Die Demokratie auf dem Gießberg ist defekt

Im Nachgang zu den Konstanzer Uni-Wahlen vor wenigen Wochen hat sich eine Debatte über die politische Ausrichtung des Studierenden­parlaments entwickelt. Mehr noch: Auch über das Engagement der Studierenden und über Ideen zur „Repolitisierung“ wird gestritten. Dazu ein Gastbeitrag von Marco Radojevic:

Es ist längst überfällig, über die Zukunft der studentischen Hochschulpolitik an der Universität Konstanz zu reden. Für den Anstoß zu einer Debatte, den mein Freund und Genosse Jannik Held auf seemoz gegeben hat, bin ich sehr dankbar, denn soll aus progressiven Mehrheiten auch progressive Hochschulpolitik werden, haben die Listen des linken Lagers eine Menge Arbeit vor sich.

Wie Jannik Held richtigerweise feststellt, hat sich an den Mehrheitsverhältnissen im Studierendenparlament nichts verändert: Mal tauscht die JUSO.Hochschulgruppe (JUSO.HSG) und die Grüne Hochschulgruppe (GHG) einen Sitz aus, ein anderes Mal die Grüne Offene Linke Liste (GOLL) und GHG. Die Tatsache, dass sich an den Mehrheitsverhältnissen nichts ändert, kann als Mandat für die Listen des linken Lagers gedeutet werden. Doch wer in Jubelstürme verfällt, wenn die eigene Liste einen Sitz dazugewonnen hat oder in Trauer versinkt, wenn sie einen Sitz verloren hat, vergisst dabei schnell das eigentliche Problem: Die Demokratie auf dem Gießberg ist defekt.

Es fehlt an Öffentlichkeit

Es ist geradezu bezeichnend, dass eine Wahlbeteiligung im niedrigen zweistelligen Bereich bei dieser Universitätswahl zu den höchsten überhaupt an einer deutschen Hochschule gehört. Doch die niedrige Wahlbeteiligung ist dabei eher Symptom der defekten Demokratie als die Ursache. Der Wahlausschuss hat bei dieser Wahl aller Register gezogen, um die Studierenden darauf hinzuweisen, dass eine Wahl stattfindet: Plakate wurden aufgehängt, Mensaservietten bedruckt, Rundmails geschrieben und es wurde gar ein eigener Wahl-O-Mat für diese Wahl eingerichtet. Man musste schon aktives Desinteresse zeigen, um von der Wahl nichts mitzubekommen oder sich dazu zu entschließen, keine Stimme abzugeben.

Nun mag man resignieren und den passiven Studierenden des 21. Jahrhunderts Schuld an dieser Misere geben. Dabei übersieht man jedoch, dass ein zentrales Problem der Hochschuldemokratie das Fehlen einer wirklichen Öffentlichkeit ist. Die Öffentlichkeit, die existiert, ist primär eine selbst erzeugte, sie ist nicht unabhängig. Die Informationen, die man zur Wahl erhalten konnte, waren entweder Wahlkampfmaterial der Hochschulgruppen oder die Wahlbroschüre der Studierendenvertretung. Man stelle sich einmal vor, was passierte, würden SPIEGEL, taz und Co. vor der nächsten Bundestagswahl die Berichterstattung einstellen.

Der Demokratie zuträglich wäre dies sicherlich nicht. Genau dies ist aber auf dem Gießberg der Fall: Die wenigen studentischen Zeitungen und Zeitschriften, die es noch gab, als ich 2011 mit dem Studium begonnen habe, sind mittlerweile alle tot. Ich habe vor längerer Zeit einmal halb im Scherz, halb im Ernst gesagt, dass ich als Mitglied des Studierendenparlaments für die GOLL eigentlich problemlos mit den Konservativen und Liberalen stimmen könnte, ohne dabei ernsthafte Konsequenzen bei der Wahl für mich oder meine Liste befürchten zu müssen. Denn es gibt auf dem Gießberg niemanden, der die VertreterInnen kontrolliert oder zur Verantwortung ziehen könnte. In einer Demokratie dient die Öffentlichkeit als Mittler zwischen den WählerInnen und den in den Gremien Aktiven. Ohne Öffentlichkeit können die WählerInnen die GremienvertreterInnen nicht kontrollieren und die GremienverterInnen wissen nicht, was ihre WählerIinnen eigentlich von ihnen erwarten. Kurz: Ohne unabhängige Öffentlichkeit keine Demokratie.

Wahlkampf ohne Wahl und Kampf

Die GOLL und ihre Aktiven waren u. a. deshalb immer gegen die Einführung eines Studierendenparlaments, weil wir diesen Zusammenhang zwischen fehlender Öffentlichkeit und fehlender Demokratie bemängelten. Genau deshalb haben wir uns auch entschieden, keinen Wahlkampf mehr zu machen. Niemand kann bei den Wahlen zwischen politischem Geplänkel der Listen und tatsächlich substantieller Auseinandersetzung bzw. Kritik unterscheiden: Herrscht im AStA wirklich eine „Selbstbedienungsmentalität“, wie die Liberalen meinen? Oder sind die Liberalen – wie andere es behaupteten – für „Sklavenarbeit“ in der Studierendenvertretung?  Welchem Wahlkampfplakat kann ich glauben? Arbeiten die Listen an ihren Wahlkampfversprechungen oder werden jedes Jahr aufs Neue die gleichen alten Forderungen wiederholt?

Den Studierenden bleiben Antworten auf diese Fragen verwehrt und deshalb wählen sie nach Bekanntheit, Fachbereich der KandidatInnen, Name der Liste oder meistens gar nicht. Die Formulierung eines guten, konsistenten Programms und guter Arbeit in der Studierendenvertretung wird bei der Wahl nicht belohnt und es besteht für die Listen auch keinerlei Anreiz sich darum zu bemühen. Solange sich keine Gruppe von Studierenden findet, die der Studierendenvertretung in Form einer Zeitung oder eines Blogs auf die Finger schaut, kann die Demokratie auf dem Gießberg nicht funktionieren und solange müssen sich die Listen auch fragen, ob ihre selbstgewählte parlamentarische Struktur die richtige für die Studierendenvertretung ist.

Der Wille ist da, die Aktiven fehlen

Doch neben den grundsätzlichen Fragen, die Jannik Held implizit aufwirft, legt er – mit Recht – auch bei der konkreten Arbeit der Studierendenvertretung bzw. des Studierendenparlaments den Finger in die Wunde. Die Tatsache, dass die bestehenden Mehrheiten zumindest im letzten Jahr nicht in mehr politische Gestaltung umgesetzt wurden, müssen sich GHG, JUSO.HSG und GOLL gefallen lassen. Das letzte Jahr war, um es noch etwas drastischer zu formulieren, ein einziges Desaster für die Progressiven in der Studierendenvertretung. Es kam kaum zu gemeinsamen Vorstößen der Listen, persönliche Befindlichkeiten behinderten die Zusammenarbeit und man wurde als Resultat von einer sehr aktiven Liberalen Hochschulgruppe an der Nase durch die Manege geführt.

Allerdings sind sich auch alle drei Listen dessen bewusst und tun viel dafür, dass sich dieses Trauerjahr für die Progressiven in der Studierendenvertretung nicht wiederholt. Es liegen bereits Anträge vor, das Zivilklauselreferat wieder einzurichten und auch ein Durchmarsch der Liberalen dürfte dieses Jahr auf deutlich mehr Widerstand stoßen. Doch die Frage, ob progressive Politik durchgesetzt werden kann, bemisst sich nicht nur an der Tatsache, wie gut die GHG, JUSO.HSG und die GOLL im Studierendenparlament aufgestellt sind, sondern vor allem auch daran, ob sich genug Aktive finden, um die Referate zu besetzen, welche den größten Teil der inhaltlichen Arbeit stellen. Es ist kein Geheimnis, dass es praktisch unmöglich war, eine/n ReferentIn für das Thema Zivilklausel zu finden. Das Referat wieder einzurichten, ist die eine Sache, eine Person zu finden, die dieses inhaltlich ausfüllt, ist aber eine ganze andere.

Das Thema Burschenschaften bringt mich zu einem weiteren Problem, mit dem man in den Strukturen der Studierendenvertretung zu kämpfen hat: Durch die Einführung der Verfassten Studierendenschaft wurde uns zwar ein finanzieller Spielraum gegeben, der große Vortragsreihen oder Campusfestivals finanzierbar macht, gleichzeitig wurden wir aber in ein rechtliches Korsett gezwängt, in dem man jede Form früherer Freiheit hart erkämpfen muss. Der politische Wille, den Burschenschaften und ihrem Sexismus, Chauvinismus und Nationalismus keinen Platz an der Universität zu geben, ist zwar zweifelsohne vorhanden, doch da die Universitätsverwaltung die Hochschulgruppenrichtlinie aufstellt und daher die Anerkennung von Hochschulgruppen regelt, war es bisher nicht möglich, diesen Willen in die Tat umzusetzen. Versuche der progressiven Listen die Hochschulgruppenrichtlinie entsprechen anzupassen, sind bisher alle gescheitert.

Selbstkritik ist nötig, Resignation nicht

Als GOLL haben wir immer versucht, den ReferentInnen den Rücken freizuhalten und die Personen zu stützen, die in einer Studierendenvertretung mehr sehen als eine bloße Servicestelle. Gerade in Bezug auf die Vortragsreihen, die u. a. Jannik Held oder das Gleichstellungsreferat organisiert haben, ist uns dies gelungen. Auch die flüchtlingssolidarische Positionierung der Studierendenvertretung geht primär auf uns zurück. In anderen Punkten mussten wir teilweise herbe Niederlagen einstecken, was auch über unsere dünne Decke an Personen zu erklären ist, die bereit sind, sich im Studierendenparlament zu engagieren.

Um die Demokratie an der Universität ist es schlecht bestellt und auch progressive Politik hat schon bessere Tage an der Universität gesehen. Die Studierendenvertretung muss über ihre Strukturen nachdenken, will sie Aktive nicht vergraulen und Streit zwischen Gremien die Tagesordnung bestimmen lassen. Es gibt bereits einige Lichtblicke, dass diese überfällige Debatte endlich geführt wird.

Es wird viel Zeit und Mühe kosten, die guten Angebote der Studierendenvertretung zu erhalten und sie gleichzeitig zu repolitisieren. Doch wenn man die Gespräche verfolgt, die bei Kaffee oder auch Bier geführt werden, dann kann man durchaus optimistisch sein. Resignation ob der Zustände darf, soll und wird jedenfalls nicht Politik der GOLL sein. Bei der GHG und JUSO.HSG vernimmt man Ähnliches.

Marco Radojevic