Was ist mit der Integration der Dütschä?

Foto: Hellebardius/flickr.com

In der Region kennt man Matthias Brenner als „Matze, den Poetry-Slam-Dichter“. Immer wieder und demnächst im Juni in Konstanz tritt er im Dichter-Wettstreit beiderseits der Grenze auf.  Dass er aber auch ein sensibler Reporter ist, beweist diese Reportage über Kreuzlingen, der Stadt in der Ostschweiz mit dem höchsten Ausländeranteil. Und Brenner weiß, wovon er schreibt: Schon viermal ist er zwischen Konstanz und Kreuzlingen hin und her gezogen.

Sie kommen übers Wasser. Täglich landen mehr. Auf überfüllten Schiffen, Fähren, sogar auf Tretbooten werden sie ans Ufer gespült. Ganze Busladungen werden hierher kutschiert, und stündlich kommen überfüllte Sonderzüge an. Lärmende Menschenmassen mit fremden Gesichtern und greller Kleidung schieben sich durch die Innenstädte. Jeder öffentliche Platz wird okkupiert, und dort lungern sie den ganzen Tag herum, als ob sie keine Arbeit hätten. Die Einheimischen haben Jahr für Jahr unter den einfallenden Horden bunter Fremdlinge zu leiden.

Nein, die Rede ist nicht von den Häfen auf Lampedusa oder Gibraltar, sondern von denen in Konstanz und Kreuzlingen. Ja, die Toleranz der Einheimischen wird von den Touristen oft auf eine harte Probe gestellt. Sie sind wie nervige Verwandte, die am Wochenende unangemeldet zu Besuch kommen. Nicht umsonst warb meine erste Studenten- WG, die direkt auf der Konstanzer Marktstätte beheimatet und täglich vom Lärm und der Hektik in der Innenstadt betroffen war, mit einem Transparent für mehr Toleranz: «Alle Menschen sind Touristen», stand da, «fast überall!»

Das Verhältnis der Einheimischen zu den Fremden ist ein ambivalentes. Man mag sie nicht, denn sie sind laut, machen Dreck, stellen dumme Fragen und stehen im Weg herum. Man kann aber auch nicht ohne sie, denn sie sind eine wichtige Triebfeder der lokalen Wirtschaft, sichern Arbeitsplätze und sind sowieso in der Mehrheit. Und da sie nach relativ kurzer Zeit auch wieder verschwinden, hat man hier im Allgemeinen zwar sein Leid, aber kein ausgesprochenes Problem mit den Ausländern.

Der dreizehnte Ausländer

Der Ausländeranteil in Kreuzlingen liegt bei knapp über fünfzig Prozent. Hier leben, so die im Februar veröffentlichten Zahlen der Gemeinde, 9 738 Schweizer und 9 751 Ausländer. Dreizehn Ausländer mehr als Schweizer. Die Grenzstadt ist somit nicht nur «Top of Thurgau», sondern auch die Stadt mit dem größten Ausländeranteil in der gesamten Ostschweiz.

Man hört Schweizerdeutsch mit allen möglichen Einfärbungen. Das lang gezogene, aber gut platzierte «Hey waiiiisch!» italienischer Einwanderer oder das provozierende «Wa wötsch?» halbstarker Kosovo-Albaner. In der Kleingartenanlage wehen mehr Flaggen der Balkanstaaten als Schweizerkreuze und im Zug trinken die Pendler Becks als Feierabendbier, anstatt zum einheimischen Feldschlösschen zu greifen. Und jeder vierte Ausländer kommt, wie ich auch, aus dem benachbarten Deutschland. Gründe dafür sind die hohen Löhne, die Steuerersparnis und die verhältnismässig gute Situation auf dem Arbeitsmarkt. Aber natürlich spielen auch die geografische Nähe zu Deutschland und die sehr gute Infrastruktur sowie hohe Mobilität in der Schweiz eine wichtige Rolle.

Go abschäike

In den Medien wird die «Ausländerstadt» Kreuzlingen unterschiedlich gesehen. Zum einen wird die Zahl gefeiert und gar behauptet, auch achtzig Prozent Ausländer seien kein Problem für den toleranten Grenzort. Andere sehen die Zuwanderung kritisch. Sie fordern Integration, vor allem auch von den Dütschä. Diese würden die Grenzstadt zwar bewohnen, die Mieten und Grundstückspreise in die Höhe treiben, aber das kulturelle und soziale Leben fände vor allem im nahe gelegenen Konstanz statt. Dem mitschwingenden Vorwurf einer «Parallelgesellschaft» entgegne ich persönlich stets, dass ich ja gerne mit Herrn und Frau Schweizer z’Nacht essen würde, doch die seien gerade im Lago go poschte und danach im Dance Palace go abschäike. Denn eine gewisse Doppelmoral kann man schon feststellen, wenn von den deutschen Migranten vor allem wirtschaftliche Integration gefordert wird, während sich die Konstanzer Bevölkerung über die Schweizer aufregt, die am Wochenende mit ihren grünen Ausfuhrscheinen die Aldi-Schlange blockiert.

Weil sie – wie ich mittlerweile auch – nicht nur von billigem Fleisch und dem starken Franken, sondern auch noch von der Mehrwertsteuerrückerstattung profitieren. Gerade das Verhältnis zu den deutschen Einwanderern ist hier an der Grenze ein besonderes. Zum einen liegt das daran, dass sie den größten Teil der Neuzuzügler stellen. Das ist – bei allen kulturellen Ähnlichkeiten zwischen Schweizern und Deutschen – wenig anders als in den achtziger Jahren bei den türkischen Gastarbeitern in Deutschland oder bei den italienischen Einwanderern in der Schweiz. Ein anderes Problem ist die Sprache. Von Einwanderern wird erwartet, dass sie mindestens eine offizielle Landessprache sprechen; und da die Deutschen das ja tun, glauben sie, diesen Punkt auf ihrer Integrationsliste von vornherein abhaken zu können.

Und genau das nimmt man ihnen oft krumm. Was nützt einem auch ein gepflegtes Hochdeutsch und eine astreine Aussprache, wenn man in Kreuzlingen vor einem Straßenschild steht, auf dem «Dä Ofäladä» zu lesen ist. Man wird als Deutscher wahrscheinlich nicht auf den ersten Blick in der Lage sein, diese ungewohnte Ansammlung von Vokalen und Umlauten mit «der Ofenladen» zu übersetzen. Denn Landessprache heißt in der Schweiz nicht nur Deutsch, Italienisch, Französisch oder Rätoromanisch. Die örtliche Zuordnung der Herkunft und letztlich die Zugehörigkeit zum Wir wird über die Mundart definiert. Und diese unterteilt sich dann noch in regionale Dialekte und lokale Färbungen. Ein echtes Dauerthema in der Deutschschweiz. Baselbieter, Berner-Oberländler, Schaffhuuser, Zürcher oder Walliser; ständig erkennen sich zwei am Dialekt und sind manchmal sogar in der Lage, den Heimatort auf einen Umkreis von wenigen Kilometer zu lokalisieren. Wer nicht Dialekt spricht, gehört nicht dazu.

Baubewilligungen und Minarettverbote

In Kreuzlingen ist es ein spezielles Problem, dass viele Deutsche Bauland kaufen. So sind in den letzten Jahren rund um die Herzklinik zahlreiche Neubauten des medizinischen Personals aus Deutschland entstanden. Durch die emsigen schwäbischen Häuslebauer steigen die Grundstücks- und Immobilienpreise. Das sieht auch Mehmet so. Er engagiert sich in der türkisch-muslimischen Gemeinde von Kreuzlingen und Umgebung und ist Vereinsvorstand des islamischtürkischen Vereins, der seit zwei Jahren das alte Haus an der Bergstrasse in Handarbeit zur Moschee ausbaut. Man merkt, dass er sich sowohl mit der Schweiz als auch mit der Türkei heimatlich verbunden fühlt. Der 53-Jährige lebt seit dreißig Jahren in der Schweiz. Seine Kinder sind mit Schweizern verheiratet und haben den Schweizer Pass.

Über dem schmalen Weg, der an der Moschee vorbeiführt, ist ein rostiges, gelbes Schild befestigt: «Privatweg, Durchgang verboten, der Stadtrat 9.10.1957». «Das ist doch bestimmt verjährt?», frage ich ihn, auf das Schild hinweisend, und ob ich den direkten Weg zur Tankstelle benutzen dürfe. «Das ist nur ein Jahr älter als ich, das ist nicht verjährt! Aber da kannst du durch», antwortet er freundlich.

So kommen wir ins Gespräch. Gewiss sei die amtliche Anordnung das Resultat eines Nachbarschaftsstreits, vermutet Mehmet. Für sie sei das hier ja auch ein Problem mit den Nachbarn, da am Freitag die Autos der Gläubigen zum Teil auf den Stellplätzen der Anrainer parkten. Ich frage ihn, warum er denn nicht den roten Pass beantrage. Dann wäre es sicher leichter, eine Baugenehmigung für einen größeren Parkplatz zu bekommen. Dazu sei er ja jetzt zu alt, winkt er ab. Und ob es ihn nicht störe, dass er bei Fragen wie der Minarett- oder Ausschaffungsinitiative nicht abstimmen könne, hake ich weiter nach. Er sieht das anders. Ihre Gemeinde wolle ja kein Minarett bauen. Bei der Suche nach geeigneten Gebetsräumen in Kreuzlingen seien wir Deutschen und die Immobilienpreise ein viel größeres Problem gewesen. Außerdem wollten sie jetzt erst einmal fertig sanieren. Da sei noch genug zu tun.

Keine Zeit für Einbürgerungen

Streng nach Geschlechtern getrennt sitzen die Jugendlichen auf den Parkbänken am Bärenplatz. Die Männer links, die Frauen rechts. Sie gehören zur zweiten Generation der hier geborenen Migrantenkinder. Mit einem halben Liter ok-Energydrink, Sonnenbrillen und Marlboro-Light-Kippen bewaffnet, sitzen sie in der Frühlingssonne. Tanju und Meko leben seit ihrer Geburt in Kreuzlingen. Önder, seit er sechs ist. Die drei Kollägä sind sich einig, Einbürgerung kommt für sie nicht in Frage. «Vielleicht spööter!», meint Tanju, der permanent an seinem Natel herum hantiert, während er lässig auf der Sitzbank lümmelt. Önder meint, da gäbe es Tests und so, und dafür hätte er während seiner Ausbildung «kei Ziit!» Auf mein Argument, er dürfe als Volljähriger dann doch abstimmen gehen, erwidert Tanju, dass seine Stimme eh nicht zählen würde. Das interessiere ihn nicht, die Schweizer Politik.

Die drei Girls, die auf der Bank nebenan chillen und das perfekte Pendant zu den drei jungen Männern bilden, sehen das mit der Einbürgerung ähnlich. Auch sie sind Ausländerinnen und glauben, die Einbürgerung sei zu teuer für sie. Außerdem fühle sie sich in Kroatien viel mehr zuhause, findet die sechzehnjährige Franka. Sie kommt aus Kroatien und in einem Monat fährt sie wieder dorthin. Nach Zagreb. Verwandte besuchen. «Da kann i im Fall ohni Problem Auto fahre», kichert sie und merkt erst, dass sie sich verplappert hat, als die ein Jahr jüngere Samire aus dem Kosovo aufgeregt mit den Augenbrauen zuckt.

Ob das denn wirklich so sei, das mit dem Autofahren in Zagreb, frage ich nach. Na ja, sagt sie, die sähen das da halt alles viel lockerer. Besmira, siebzehn, kommt aus Mazedonien und trägt Kopftuch. Darauf angesprochen, sagt sie, dass es sie nerve, wenn man sie wegen des Kopftuches komisch anschaue oder Kommentare über den Islam abgebe. Das sei nun mal ihre Religion. Sport mache sie natürlich trotzdem, Basketball vor allem, mit Kolleginnen. Das Minarettverbot habe sie schon aufgeregt, aber da gäbe es ja viel schlimmere Sachen mit Koranverbrennungen und so. Ich frage, ob es sie wie mich auch störe, dass hier in Kreuzlingen andauernd die Kirchenglocken läuten. Ja, sagt Besmira, und es gäbe auch so viele Kirchen. «Di machet im Fall mega Lärm überall! Voll Terror.» Aber abstimmen gehen wolle sie deswegen nicht wirklich.

Bald Begegnungszone, jetzt schon freiwillig

Die segensreiche Mobilität Kreuzlingens ist auch sein Fluch. Trotz der überschaubaren Größe des Ortes fahren die Autobusse pausenlos ihre Runden. Alles ist geloopt, bewegt sich in Endlosschleifen. Die Stadt ist zerfurcht von Tunnels und Kreisverkehren. Und eine «Begegnungszone» wird gerade gebaut. Die Begegnungszone ist eine Mischverkehrsfläche zwischen Bärenplatz, Hauptbahnhof und Hauptzoll, auf welcher Autos, Velos und Fußgänger die gleichen Rechte haben sollen. Die Höchstgeschwindigkeit für Fahrzeuge von 20 Stundenkilometern ist noch freiwillig, wie auf einem Plakat zu lesen ist.

Einbetoniert zwischen Zebrastreifen und Bodenwellen soll diese städtebauliche Maßnahme den starken Verkehrsfluss in den kommenden Jahren aus der Innenstadt verdrängen. So soll ausgerechnet die Hauptstraße als Marktplatz und sozialer Ort der Begegnung herhalten. Eine Vision der Stadtväter, der man an diesem betriebsamen Samstagnachmittag nicht so wirklich Glauben schenken mag. Im Schatten der Bäume treffe ich eine Gruppe Asylsuchender aus Eritrea. «Sure you can sit with us!», sagen sie, fotografiert werden wollen sie aber nicht. Sie sind vor zwei Wochen aus Italien gekommen und warten auf die Bearbeitung ihrer Papiere. Sie wohnen übergangsweise in der Einrichtung des Migrationsamtes am Hauptbahnhof, einem Bau aus Beton und Glas, überwacht von Kameras und Securitas. «They will tell us when we can go to the Kanton. Now we have to wait», fasst Daniel ihre Situation knapp zusammen und bietet mir ein Bier an.

Ich nehme dankend an und wundere mich über den vierjährigen Benjamin, der versucht, Bierreste aus den bereits leeren Dosen zu nuckeln. Die anderen scheint das nicht weiter zu beunruhigen. Daniel hat ein kleines silbernes und ein großes, rotes Plastikkruzifix um den Hals hängen und als wir uns einander vorstellen, bemerkt er lächelnd, dass all unsere Namen in der Bibel zu finden seien. Hermela, seine Frau, und seine zwei Söhne Benjamin und John und ich, Matthias. Daniel mag die arabischen Staaten in Nordafrika nicht. Er habe schlechte Erfahrungen gemacht, sei als Christ oft angefeindet worden. «Arab countries no good!», sagt er immer wieder. Daniel fragt mich, woher ich komme. Deutschland, sage ich. Wie weit das denn genau von hier entfernt sei, will er wissen. Ich bin geschockt. Das Übergangslager für Asylsuchende ist gerade mal 500 Meter vom Grenzübergang entfernt. Als ich ihm das erzähle, lacht er. Nach Deutschland dürfe er sowieso nicht gehen.

Zaungäste unerwünscht

Das Übergangslager in Kreuzlingen durfte ich nicht besuchen. Der Beamte, der ankommende Bewohner bei Betreten der Anlage abtasten muss, verwies mich freundlich, aber bestimmt an das Migrationsamt in Bern, wo ich eine Führung durch das Gebäude beantragen könne. Man ist nicht an neugierigen Zaungästen interessiert. Denn seit im Januar bekannt wurde, dass es in Kreuzlingen zu tätlichen Übergriffen von Securitaspersonal gegen Asylsuchende gekommen ist (seemoz berichtete), untersucht auch Amnesty International die Einrichtungen des Eidgenössischen Migrationsamtes.

«The situation is critical», meint Daniel. Es seien zu viele Menschen dort, es gebe oft Streit unter den verschiedenen Gruppen und man dürfe nur Softdrinks mit hinein nehmen und kein Essen. Das sei nicht gut für den kleinen Benjamin. Nicht mal Kekse könne er für ihn mitbringen. Ich schaue Benjamin beim Bierrestezuzzeln zu und frage, ob er überhaupt an Softdrinks interessiert sei, was amüsiertes Gelächter auslöst.

Auf ihre Flucht über den Sudan und Libyen angesprochen, wird Daniel ruhig und sehr ernst. Er wolle sich nicht daran erinnern. Der Krieg in Libyen. Die fünf Tage Überfahrt über das Mittelmeer auf einem kleinen Boot mit achtzig Personen. Die nagende Ungewissheit, was kommt, ob das Wasser ruhig bleibt. Die sanitäre Situation auf dem Schiff und später im Flüchtlingscamp. Die Angst um die Familie. Das alles sei die Hölle gewesen, sagt Daniel.

Hier in der Schweiz weiß er sich und seine Familie in Sicherheit. Eine Arbeit sei ihm nicht so wichtig. Die katastrophale wirtschaftliche Situation in seiner Heimat sei nicht der Hauptgrund für die Flucht gewesen. «It is corrupt, yes, but the problem is the dictatorship. You are not free in Eritrea! It is not like Switzerland. Switzerland is peaceful, that’s good.» Sie wollen bleiben. Ob sie eine Chance haben, können sie nicht einschätzen.

Diese letzte Begegnung macht mich nachdenklich. Alle Ausländer, die ich in Kreuzlingen getroffen habe, sind hier für kurze Zeit gestrandet oder hängen geblieben. Sie alle teilen sich die Gemeinsamkeit der eingefrorenen Mobilität, leben an mehreren Orten gleichzeitig und können sich nicht auf Dauer binden. Aber es macht doch einen riesigen Unterschied, ob einer mit dem Katamaran aus Friedrichshafen landet, auf der Suche nach Steuervorteil und einem Haus am See, oder im überfüllten Schlepperboot, nur mit der Hoffnung im Herzen, hinter den hohen Mauern Europas Freiheit, Sicherheit und einen Job zu finden.

Autor: Matthias Brenner/Saiten- Ausgabe 5-2011

Weitere Links:

Sorgt die Securitas in Kreuzlingen wirklich für Sicherheit?

Von Kreuzlingen nach Kundus