ECE-Diskussion: Wer hat da noch das grenzenlose Vertrauen in die Gutachter und den Investor?
Das Sitzplatzangebot im Saal der Stadthalle reichte für die mehr als 150 Interessierten nicht aus, als am Dienstagabend das „Südkurier-Medienhaus“ zu einer weiteren Veranstaltung zum geplanten „ECE-Einkaufszentrum“ in die Singener Stadthalle eingeladen hatte. Geklärt werden sollten letzte Fragen vor dem Bürgerentscheid am 17. Juli. Aber geklärt wurde wenig, nur die zunehmende Nervosität bei den ECE-Unterstützern und dem OB wurde überdeutlich.
Als Experten aufs Podium geladen waren neben Oberbürgermeister Bernd Häusler auch Christoph Greuter (Buchhändler) und Karl Wager (ehemaliger Geschäftsführer von Karstadt Singen und bis vor kurzem Vorsitzender der Singener Werbegemeinschaft „City Ring“) als Vertreter von „Für Singen“ sowie James Lewerenz (ECE-Vize-Planungschef) und Lars Ellenberger (Betreiber des Holiday Inn Express-Hotels am Rathaus und Besitzer der ehemaligen Singener Jugendherberge, die er derzeit zu einem „Hostel“ umbaut) als Vertreter von „Lebendiges Singen“. Moderiert wurde die Diskussion von Jörg Braun, Leiter der Lokalredaktion Singen.
Dessen Eingangsfrage, ob in Singen das letzte ECE-Shoppingcenter gebaut werden solle, zielte auf das jüngste Stadtthema, den SPIEGEL-Bericht „Hauptsache, pompös“ (Ausgabe 28/2016), der zu einer überaus hohen Nachfrage nach dem Magazin in Singen geführt hatte. Darin wird ECE-Chef Alexander Otto mit den Worten zitiert: „Wir sind deutlich zurückhaltender in der Entwicklung neuer Shoppingcenter geworden“.
Bei ECE alles OK?
Eine Ansage, die für James Lewerenz, wie er zugeben musste, zu „einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt“ publiziert wurde, aber um eine Erklärung war er dennoch nicht verlegen: „Dieser Artikel ist einfach schlecht recherchiert“. Alles, was darin stehe, beziehe sich nur auf Berlin, wo es derzeit rund 70 Shoppingmalls gebe. Klar, dass da der Bedarf gesättigt sei. Aber unter den Centern, die nicht mehr funktionieren, sei kein ECE-Center. Und ECE baue und projektiere selbstverständlich weitere Malls in Deutschland, und zwar immer größere, weil die Städte auf ECE zukämen und darum bäten. Und „Singen ist für ECE eine fantastische Stadt, eine super Region, ein perfekter Standort in der Innenstadt“, so seine Lobeshymne. OB Häusler dagegen findet den Artikel „optimal“, denn Herr Otto sage doch, „man investiere nur in gute Standorte“, ergo sei Singen einer! – Also, alles bestens.
Auch die Verkaufsfläche wurde nochmals angesprochen: 16 000 qm werde das ECE haben plus 1400 qm Gastronomie und nochmals 600 qm Foodcourt, „dem einzigen am Bodensee“, laut Lewerenz. Über die Ankermieter dürfe er keine Auskunft geben, aber für alle 80 Läden gäbe es schon Anfragen. Aber wenn er diese Interessenten nennen dürfte, gäbe es bestimmt keine negativen Spekulationen mehr! – Also, alles noch besser als bestens!
Wer hat das Heft in der Hand?
Bei der Frage nach dem Baustart bremste Stadtoberhaupt Häusler den ECE-Vertreter: Wann gebaut werde, bestimmen Stadt und Gemeinderat. ECE müsse zuvor noch die städtischen Grundstücke (Thurgauerstraße und Zoll-Areal) erwerben und hier stellte es Häusler so dar, als herrsche zwischen den Verhandlungspartnern noch Uneinigkeit. Eine Summe wollte er nicht nennen, einen zweistelligen Millionenbetrag deutete er an. Dieses Geld brauche die Stadt, um den Bahnhofsvorplatz und auch die Hegau-Straße zu sanieren. „ECE muss hier tief in die Tasche greifen“. Es drängt sich die Vermutung auf, als wolle ein auch an diesem Abend wieder sichtlich nervöser und unzufriedener Oberbürgermeister den Anwesenden demonstrieren, dass er hier das Heft in der Hand habe und nicht die ECE-Projektierer. Aber was bleibt von dieser „Stärke“ noch übrig, wenn der Entscheid für ECE ausgeht?
Die Verkehrsplanung war selbstverständlich Thema mehrerer Fragen aus dem Publikum. Dass es keine befriedigenden Antworten gab, wunderte sicher niemanden: Von best- und worst-case-Szenarien war die Rede, dem vielbeschworenen „intelligenten Parkleitsystem“ und dass in Singen in Sachen Parkhäuser und -plätze jetzt schon alles besser als in Konstanz sei, allenfalls kleinere Staus an der Ecke Hauptstraße/Bahnhofstraße (Conti-Areal) könne es mal geben. „Vertrauen in die Spezialisten muss man einfach haben“, ergänzte Lewerenz. – Also keine Sorge, auch das wird gut!
Wer sind die Verlierer?
Ein klares „Nein“ als Antwort auf seine Frage bezüglich Verkehrsentlastung bekam allerdings ein Anwohner der Kreuzung „Friedenslinde“, des am stärksten verkehrsbelasteten Bereichs von Singen, wo der überwiegende Teil des Verkehrs von und zur A81 durchrausche und der mit ECE noch mehr belastet werden würde. Das zu ändern brauche eben sehr viel Zeit, vertröstete der OB. – Das wird also auf absehbare Zeit bestimmt nicht gut. Aber wo es Gewinner gibt, muss es eben auch Verlierer geben.
Wohnbebauung in Singen werde es geben. Aber nicht am Bahnhof – wie es sich die ECE-KritikerInnen wünschen. Und würde endlich mehr in der Innenstadt nachverdichtet werden, dann gäbe es ein Wohnraumproblem gar nicht, so der OB. Schuld an der Mietwohnungsmisere sollen also die kleinen Hausbesitzer sein, die sich gegen für sie nachteilige Veränderungen wehrten.
Ein verräterischer Leserbrief
Lars Ellenberger, der sich schon bei der ECE-Veranstaltung vorige Woche als „optimistischer Unternehmer mit 10 Millionen Euro Schulden“ vorstellte, nutzte die Gunst seines Podiumsauftritts, um den Zuhörern Vorzüge des Konsumtempels schmackhaft zu machen: Wenn ein Apple-Store käme, dann erhielten endlich auch die über 60jährigen kompetente Beratung beim Kauf eines Smartphones. Kinder könnten in dem Center spielen und Bücher lesen. – Kennt Ellenberger die schöne Stadtbibliothek von Singen etwa nicht? Er selbst rechne mit Shopping-Touristen, die in seinem Hotel übernachten werden. ECE sei „eine Bereicherung“. – Das ist sicher richtig, es fragt sich nur für wen. Weiteres Know-how tat er übrigens in einem Leserbrief kund (Südkurier, Lokalteil Singen, 13. Juli): Als Unternehmer wisse er, dass Teilzeit und Minijobs das seien, was die heutigen ArbeitnehmerInnen möchten. Diese gäben ihre Wünsche den Arbeitgebern vor, die „dann reagieren müssen“. – Also: Gewerkschaften, Linke und Mahner von „Pro Singen“ irren auch hier. Singen kann mit ECE nicht nur ein Einkaufs-, sondern auch ein Beschäftigungsparadies werden!
Die gestellten Fragen waren zumeist nicht neu, die Antworten längst bekannt. Und auch an diesem Abend spielte das Thema Handel wieder die Hauptrolle, die Zukunft der BürgerInnen dagegen abermals nur als Konsum-Nachfrager eine Rolle. Eine andere Sicht klang nur im Schlusswort von Karl Wager an: Die BürgerInnen haben am kommenden Sonntag nicht einfach die Wahl für oder gegen ein Shoppingcenter, sondern sie entscheiden, in welcher Stadt sie in den kommenden Jahren leben möchten.
Nervosität bei den Befürwortern
Beide Bürgerinitiativen werden die letzten Tage noch nutzen, um Unentschlossene mit ihren Argumenten zu überzeugen. Bislang über 3.300 BriefwählerInnen – was der Wahlbeteiligung von Kommunalwahlen entspricht – legen die Wahrscheinlichkeit nahe, dass es einen gültigen Bürgerentscheid geben könnte. Und ganz deutlich zeigte sich auch bei dieser letzten Veranstaltung: die Center-Gegner haben zumindest die Siegesgewissheit der Befürworter erschüttert.
Dass seit Wochen ein ständiges ECE-Team in der Stadt ist und die „Lebendigen Singener“ mit massivem Personal- und Materialeinsatz unterstützt, muss ja einen Grund haben. Erneut gezielte verbale Seitenhiebe auf die Kritiker und deren Plakate (Lewerenz: „Kommen Sie zu mir an den Stand, da wird vieles klarer als auf den Wahlplakaten der Gegner“) im Laufe der Diskussion können als untrügliches Zeichen von deren Nervosität gedeutet werden. Aber auch bei den „Für Singen“-Aktiven steigt die Spannung. Unruhe und Zeichen von Müdigkeit machen sich bemerkbar. Christoph Greuter und Karl Wager kamen an diesem Abend wenig zu Wort, was aber vor allem an den überwiegend an die Adresse von ECE und OB gerichteten Fragen lag.
Uta Preimesser (Das Foto zeigt Lars Ellenberger [l.] und James Lewerenz)
Die GegnerInnen des ECE-Centers sollten jetzt nicht müde werden: Durchhalten!! Zur Ermunterung: Fahrt nach Konstanz und schaut euch an, was aus der einstigen „Perle am See“ geworden ist!Der Glanz der einst gemütlich-lebendigen Stadt mit Charme und Flair ist verblasst, Individualität passé. Der Rubel rollt, der Verkehr auch, die Zeche zahlt jener Teil der Bevölkerung, der sich durch Kommerz und Vermarktung nicht bereichert, denn wer glaubt, dass der Reichtum der Stadt zurückfließt, um dort im Kern notwendige Investitionen zu tätigen oder gar auf die Bedürfnisse der Bevölkerung einzugehen, der glaubt vergebens. Die Preise explodieren in allen Bereichen, die Lebensqualität sinkt. AnwohnerInnen in den betroffenen Stadtteilen müssen täglich Verkehrslawinen ertragen, atmen Feinstaub und Stickstoffdioxi, Klima- Umwelt-Naturschutz, die Bedürfnisse der Menschen , die hier leben, sie zählen nicht. Konstanz wurde in ein Korsett gepresst, welches nicht passt – und langsam geht dem lieben, alten Konschdanz die Luft aus…
Mit einem Paukenschlag mobilisiert der Singener OB nochmals die letzten Unentschiedenen, denn gekonnt hat er am vergangenen Dienstag bei der SÜDKURIER-Podiumsdiskussion zumindest diese eine Katze schon mal aus dem Sack gelassen. Der Ausverkauf des Zollareals soll 10,5 Mio. EUR bringen.
Damit wäre der Weg frei, zur Überbauung des 2,4-ha-Geländes am Bahnhof in Singen.
Clever denkt der eine, dumm der, der denken kann. Denn der Geldregen wird, nur nicht zu früh gefreut, postwendend wieder dem investitiven Geldkreislauf der ECE zugeführt. Zum einen wird das Versprechen an die ECE eingelöst, den Bahnhofsvorplatz zu verschönern, Kostenpunkt 8,5 Mio. EUR, Da hätte man auch gleich über eine weitgehende Kostenbeteiligung der ECE an den Planungs- und Baukosten verhandeln können, wenn schon denn schon. Und zum anderen fließt das restliche Geld unverzüglich in den Conti-Abriss, Kostenpunkt 1 Million und der klägliche Rest in die Neugestaltung der Hegaustrasse – also auch hier Nutznießer Nr. 1 – ECE. Denn, ob und was nach dem Abriss des Conti-Schandfleckes gebaut wird, ist noch nicht raus – selbst in der Podiumsdiskussion vermochte der OB die Frage nicht zu beantworten, wie es dort letztendlich weitergeht. Angedeutet wurde aber, dass verkehrstechnisch so einiges möglich wäre – was im Umkehrschluss, wie wohl, dem Geschäftsbetrieb des ECE zugute käme. Für ECE ist die ganze Sache somit eine gutdurchdachte Investition. Die Anwohner in den zukünftig vom Verkehr geplagten Straßen haben wie immer das Nachsehen. Ebenso der örtliche Einzelhandel der gleichzeitig mit auf den Opfertisch gelegt wird. Dahinter steckt Kalkül. Für den Finanzhaushalt ist das ganze also ein Nullsummenspiel, mit dem wieder einmal, Singen-like, immer nur die Versäumnisse und Fehler der Vergangenheit ausgemerzt werden.
Wenn in spätestens 15 Jahren das Center-Konzept in die Jahre gekommen ist bleibt nur zu hoffen, dass der nächste Gönner und Investor vor den Einfallstoren der Stadt steht, und mit den dann dringend benötigten Millionen darum bettelt, dem dann amtierenden OB ganz uneigennützig bei der Beseitigung der Bausünden der 2010er unter die Arme greifen zu dürfen.