wir wussten auch: wenn wir in Syrien bleiben, werden wir sterben. So blieb‘ uns wenigstens die Hoffnung zu überleben.
Wir hofften, dass mein Mann Hawal schnell als Flüchtling anerkannt wird, damit er mich und unsere kleine Tochter Tireva möglichst schnell aus Syrien holen kann. Nachdem er auch nach mehreren Monaten keine Antwort auf seinen Asylantrag erhalten hatte, beschloss ich mich mit Tireva selbst auf den Weg zu machen. In Syrien mussten wir jederzeit fürchten den nächsten Tag nicht mehr erleben zu können.
Mit meiner drei Jahre alten Tochter Tireva bin ich über die berüchtigte Balkanroute nach Deutschland gekommen. Ich bin unendlich dankbar, hier in Konstanz vorerst eine sichere Unterkunft gefunden zu haben. Noch dankbarer bin ich aber den vielen guten Menschen, die uns hier unterstützen und uns helfen, manche Schrecken des Krieges zumindest für kurze Zeit zu vergessen. All diesen Menschen möchte ich für ihre Menschlichkeit danken.
Ich höre immer wieder, dass es auch hier Menschen gibt, die Geflüchtete nicht willkommen heißen. Bislang habe ich zwar ganz andere Erfahrungen gemacht, ich höre aber, dass jetzt auch in Konstanz Unterschriften gegen eine Flüchtlingsunterkunft gesammelt werden.
Ich will, dass diese Menschen wissen, dass wir Flüchtlinge ihnen nichts wegnehmen wollen. Wir wollen das, was sie alle auch wollen: in Frieden leben. In Syrien ist Krieg, dorthin kann ich mit meiner kleinen Familie nicht zurück.
In der langen Menschheitsgeschichte gab es immer wieder Menschen, die vor Krieg flüchten mussten. Auch viele Deutsche mussten im letzten Jahrhundert ihre Heimat verlassen.
Als in Syrien noch Frieden war, sind auch immer wieder Geflüchtete nach Syrien gekommen. Im Iran-Irak-Krieg hat meine Familie irakische Geflüchtete aufgenommen. Damals habe ich mir mit meiner Schwester ein Bett geteilt, damit die Irakis bei uns einen Platz zum Leben hatten.
Ich will nicht falsch verstanden werden. Ich erwarte von niemandem, dass sie oder er Flüchtlinge bei sich zu Hause aufnimmt. Aber ich will, dass Sie alle wissen, dass ich sehr gut weiß, wie es sich anfühlt, wenn plötzlich Fremde ins eigene Land kommen.
Vorurteile machen das Zusammenleben nicht immer einfach. Deshalb wünsche ich mir, dass wir alle miteinander in Kontakt treten, damit wir die Sorgen und Nöte des/ der Anderen besser verstehen können.
Auch unter uns Geflüchteten gibt es Menschen, die sich nicht zu verhalten wissen. Das weiß ich sehr genau. Aber diese Menschen gibt es überall. Auch in Europa gibt es Menschen ohne jeden Respekt. Und auch hier gibt es Kriminelle. Ich bitte Sie uns nicht alle „über einen Kamm zu scheren“.
Ich komme aus einem muslimischen Land. Aber ich weiß nicht einmal, wie man richtig betet. Ich gehe nicht in die Moschee. Ich bin Kurdin. Wir sind vor den Islamisten nach Europa geflohen.
Es ist paradox: der IS verfolgt uns als Ungläubige. Hier in Europa werden wir als streng religiöse Menschen wahrgenommen.
Ich bitte Sie: sortieren Sie Menschen nicht in Schubladen ein – egal ob sie Flüchtlinge sind oder nicht.
Es ist nicht leicht alles, was man sich aufgebaut hat, zurückzulassen. Noch schwerer ist es allerdings zu sehen, dass die eigene Familie auf der ganzen Welt zerstreut lebt.
Bevor wir unsere Heimat verlassen haben, hatte ich Träume. Ich wollte mein Studium beenden und unsere Tochter Tireva in meiner Großfamilie großziehen. Diese Träume sind erst einmal geplatzt.
Ich habe mir aber neue Ziele gesetzt. Ich darf seit zwei Wochen einen Deutsch-Kurs besuchen und ich werde alles dafür tun, damit ich so schnell wie möglich fließend Deutsch sprechen kann. Vielleicht kann ich ja dann hier mein Studium beenden. Auf Deutsch.
Ich danke Ihnen für Ihre Menschlichkeit.
Ihre Lorin Mohamed“