Wenn der Staatsanwalt zweimal ermittelt

seemoz-Grimme-GrässlinErst die Preisverleihung, dann der Staatsanwalt: Fast möchte man von türkischen Verhältnissen sprechen, wenn man an die Pressefreiheit in Deutschland denkt. Was ist geschehen? Gegen den auch in Konstanz bestens bekannten Friedensaktivisten Jürgen Grässlin ermittelt neuerdings die Staatsanwaltschaft. Eine kurze Chronologie eines Justizskandals, der obendrein zum Presseskandal wird.

Am 8. April nahm Daniel Harrich für sich und sein Team, zu dem auch Jürgen Grässlin als Strafanzeigen-Erstatter und Fachberater des Spielfilms „Meister des Todes“ gehört, in Marl den renommierten Grimme-Preis 2016 „für die journalistische Leistung bei der Recherche“ entgegen (s. Foto). Dessen ungeachtet ermittelt die Staatsanwaltschaft München derzeit nach Vorermittlungen der Staatsanwaltschaft Stuttgart gegen die BuchautorInnen Jürgen Grässlin, Daniel Harrich und Danuta Harrich-Zandberg, u. a. wegen Geheimnisverrats.

Eine kurze Chronologie in vier Schritten:

1. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage gegen zwei ehemalige Geschäftsführer und vier Mitarbeiter von Heckler und Koch – in fünf dieser Fälle wegen des bandenmäßigen Waffenexports von Kriegswaffen nach Mexiko.
In ihrer Anklageschrift vom 13. Oktober 2015 wirft die Stuttgarter Staatsanwaltschaft zwei ehemaligen Geschäftsführern (Joachim Meurer und Peter Beyerle) und vier ehemaligen Mitarbeitern von Heckler und Koch vor, Kriegswaffen vorsätzlich ausgeführt zu haben – ohne Vorliegen der dafür erforderlichen Genehmigung. In fünf Fällen sollen die H&K-Vertreter als „Mitglied einer Bande“ agiert haben, „die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Straftaten verbunden hat“. Gegen weitere Beschuldigte (insgesamt waren 15 Personen angezeigt) wurden die Strafverfahren eingestellt, weil kein hinreichender Tatverdacht von der Staatsanwaltschaft ermittelt wurde.

2. Ein halbes Jahr nach Anklageerhebung durch die Stuttgarter Staatsanwaltschaft müsste die Stuttgarter Justiz längst ein öffentlichen Gerichtsverfahren anberaumt haben.
Mehr als sechs Monate sind seit Erstellung der Anklageschrift vergangen – noch immer ist kein Termin für das anstehende Gerichtsverfahren anberaumt. Die Öffentlichkeit hat ein Anrecht darauf, in einem öffentlichen Verfahren vor der Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Stuttgart die rechtsstaatliche Untersuchung rund um die widerrechtlichen G36- und MP5-Exporte nach Chiapas, Chihuahua, Jalisco und Guerrero (Mexiko) mitverfolgen zu können. „Die Kammer prüft derzeit die Anklageschrift sehr intensiv“, so Bettina Gebert, Sprecherin beim Landgericht Stuttgart, auf Nachfrage

3. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart spielt mit allen juristischen und taktischen Kniffen, um eine Erweiterung des Verfahrens auf die in den G36-Gewehrdeal beteiligten Mitarbeiter der Rüstungsexport-Kontrollbehörden, Bundesausfuhramt und Bundeswirtschaftsministerium, zu verhindern.
Gegenüber Report Mainz ARD verkündete die Staatsanwaltschaft: „Die Frage eines Anfangsverdachts gegen Mitarbeiter des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie und des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle wurde in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht umfassend geprüft. Dabei ergaben sich keine konkreten Anhaltspunkte für ein strafbewehrtes Verhalten.“

„Die Staatsanwaltschaft spielt mit allen juristischen und taktischen Kniffen, um eine Erweiterung des Verfahrens zu verhindern“, sagt der Tübinger Rechtsanwalt, der im Auftrag von Grässlin die Anzeigen formulierte. Diese Einstellung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen erfolgte trotz der umfassenden Dokumentation des Zusammenspiels von Heckler und Koch, Bundesausfuhramt und Bundeswirtschaftsministerium im Buch „Netzwerk des Todes. Die kriminellen Verflechtungen von Waffenindustrie und Behörden“ (Heyne-Verlag). Eine Beschwerde gegen diesen Schritt der Staatsanwaltschaft wurde abgewiesen.

4. Rund fünfeinhalb Jahren benötigte der Stuttgarter Staatsanwalt Peter Vobiller, um die Anklage gegen einige Heckler und Koch-Beschäftigte zu formulieren. Aber nur wenige Monate nach Erscheinen des Enthüllungsbuches „Netzwerk des Todes“ leitete die Stuttgarter Staatsanwaltschaft Vorermittlungen gegen die Autoren ein – die Münchener Staatsanwaltschaft ermittelt jetzt.
Die Staatsanwaltschaft München ermittelt zurzeit gegen die drei Autorinnen – Jürgen Grässlin, Daniel Harrich und Danuta Harrich-Zandberg – wegen des Verdachts verbotener Mitteilungen über Gerichtsverhandlungen gemäß § 353d Strafgesetzbuch. Unglaublich, aber wahr: Daniel Harrich hatte der Staatsanwaltschaft zahlreiche Dokumente zur Verfügung gestellt, auf deren Basis die staatsanwaltschaftliche Klageschrift gegen Heckler und Koch verfasst werden konnte. Statt eines Dankes wird nunmehr von der Staatsanwaltschaft München gegen die Autoren des Netzwerk-Buches ermittelt.

hpk

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