Warum Fremdenfeindlichkeit Konjunktur hat

Der spezifische, fremdenfeindliche Nationalismus, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts die EU auseinander zu treiben scheint, ist kein brandneues Phänomen. Man muss nur an die Zwischenkriegszeit denken. Auch im auslaufenden 19. Jahrhundert war er schon einmal da. Er bekam dann freilich schon bald starke Konkurrenz – von der in Europa und anderswo schrittweise etablierten Sozialpolitik, die auf sozialen Ausgleich und Umverteilung abzielte.

Wer besser verstehen will, wo wir heute stehen, sollte sich diesen Rückblick gönnen, in dem französischen politischen Denker Pierre Rosanvallon hat er einen seltenen Führer. (Die Gesellschaft der Gleichen, dt. 2013). Man kann hier lernen, in politischen Konjunkturen und weit tragenden ideologischen Konstellationen zu denken.

„Sonderabgabe für Unternehmen, die ausländische Arbeitskräfte beschäftigen; Ausweisung von Ausländern, die der Fürsorge zur Last fallen; systematische Bevorzugung von Franzosen bei der Vergabe von Arbeitsplätzen“: das waren danach die großen Anliegen des „Nationalprotektionismus“, einer einflussreichen politischen Bewegung im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts – bekanntlich eine erste Phase der Globalisierung.

„Gleichheit“ erhielt in der politischen Programmatik dieser ganz auf den Schutz und die Abschottung der eigenen „Nation“ fokussierten Strömung „eine unmittelbar ersichtliche Negativbedeutung“: Mit der hier eingeführten Ungleichbehandlung von Ausländern und Einheimischen sieht sich Gleichheit fundamental umdefiniert. Gedacht ist sie jetzt als ethnische Homogenität, als geschlossene Gesellschaft der „eigenen Leute“, in der die Klasseninteressen brüderlich-fremdenfeindlich, wenn nicht gar solidarisch-rassistisch verschmelzen. Gedacht nicht mehr als jene rechtliche und politische Gleichheit aller Bürger, wie sie die Französische Revolution einmal anvisiert hatte.

Das kommt einem alles ziemlich bekannt vor. Um bei Frankreich zu bleiben: man fühlt sich an den offensiven Front National erinnert. Aber etwas ist doch anders. Die Gegenkräfte sind geschwächt. Sie sind unglaubwürdig geworden. Damals – verstärkt mit und nach dem Ersten Weltkrieg – begann sich in Europa und in allen großen Industriestaaten des Westens eine Politik der Regulierung des entfesselten Kapitalismus durchzusetzen. Die Säulen des so entstehenden Sozialstaates sind bekannt: progressive Einkommensteuer; Selbstorganisation und kollektive Interessenvertretung der lohnabhängigen Massen, Sozialversicherung.

Das System gibt es noch. Seine Institutionen funktionieren noch. Aber die in ihren Dimensionen unhaltbare Ungleichheit der Einkommen und Vermögen, die der moderne Sozialstaat einmal zurückdrängen wollte – und für den größten Teil des 20. Jahrhundert auch tatsächlich abgebaut hat, ist wieder da. Wie vor 100 Jahren. Die Schocks der beiden Weltkriege und die Angst vor dem Kommunismus, die den Ausbau des Wohlfahrtsstaats vorangetrieben hatten, sind Geschichte. „Das Jahrhundert der Umverteilung“ (Pierre Rosanvallon) ist zu Ende.

Die „negative“ Gleichheit, die Ersatzgleichheit des völkischen Zusammenhalts auf Kosten anderer, steht so – ohne ihren gesellschaftspolitischen Antipoden – unangefochtener da als in früheren Epochen. Sonst wären ihre Protagonisten auch nicht so dreist und so populär.

Ernst Köhler