Sage nie, du gehst den letzten Weg
Es war ein sehr nachdenklicher aber vor allem begeisternder Auftritt, den Esther Bejarano Mitte Mai im K9 abgeliefert hat. Zuerst las die mittlerweile 91jährige Auschwitzüberlebende aus ihrem Buch „Erinnerungen: Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen Rechts“. Im zweiten Teil folgte ein Konzert mit der Kölner Hip-Hop-Band Microphone Mafia. Hier Auszüge aus einem Interview, das das Redaktionskollektiv der Rote Hilfe Zeitung (RHZ) kürzlich mit Esther Bejarano und Kutlu Yurtseven von Microphone Mafia geführt hat.
RHZ: Esther, Musik spielte und spielt in deinem Leben eine bedeutende Rolle, allerdings in sehr unterschiedlicher Weise. Auch in den dunkelsten Jahren in den Lagern des deutschen Faschismus, wo sie sogar zum Mittel der Repression wurde. Zunächst aber mal – wie bist du zur Musik gekommen?
Esther Bejarano: Ich komme aus einem sehr musikalischen Haus. Mein Vater war Kantor in verschiedenen jüdischen Gemeinden, auch Oberkantor. Weil er eine so wunderbare Stimme hatte, sang er außerdem auch Opern. Wir hatten zuhause häufig Konzerte. Leute kamen zu uns und hörten zu, es blieben sogar Leute auf der Straße stehen um zuzuhören. Mein Vater konnte zudem wunderbar Klavier spielen, obwohl er 50% kriegsbeschädigt war und seine rechte Hand verkrüppelt war. Und so habe ich das in meinem Elternhaus eingesogen.
RHZ: Du wurdest 1941 in das Zwangsarbeitslager in Neuendorf gebracht, nachdem die Vorbereitungslager für die Alija geschlossen worden waren. Du berichtest in deinen Erinnerungen, dass ihr dort bisweilen Konzerte organisiert habt. Kannst du erzählen wie das vonstatten ging und welche Bedeutung die Musik dort für euch hatte?
E.B.: In diesem Vorbereitungslager zwecks Auswanderung nach Palästina gaben wir sehr viele Konzerte. Es gab da einen Jungen, der sehr gut Klavier spielte und eine Geigerin und ich sang. Manchmal spielte ich auch Schallplatten vor und erzählte zum Beispiel die Geschichte des Komponisten und erklärte alles, was mit der Musik zusammenhängt.
Als wir dann alle zusammen ins Zwangsarbeitslager kamen, versuchten wir solange es möglich war, diesen Geist aufrecht zu erhalten, dass man nach Palästina auswandern will. Dementsprechend sangen wir hebräische Lieder und machten auch Konzerte, allerdings dann nicht mehr mit Instrumenten, weil die dann nicht mehr vorhanden waren.
Seit vielen Jahrzehnten ist sie aktiv im Kampf gegen Nazis – mit Vorträgen an Schulen, als Mitbegründerin und Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland e.V. und vor allem in verschiedenen Musikgruppen, wie Coincidence und Microphone Mafia.
RHZ: Am 20. April 1943 kamst du nach Auschwitz. Du wurdest dort in das Mädchenorchester aufgenommen. Wie kam es dazu?
E.B.: Ich musste eine ganz schwere Arbeit leisten – schwere Steine schleppen – und ich merkte, dass meine Kräfte nachließen. In dieser Situation hörte ich, dass eine Gefangene, die polnische Musiklehrerin Tschaikowska, auf Befehl der SS nach Frauen sucht, die ein Instrument spielen können. Ich hatte schon vorher für die Blockältesten Lieder gesungen – von Mozart, Schubert und anderen Komponisten und anscheinend sagten die Blockältesten der Frau Tschaikowska, hier ist ein Mädchen, die kann sehr gut singen, vielleicht kann sie auch ein Instrument spielen. Ich konnte Klavier spielen und so meldete ich mich zusammen mit zwei Freundinnen. Die eine konnte Geige spielen und die andere Flöte. Zu mir sagte die Tschaikowska allerdings: „Klavier spielen, das geht hier gar nicht, wenn du Akkordeon spielen kannst, dann werde ich dich prüfen“. Ich dachte nur, ich muss aus dieser Kolonne raus und ich muss alles versuchen, dass ich in dieses Orchester komme. Also log ich und sagte, ja ich kann auch Akkordeon spielen. Allerdings konnte ich das gar nicht. Ich sollte den deutschen Schlager vorspielen „Du hast Glück bei den Frauen Bel Ami“. Den kannte ich, insofern war das gut. Ich sagte, ich habe schon lange nicht mehr gespielt und ich müsse mich erst mal wieder reinfinden. Ich durfte in eine Ecke gehen um zu probieren und da bin ich zum ersten Mal konfrontiert worden mit diesem Akkordeon. Ich hatte überhaupt gar keine Ahnung wie das gemacht wird, wie man darauf spielen muss. Die rechte Hand war dann ganz leicht, denn das waren Klaviertasten, die Linke das war schon schlimmer – diese Knöpfe – ich hatte überhaupt keine Ahnung wo liegt C-Dur, D-Dur, E-Dur oder G-Dur. Wenn ich nicht ein so gutes Gehör gehabt hätte, und ich das nicht alles hätte ausprobieren können, hätte ich das nicht geschafft. Ich hatte aber auch Glück, weil einer dieser Knöpfe so eingebuchtet war. Und da dachte ich, das ist bestimmt C-Dur und von da versuchte ich abzuleiten. Und siehe da – ich hab´s geschafft. Das war wie ein Wunder. Das war wirklich enorm, dass man ein Instrument spielt, das man überhaupt nicht kennt. Und die Tschaikowska – ich glaube, sie hatte eine Ahnung, dass ich noch nie Akkordeon gespielt hatte. Aber sie merkte wohl, dass ich sehr musikalisch bin und dachte, gut die nehmen wir mal auf ins Orchester. Auch meine Freundinnen wurden aufgenommen und wir kamen in die Baracke, in der alle Funktionärinnen wohnten. In dieser Baracke gab es Betten, was ja vorher gar nicht der Fall war. Wir hatten in Kojen gelebt, zu siebt oder acht zusammen. Und jetzt hatte jeder sein Bett – das war etwas Außergewöhnliches. So hat das angefangen.
RHZ: Welchen Zweck verfolgte die Lagerleitung / SS mit diesem Orchester?
E.B.: Das war schizophren. Aber sie wollten wahrscheinlich damit prahlen. Es gab zum Beispiel Obersturmführer und alle möglichen Bonzen, die ankamen in das Lager – die wollten mal sehen, wie Leute geschunden werden, wie sie ermordet werden und das Orchester gefiel ihnen natürlich gut. Ich kann von Glück sagen, dass ich niemals die Gelegenheit hatte, vor diesen Bonzen zu spielen. Weil das hätte ich sehr, sehr ungern gemacht.
Sie hatten natürlich auch noch einen anderen Grund, dieses Orchester zu errichten. Denn wir mussten stehen und spielen, wenn die Transporte ankamen, die dann direkt ins Gas fuhren. Und die Menschen haben uns zugewunken. Die dachten, wo Musik spielt, kann’s ja nicht so schlimm sein. Aber wir wussten, dass diese ganzen Transporte ins Gas gehen, die ganzen Züge. Das war der Grund, die wollten, dass die Leute ohne zu meutern in die Gaskammern gehen. Die wussten ja nicht wohin sie fahren – wir wussten das. Das war für uns eine ganz schlimme psychische Belastung.
RHZ: Hatte die Musik inmitten dieses Grauens noch irgendeine positive Bedeutung für euch, obwohl sie so entsetzlich missbraucht wurde?
E.B.: Erstens wurde die Musik missbraucht, zweitens war das alles zwangsweise. Wir taten das nicht gerne und schon gar nicht, wenn zum Beispiel Arbeitskolonnen ausmarschieren mussten und sie nach unserer Musik im Gleichschritt „Marsch Marsch“ rausgingen und am Abend auch wieder zurückkamen. Das war für uns ganz schlimm! Und noch schlimmer war es natürlich, als dann diese ganzen Transporte kamen. Es war eine zwangsweise Betätigung und wir machten diese Musik – aber nicht gern!
RHZ: Trotzdem sagst du, du hättest Glück gehabt, unter anderem weil du ins Mädchenorchester aufgenommen wurdest. Hat dir das das Leben gerettet?
E.B.: Ja, aber nicht nur. Natürlich empfand ich es als Glück, dass ich ins Orchester kam. Aber dann gab es auch bei einem Appell den Befehl, dass alle diejenigen, die arisches Blut in den Adern haben, sich bei den Blockältesten melden sollen. Die würden, wenn sie akzeptiert werden, in ein anderes Konzentrationslager kommen, das kein Vernichtungslager ist. Es gab damals für diese „Mischlinge“ – also „Halbjuden“, „Vierteljuden“, etc. – besondere Gesetze. Eine Bestimmung lautete, „Mischlinge“ dürfen nicht in einem Vernichtungslager sein. Deswegen setzte sich das internationale Rote Kreuz dafür ein, dass die „Mischlinge“ aus Auschwitz rauskommen. Und so meldeten sich 70 Frauen, die „halbarisch“ oder „halbjüdisch“ waren, oder „ein Viertel jüdisch“ … . Ich war „ein Viertel arisch“, denn ich hatte eine christliche Großmutter, väterlicherseits. Und die rettete mir eigentlich das Leben. Denn ich kam dann nach Ravensbrück. Ravensbrück war auch ein ganz, ganz schlimmes Frauen-Straflager, aber es war kein Vernichtungslager.
RHZ: Das war im November 1943. Im April 1945 wurde das Lager geräumt und ihr wurdet auf den Todesmarsch geschickt.
E.B.: Ja, wir hatten den Befehl bekommen, wir müssen raus aus dem Lager. Alle diejenigen, die noch einigermaßen laufen konnten, die noch einigermaßen gesund waren, mussten auf den sogenannten Todesmarsch gehen. Tagelang waren wir unterwegs in einer Kolonne und sind gelaufen, gelaufen, gelaufen. Es war furchtbar. Es war auch noch wahnsinnig kalt und es blieb nur, sich in Dörfern oder Städten auf die kalten Pflastersteine zu legen um sich mal ein bisschen auszuruhen. Es war eine Katastrophe. Aber das Schlimmste bei diesem Todesmarsch – und darum heißt es ja auch Todesmarsch – war natürlich, dass die SS auf beiden Seiten stand mit Gewehren. Wir sind in Siebener-Reihen gelaufen und wenn jemand hinfiel und nicht mehr so schnell aufstehen konnte, der wurde gnadenlos erschossen. Die Menschen blieben auf der Straße liegen und wir gingen weiter. Entsetzlich. Das war furchtbar.
RHZ: Zu siebt konntet ihr fliehen …
E.B.: Erst nachdem wir gehört hatten, dass ein SS-Mann zu einem anderen sagte, es dürfe nicht mehr geschossen werden. Vorher trauten wir uns das nicht. Wir warteten, bis wir durch einen Wald marschierten und dann verschwand einer nach dem anderen und versteckte sich hinter einem Baum. Noch in Ravensbrück hatten uns die kommunistischen Frauen den Tipp gegeben, Zivilkleider unter die Häftlingskleidung anzuziehen. Die Häftlinge konnten mit Brot, Wurst oder Margarine bei den Frauen, die in der Effektenkammer arbeiteten, etwas kaufen. Auch ich kaufte mir mal einen Pullover, weil ich so schrecklich fror. Als wir uns dann sammelten, zogen wir die Häftlingskleidung aus und standen in zivil da. Das war eine sehr große Hilfe für uns, denn es war gefährlich dort rumzulaufen. Man hat ja keine Ahnung gehabt, wo die Nazis sind und die hätten uns wieder zurückbringen können zu der Kolonne. Deswegen haben wir auch niemandem erzählt, dass wir aus dem KZ kamen. Im Übrigen hatten wir keine Ahnung, was die eigentlich mit uns vorhatten und wo sie uns hinbringen wollten. Wir gingen Richtung Ostsee, also dachten wir, die bringen uns an die Ostsee und dann werden sie uns dort ertränken. Und das wollten wir nicht mitmachen.
RHZ: Nach ein paar Tagen seid ihr auf amerikanische Soldaten getroffen und schließlich auf die Rote Armee. Und es gab ein gemeinsames Fest…
E.B.: Das war großartig. Wir begegneten amerikanischen Tanks und die Soldaten halfen uns auf diese Tanks. Wir zeigten ihnen unsere Nummern auf dem linken Arm. Die waren völlig informiert und freuten sich sehr, dass sie uns helfen konnten. Wir fuhren in das kleine Städtchen Lübsch in Mecklenburg. Sie luden uns in ein Restaurant ein und dort fingen wir dann an zu erzählen. Meine Freundin Irmgard konnte englisch sprechen, so wie ich, und wir erzählten was wir alles durchgemacht hatten. Bei der Gelegenheit sagte ich, dass ich in Auschwitz im Mädchenorchester Akkordeon gespielt hatte. Da dauerte es vielleicht eine halbe Stunde, dann kam ein amerikanischer Soldat mit einem Akkordeon an und sagte: „Hier das schenke ich dir“. Das war ein unheimlich schweres Akkordeon, aber ich freute mich natürlich trotzdem sehr. Wir saßen also in diesem Café und aßen und tranken und während wir so zusammensaßen, hörten wir einen großen Krach auf der Straße. Wir liefen nach draußen um zu schauen und da kam die Rote Armee einmarschiert. Und die Russen riefen: „Der Krieg ist aus! Hitler ist tot!“ Es ist unbeschreiblich – die amerikanischen und die russischen Soldaten umarmten sich und küssten sich. Wenn man sich das heute vorstellt – es war eine Freude, das zu sehen. Die verstanden sich so gut und alle waren froh, dass der Krieg nun vorbei ist. Ein russischer Soldat holte dann irgendwoher ein großes Hitlerbild, stellte es auf den Marktplatz und ein amerikanischer Soldat und ein russischer Soldate zündeten es gemeinsam an. Ein russischer Soldat rief: „Musik! Wer macht Musik?“ Ich nahm das Akkordeon und stellte mich dazu. Die anderen, die Mädchen aus dem KZ und die Soldaten, tanzten rings um dieses brennende Bild und ich spielte dazu Akkordeon! Das war meine Befreiung! Also nicht nur meine, sondern unsere Befreiung – das war großartig!
RHZ: Du hast dich dann nach Gehringshof durchgeschlagen und bist im August 1945 nach Palästina ausgewandert.
Das dauerte noch lange. Erstmal brachten die Amerikaner uns in einem kleinen Bahnwärterhäuschen unter, neben dem ein amerikanisches Camp lag und versorgten uns. Als sie abzogen, „luden“ sie uns auf einen Leiterwagen, sagten „ihr kommt mit“ und brachten uns nach Ludwigslust. Dort wohnten wir mindestens sechs Wochen bei einem Bauern. Das waren ganz wunderbare Leute. Es war für uns eine Freude, als plötzlich der Bauer zu uns kam und fragte: „Könnt ihr mir mal helfen?“ Wir sagten, natürlich, wir helfen. Wir gingen in den Garten und er fing an zu graben. Zum Vorschein kam eine riesengroße Kiste und wir halfen ihm sie hochzuheben. Er sagte zu uns: „Jetzt brauchen wir ja keine Angst mehr zu haben“. Und was war drin in dieser Kiste? Lauter Bücher, die man eigentlich verbrennen sollte. Da wussten wir, wir sind bei den richtigen Menschen angekommen.
Die Amerikaner zogen dann ab und es kamen Engländer. Wir wollten nicht in Deutschland bleiben und so erzählten wir denen, dass wir Palästinenserinnen seien und nach Palästina wollen. Sie gaben uns den Tipp, nach Bergen-Belsen zu gehen. Das war von Ludwigslust sehr weit und wir waren tagelang zu Fuß unterwegs. Als wir in Bergen-Belsen ankamen, erlebten wir eine große Überraschung, etwas, was ich nie in meinem Leben vergessen werde. Yehudi Menuhin gab dort ein Konzert für die ehemaligen Gefangenen. Das war das erste Konzert, das von jemandem aus dem Ausland gegeben wurde, für Flüchtlinge, für Menschen, die im KZ waren. Für mich war das Wahnsinn!
Wir waren nach Bergen-Belsen nur gekommen um irgendjemanden von unseren Familien zu finden. Wir fanden aber niemanden.
Um Deutschland zu verlassen, bekamen wir den Tipp, nach Gehringshof zu gehen. Das ist in der Nähe von Fulda. Gehringshof war ein früheres Vorbereitungslager zwecks Auswanderung nach Palästina, das man wieder hergerichtet hatte. Das Lager wurde „Kibbuz Buchenwald“ genannt, weil die ersten, die dort eintrafen, Männer waren, die in Buchenwald eingesperrt gewesen waren. Nach vier bis sechs Wochen dort hatten wir die Möglichkeit, Zertifikate zu bekommen. Es gab nur sehr wenige dieser Zertifikate und ich bekam ein Zertifikat nicht auf meinen Namen. Ich bin also illegal nach Palästina eingewandert und nicht nur ich, sondern auch viel andere. Wir fuhren weiter nach Marseille, wurden dort eingeschifft und kamen schließlich in Palästina an.
RHZ: Musik nach Auschwitz. Hattest du je das Gefühl, dass es für dich nach den Erfahrungen in Auschwitz, dem Missbrauch der Musik, vor allem aber von euch als Musikerinnen, nicht mehr möglich ist, zu musizieren?
E.B.: Nein nie! Im Gegenteil! Weil ich sagte, dort habe ich das alles gezwungenermaßen getan – jetzt möchte ich gerne Musik machen, so wie ich das will. Ich studierte in Israel und wurde zur Koloratursopranistin ausgebildet. Ich sang in Opern und gab viele Konzerte in Israel. Ich war auch Mitglied eines Chores. Dieser Chor, der Ron-Chor, war sehr bekannt, aber es war ein Arbeiterchor. Mit dem Ron-Chor fuhr ich 1947 nach Prag zum Internationalen Jugendtreffen. Da waren viele, viele Chöre aus der ganzen Welt hingekommen. Wir bekamen dort den dritten Preis. Von Prag aus wurden wir sofort engagiert nach Paris und gaben dann noch vier Wochen in Paris und Umgebung Konzerte. Wir fanden so großen Anklang, weil wir antifaschistische Lieder sangen – übrigens diese Lieder, die ich bis heute immer noch singe. Das war damals natürlich sehr aktuell. Interessant ist, dass wir 1947 als Palästinenserinnen nach Prag fuhren, im Namen Palästinas. 1949 fuhren wir zum Internationalen Jugendtreffen nach Ungarn, nach Budapest – als Israelis.
RHZ: Du bemühtest dich, Mitglied im Künstlerverband zu werden, um in die Künstlervermittlung zu kommen. Obwohl deine Aufnahmeprüfung großartig lief, wurdest du abgelehnt. Warum?
E.B.: Ich hörte später, dass viele Musiker in Israel es nicht verstehen konnten, dass ich nicht aufgenommen wurde. Ich hatte einwandfrei gesungen. Der Vortrag war wunderbar, aber man musste noch alle möglichen Fragen beantworten, unter anderem ob man schon in irgendeinem Chor gesungen oder Konzerte gegeben hat. Ich hatte vorher schon Konzerte gegeben und die Mitgliedschaft im Ron-Chor gab ich natürlich auch an. Und darum nahmen die mich nicht auf. Weil sie behaupteten, der Ron-Chor sei ein kommunistischer Chor. Das war kein kommunistischer Chor, das war ein Arbeiterchor. Natürlich waren da auch Kommunisten drin. Meine damalige Stimmbildnerin regte sich wahnsinnig darüber auf, genauso mein Korrepetitor. Eine Katastrophe! Das war wirklich eine Katastrophe.
RHZ: Du warst zeitweilig auch als Musikerin in der Armee.
E.B.: Ja genau. Es war damals der Unabhängigkeitskrieg. Das fand ich einen gerechten Krieg, weil wir das britische Mandat nicht mehr wollten. Wir wollten uns selbst verwalten. Und da war ich auch bereit, in den Krieg zu ziehen. Aber ich wäre natürlich nicht in den Krieg gezogen, wenn ich mit dem Gewehr in der Hand hätte kämpfen müssen. Sondern ich war eingeteilt in die Kulturabteilung. Wir hatten ein sehr schönes Trio, ein wunderbarer Flötist und einer, der sehr gut Klavier und Akkordeon spielte und ich sang. Ich sang Opern, Operetten und auch Folklore. Das war allerdings ein bisschen eine andere Folklore, weil es da große Komponisten gab, die für mich, für meine Stimme folkloristische Lieder schrieben. Schon in der Armee gab ich über 200 Konzerte. Ja, das habe ich gemacht.
RHZ: 1960 fasstet ihr schließlich den Entschluss, nach Deutschland zu ziehen.
E.B.: Dafür gab es zwei Gründe. Der erste war, dass ich das Klima nicht vertrug. Ich lebte 15 Jahre in Israel, aber jedes Jahr wurde meine Gesundheit schlechter, weil ich die Hitze nicht vertragen konnte. Der zweite Grund war, dass mein Mann nicht mehr in den Krieg ziehen wollte. Bis heute gibt es in Israel keine Kriegsdienstverweigerung und wenn er den Kriegsdienst verweigert hätte, dann wäre er in den Knast gewandert. Und das wollten wir natürlich nicht. Ich hatte mich eigentlich in Israel ganz wohl gefühlt. Es ist ein wunderschönes Land, nur die Politik, die gefiel mir nicht. Ich konnte es einfach nicht begreifen, dass dieses Volk ein anderes Volk diskriminiert. Also bissen wir in den sauren Apfel und entschlossen uns Israel zu verlassen und nach Deutschland zu ziehen. Aber ich hatte eine Bedingung: Ich sagte ich werde nach Deutschland zurückgehen, aber ich werde nicht in den Städten wohnen, in denen ich mit meinen Eltern und meinen Geschwistern zusammen gelebt habe. Das hätte ich nicht verkraftet. Wenn, dann gehe ich irgendwohin, wo ich noch nie war und da bot sich Hamburg an. Wir bekamen öfter Briefe von Freunden aus Hamburg, die sagten „es ist jetzt ein ganz anderes Deutschland, es gibt keine Nazis mehr“. Na ja gut, sagte ich, gehen wir eben nach Hamburg.
RHZ: Wie ging es denn dann in Deutschland weiter mit der Musik?
E.B.: Ich machte ganz lange überhaupt nichts. Manchmal sang ich in einem Café mit meiner Tochter zusammen jiddische Lieder, aber das war selten. Ich habe sehr sehr lange geschwiegen, habe niemandem etwas erzählt. Ich hatte seit Anfang der 70er Jahre eine Boutique und dort lernte ich Leute kennen, die in der VVN waren, die Antifaschisten waren. Die redeten mir zu, du hast soviel erlebt, du musst das unbedingt erzählen. Das geht gar nicht anders. Mein sehr guter Freund, der Journalist Günther Schwarberg, machte damals eine Reportage über mich für den Stern. Und er sagte, Esther du musst wieder anfangen zu singen. Aber ich kannte niemanden, der mich hätte begleiten können. Er hat das dann für mich arrangiert und brachte mich mit den „Schanzensymphonikern“ zusammen. Mit denen fing ich dann an zu singen und gab mein erstes Konzert. Das war Anfang der 80er Jahre. Dann kam die große Sache mit „Künstler für den Frieden“, da machte ich auch mit. Das war großartig. Da sang ich jiddische Lieder.
RHZ: Seitdem machst du wieder Musik und nun seit einiger Zeit zusammen mit Microphone Mafia.
E.B.: Aber erst hatten wir Coincidence. Das war eine wunderbare Band und es war eine echte Freude, mit denen Musik zu machen. Das war etwas ganz anderes, als jetzt mit Microphone Mafia. Als Microphone Mafia kam und fragte, ob wir mitmachen, bestand Coincidence noch, da war ja auch noch meine Tochter dabei. Allerdings nahmen die uns dann so in Beschlag, dass Coincidence dadurch gestorben ist. Aber ich sagte mir, das kann man wirklich machen um das Publikum noch zu verbreitern. Ich gehe ja viel in Schulen und wenn ich den Schülern dann erzähle, dass ich in so ’ner Rapper-Band bin, sind die immer ganz begeistert. Und ich sag ihnen dann auch, sie sollen zu den Konzerten kommen.
RHZ: Sprechen wir noch über Microphone Mafia. Eine Frage an euch gemeinsam, Kutlu und Esther: Wann habt ihr euch zusammen gefunden, wie kam es dazu und was ist eure Motivation, gemeinsam zu musizieren?
Kutlu Yurtseven: 2007 telefonierten wir zum ersten Mal und 2008 fuhr ich am internationalen Frauentag nach Hamburg. Die Geschichte war die: Der deutsche Gewerkschaftsbund kam auf mich zu und wollte innerhalb der Kampagne „Schlauer statt rechts“ Erinnerungsarbeit Jugendlichen zugänglicher machen. Ich schlug vor, wir könnten Briefe, Tagebücher und andere Texte von damals Inhaftierten rappen. Ich fand das sehr gefährlich und meinte deshalb, ich bräuchte jemanden, der mir sagt, was ich machen darf und was nicht. Daraufhin bekam ich Jorams Nummer und rief ihn an. Joram war zu Beginn sehr skeptisch und wir einigten uns darauf, dass er uns die Coincidence-CD schickt und wir daran arbeiten. Das taten wir und Joram fand vor allem die Texte super. Also sagte er: „Jetzt kannst du Mutti anrufen.“ Ich rief Mutti dann an und meldete mich: „Hier ist der Kutlu von der Microphone Mafia.“ Da war erstmal Totenstille und dann fragte sie: „Warum ruft die Mafia bei mir an?“ Ich erklärte dann, wir seien eine Musikband, die einzige Mafia, die die Welt braucht. Und da sagte sie: „Das ist ein wirklich bekloppter Bandname.“ Daraufhin fuhr ich nach Hamburg und wir verstanden uns sofort. Esther meinte, mit uns erreiche sie die Jugend, das könnte interessant sein. Wir begannen Pläne zu schmieden und zunächst sechs Lieder zu machen. Aus den sechs Liedern wurden zwei Alben und wir wollten auch nur ein paar Konzerte spielen, aber nun hat das jegliche Dimension gesprengt, die wir uns vorgenommen hatten. So hatte dieses Abenteuer begonnen. Zuerst war es ein Abenteuer, dann ein Projekt und jetzt ist es eine kleine Familie.
E.B.: Der eigentliche Grund war, dass wir eine CD aufnehmen wollten, um sie in die Schulen zu bringen. Dabei wollte der DGB uns helfen. Wir wollten etwas gegen diese schrecklichen CDs von den Nazis geben und das ist uns auch gelungen.
RHZ: Was sind eure Aktionsfelder. Bei welchen Gelegenheiten tretet ihr auf, sind das vor allem Veranstaltungen mit politischem Hintergrund, wo es um das Erinnern geht?
E.B.: Erstmal ist es wirklich Erinnerung. Wir müssen immer dafür sorgen, dass die Leute nicht vergessen, was damals geschah. Deswegen machen wir das. Dafür haben wir bestimmte Lieder, aber wir wollen das auch vermischen. Auch was heute passiert, kommt bei uns zur Sprache – zum Beispiel was wir jetzt sehen mit den Flüchtlingen. Weil jeder von uns eine bestimmte Vergangenheit hat – auch die Rapper haben ja eine Vergangenheit, in der sie den Rassismus am eigenen Leib gespürt haben – harmonieren wir sehr gut. Das ist ein sehr guter Zusammenhalt.
K.Y.: Da wo wir hinkommen, bestimmen wir das Thema. Da zieht natürlich schon Esther. Wir werden überall gebucht, auf Antira-Festivals (Antirassismus-Festivals, Anm.d.Red.), in Schulen bei Rechtsradikalismus-Projekten, aber auch bei ganz normalen Festivals. Da geht es vielleicht um anspruchsvolle Musik und die Leute gehen erstmal von der Musik aus. Aber wenn wir da hinkommen, bekommen sie die Themen mit und dann wird es indirekt immer zu einer Erinnerung und Wachsamkeitsaufgabe. Also wir sind überall – oder fast überall.
E.B.: Zu unserem Programm gehört auch, dass ich eine Lesung mache und nach der Lesung wird das dann alles ein bisschen gelockert. Wir wollen nicht, dass die Menschen gedrückt aus einem Abend kommen, sondern wir wollen, dass sie selbst dazu kommen, etwas zu tun. Und das gelingt uns. Es kommen andauernd Leute hinterher zu mir, die sagen, ihr habt uns Mut gemacht, jetzt werden wir politisch arbeiten und etwas tun. Und dann sagen sie natürlich immer, du bist unser Vorbild. Ich meine, was Schöneres kann’s ja überhaupt gar nicht geben.
RHZ: Du hast neben deinem musikalischen Engagement auch zwei Bücher geschrieben und deine Geschichte erzählt. Ein Auslöser für das Schreiben war ein Infostand vor deiner Boutique …
E.B.: Das war so: Ich stand in meiner Boutique und sah, dass draußen ein Infostand aufgebaut wird. Ich ging hin, um zu schauen wer das ist und es war die NPD. Sie hatten Zettel mit allen möglichen schrecklichen, antisemitischen, ausländerfeindlichen Slogans. Und ich dachte, mein Gott wo sind wir denn? Kurz darauf traf dann eine Demonstration gegen die Nazis ein. Die Demonstranten trugen Transparente, auf denen stand „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ und die stellten sich da hin. Ich freute mich wahnsinnig. Aber dann kam die Polizei, postierte sich vor die Nazis und schützte sie. Es stand auch schon die grüne Minna da. Ich sagte, das gibt’s ja wohl gar nicht. Ich ging zu einem Polizisten, packte ihn am Revers und sagte „sagen Sie mal, was machen Sie eigentlich hier. Sie schützen diese Leute? Das sind doch die Nazis, das sind doch diejenigen, die Deutschland ins Unglück gebracht haben. Und die schützen Sie? Schützen Sie doch lieber die Leute, die demonstrieren gegen diese Nazis!“ Das taten sie aber nicht. Stattdessen gingen sie mit Knüppeln auf die Leute los, nahmen einige von ihnen fest und verfrachteten sie in die grüne Minna. Und ich hatte den immer noch gepackt, da sagte der zu mir: „Lassen Sie mich sofort los, sonst werde ich Sie verhaften!“ Ich antwortete ihm: „Das können Sie ruhig tun. Verhaften Sie mich. Ich habe Schlimmeres erlebt. Ich war in Auschwitz.“ Da mischte sich einer von den Nazis ein und sagte: „Die müssen Sie jetzt verhaften. Diese Frau ist eine Verbrecherin. Wenn die in Auschwitz war, ist sie eine Verbrecherin. In Auschwitz gab es nur Verbrecher.“ Das hat mir genügt. Da habe ich mir gesagt: So, jetzt muss ich etwas tun. Jetzt muss ich anfangen, meine Geschichte zu erzählen. Und ich fing an mein Manuskript zu schreiben.
Und jetzt ist es noch viel schlimmer und es wird immer noch schlimmer mit Pegida und mit diesem ganzen Mist. Dieser Mittelstand, die kommen jetzt aus ihren Löchern raus und vereinen sich mit Pegida und das ist ganz gefährlich. Und diese neue Partei, AfD, die sind auch unmöglich. Und die Nazis haben die in der Hand. Da kommt etwas auf uns zu, von dem wir dachten so etwas kann nie wieder passieren. Und das Schlimme ist, dass es nicht nur in Deutschland so ist. Ich weiß nicht, wohin das driftet. Und wenn wir nicht etwas dagegen tun – auf die Regierung kann man sich nicht verlassen. Die tun gar nichts. Es steht doch im Grundgesetz schwarz auf weiß „Alle Nachfolgeorganisationen der NSDAP sind verboten. Alle Nazischriften sind verboten“. Ja, warum sind sie dann nicht verboten?
RHZ: Umso wichtiger, dass es Leute wie dich gibt, die keine Ruhe geben.
E.B.: Ich bin sehr froh, dass ich das mache, weil ich sehe, dass sich Leute mit engagieren. Zum Beispiel haben wir im Auschwitz-Komitee viele junge Leute und natürlich viele Kinder von ehemaligen Verfolgten, wie zum Beispiel unsere zweite Vorsitzende. Denn wer ist denn noch im Auschwitz-Komitee, der in Auschwitz war – da bin ich die einzige.
Alija: Bezeichnet die jüdische Einwanderung nach Palästina bzw. seit 1948 nach Israel. Die verschiedenen Einwanderungswellen seit dem 19. Jhd. werden nummeriert. Erste Alija: 1882 – 1903, Zweite Alija 1904 – 1914: vor allem Pol*innen und Russ*innen, Dritte Alija 1919 – 1923: hauptsächlich Russ*innen, Vierte Alija 1924 – 1931: Einwanderung vor allem aus Polen und der Sowjetunion, Fünfte Alija 1932 – 1938: Einwanderung vor allem aus Deutschland, Alija Bet 1939 – 1947: Einwanderung von Verfolgten aus Deutschland während der Zeit des deutschen Faschismus – trotz Hürden der britischen Regierung.
Bergen-Belsen: Nach der Befreiung errichtete die britische Armee in einer ehemaligen Wehrmachtskaserne in der Nähe des Konzentrationslagers ein „Displaced Persons Camp“. Der Status „Displaced Person“ (DP) sicherte den überlebenden KZ-Häftlingen und Zwangsarbeiter*innen einen Anspruch auf besondere Fürsorge. Das Camp bestand bis September 1950. In Bergen-Belsen hingen Listen aus mit den Namen Überlebender.
Zertifikate: Die britische Mandatsregierung vergab Zertifikate um die Einwanderung nach Palästina zu steuern, bzw. einzuschränken.
Günther Schwarberg (1926–2008): Viele Jahre Journalist beim stern; ihm ist es zu verdanken, dass die Namen von 20 jüdischen Kindern nicht in Vergessenheit geraten sind, die am 20. April 1945 im Keller der Schule am Bullenhuser Damm (ein Außenlager des KZ Neuengamme) von SS-Männern ermordet wurden. An ihnen wurden grausame medizinische Experimente ausgeführt und um dies im Zuge der Lagerräumung zu vertuschen, mussten die Kinder sterben. Günther Schwarberg suchte in aller Welt nach überlebenden Angehörigen und gründete mit ihnen schließlich die Vereinigung Kinder vom Bullenhuser Damm. Die Schaffung der Gedenkstätte am Bullenhuser Damm mit dem benachbarten Rosengarten geht auf die Initiative dieser Vereinigung zurück. In dem Buch Der SS-Arzt und die Kinder vom Bullenhuser Damm beschreibt er das Schicksal der Kinder.
Weiterführende Literatur:
Esther Bejarano: Erinnerungen. Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen rechts. Laika Verlag, September 2013. ISBN 978-3-944233-04-8
Esther Bejarano und Birgit Gärtner: Wir leben trotzdem: Esther Bejarano – vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Künstlerin für den Frieden.
Pahl-Rugenstein, 3., Auflage Februar 2007. ISBN 978-3-8914435-53-8
Alben:
Bejarano & Microphone Mafia, per la vita
Bejarano & Microphone Mafia, la vita continua
Links:
www.microphone-mafia.com
www.bergen-belsen.stiftung-ng.de
www.kinder-vom-bullenhuser-damm.de
Tiefen Dank an die Redaktion von „seemoz“ für die Wiedergabe des beindruckenden Interviews dieser großartigen Frau! Ad mea ve-esrim – Auf 120, Esther Bejarano!
Thomas Uhrmann
Leiter der Dr.-Erich-Bloch-und-Lebenheim-Bibliothek (Judaica) der Israelitischen Kultusgemeinde Konstanz