ECE: Warum ein Nein wichtig und richtig ist
Noch zwei Tage bis zur Entscheidung in Singen: Konsumtempel ja oder nein? 36 000 Wahlberechtigte sind zur Stimmabgabe aufgerufen, knapp 7400 Nein-Stimmen sind nötig, um das Quorum zu erreichen. Lesen und hören Sie hier, was die Linke dazu meint und was SWR2 dazu sagt. Und lesen Sie noch einmal nach, wie Eberhard Röhm (Grüne) im Gemeinderat sein NEIN begründet hat.
DIE LINKE: Am 17. Juli NEIN zum ECE-Konsumtempel
Am kommenden Sonntag entscheiden die Bürgerinnen und Bürger in Singen darüber, ob der Hamburger Immobilienentwickler ECE im Herz der Innenstadt ein gigantisches Einkaufszentrum bauen lassen darf. Es ist eine Entscheidung von großer Tragweite, die auf Jahrzehnte einen gravierenden Einfluss auf die Entwicklung des öffentlichen Raums in der Stadt Singen haben wird, stadtplanerisch, wirtschaftlich und sozial.
Architektonisch würde ein riesiger Baukomplex entstehen, der die Zerschlagung gewachsener Strukturen – Wohnungen, Geschäfte, ja eine Straße – in einem Herzstück der Innenstadt direkt gegenüber dem Bahnhof zur Voraussetzung hätte. Statt einer vorausschauenden Weiterentwicklung des urbanen Raums würde das wieder einmal die Privatisierung städtischen Eigentums bedeuten, das damit der öffentlichen, demokratischen Planung und Kontrolle entzogen wäre. Eine moderne Stadtplanungs-Politik sieht anders aus. Singen braucht keine gigantische Konsum-Monokultur, sondern eine lebendige, vielfältige Innenstadt, die urbane Qualitäten wie Wohnen, Einkaufen, Kultur- und Erholungsangebote vereint. Das sanierungsbedürftige Holzerareal bietet sich für einen solchen Mix geradezu an.
Wirtschaftlich gibt es keinerlei Notwendigkeit für ein neues, riesiges Einkaufszentrum, denn Singen verfügt über ein breit gefächertes, gut funktionierendes Einzelhandelsangebot. Ein Votum Pro-ECE würde dagegen für viele kleine Einzelhandelsgeschäfte Umsatzeinbussen oder gar den Ruin bedeuten. Unternehmenspleiten, Arbeitsplatzverluste und nicht zuletzt Steuereinbußen wären die Folge – das zeigen nicht nur Erfahrungen, die vergleichbare Städte mit solchen Shoppingmalls gemacht haben, sondern sagen auch mehrere Gutachten für das Singener ECE-Zentrum voraus.
Auch für die im Einzelhandel Beschäftigten verheißt eine Shoppingmall nichts Gutes. Das Geschäftsmodell von ECE und Co verschafft sich im harten Konkurrenzkampf um Kundenanteile Vorteile nicht zuletzt durch miese Arbeitsverhältnisse – Mini- und Midijobs, von denen niemand vernünftig leben kann. Neben dem Verlust regulärer Arbeitsplätze würde also eine Ausweitung des Billiglohnsektors drohen. Völlig zu Recht warnt die Gewerkschaft ver.di deshalb vor einem Wettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten.
In Singen gibt es wirklich viele Aufgaben, die auf eine Lösung warten. Fehlende Einkaufsmöglichkeiten gehören ganz sicher nicht dazu. Thema Nummer eins für eine verantwortungsbewußte Kommunalpolitik ist heute die drückende Wohnungsnot. In der Stadt muss man mit der Lupe nach bezahlbaren Wohnungen suchen, ein nicht hinzunehmender Zustand, zu dem die Stadtoberen durch ihr von Gier geleitetes Finanzgebahren beim Hegau-Tower und dem Kunsthallenareal beigetragen haben. Diese Experimente endeten mit der Pleite der GVV und führten zum Verlust sämtlicher städtischen Sozialwohnungen.
Mehr als 6000 Quadratmeter des Geländes gegenüber dem Bahnhof sind kommunales Eigentum – die politischen Entscheidungsträger hätten es also in der Hand, dort die Weichen für dringend benötigten neuen Wohnraum zu stellen. Stattdessen ist ein Verkauf des Holzerareals an ECE zur Verschönerung des Bahnhofsvorplatzes und der Hegaustrasse geplant, also eine Verschleuderung öffentlichen Eigentums. Die Stadtpolitik will aus ihren Fehlern offensichtlich nichts lernen.
Ein NEIN beim Bürgerentscheid ist deshalb auch ein dringend nötiges Signal für eine andere Stadtentwicklung – eine Entwicklung, die nicht von einem privaten Großinvestor diktiert wird, sondern sich auf die Bedürfnisse der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger besinnt.
DIE LINKE Kreisverband Konstanz
Jürgen Geiger
ECE Singen – Stellungnahme von Stadtrat Eberhard Röhm (Grüne)
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Häusler, sehr geehrte Damen und Herren,
ich werde heute nicht für die grüne Fraktion sprechen, da wir bei diesem Thema zu unterschiedlichen Bewertungen gekommen sind.
Natürlich schmeichelt es einer Stadt wie Singen, wenn ein Investor auf einen Schlag über 120 Mio. Euro investieren will. Es ist auch richtig, dass man sich intensiv und verantwortungsvoll mit einem solchen Projekt auseinandersetzt. Als wir diesen Prozess gestartet haben, waren wir uns im Gemeinderat einig, dass es um das Wohl der Stadt Singen gehen soll. Was das jetzt in diesem Fall bedeutet, darüber gehen die Meinungen auseinander.
Für meine Entscheidungsfindung waren folgende Punkte wichtig:
Städtebau.
Wie soll Singen in Zukunft aussehen? Als ich 1988 nach Singen gezogen bin, sah die Innenstadt und das Innenstadtleben noch deutlich anders aus. Das hat sich in den fast drei Jahrzehnten deutlich zum Positiven entwickelt. Ständig diskutieren wir über weiche Standortfaktoren. Neben der allgemeinen Infrastruktur, Schulen, Kindergärten, Kultur, Sport etc zählen auch die Einkaufsmöglichkeiten und eine lebendige Innenstadt dazu.
Die meisten von Ihnen haben den Artikel von Prof. Böhm gelesen. Er sagt unter anderem, dass diese Art der Shopping Mall dem Leitbild einer lebendigen Innenstadt widersprechen würde. Er als Fachmann hat das ja in der Presse ausführlich begründet.
Lassen Sie mich bitte eine Passage zitieren.
„Wir alle wissen, dass die globale Wirtschaft, die demographische Bevölkerungsentwicklung zusammen mit der rasant fortschreitenden Digitalisierung unsere Lebens- und Arbeits- und eben auch Einkaufswelt unsere Gesellschaft und unsere Städte dramatisch verändern wird. Lebenswerte Städte werden sich nicht mehr nur über eine effiziente Infrastruktur und funktionierende Versorgung, zu der auch das Einkaufen gehört, definieren können. Sie werden dem Bürger urbane Qualitäten bieten müssen wie gutes und vielfältiges Wohnen, gute Verkehrsverbindungen, gute Arbeitsplätze, eine saubere Umwelt, geringe Kriminalität, viele Freizeit- und Kulturangebote sowie Erholung und Rückzug gleichermaßen. Denn im globalen Wettbewerb der Städte und Regionen um Wachstum und Wohlstand werden diese Faktoren die entscheidenden Erfolgskriterien sein.“ Zitat Ende.
Die Regierungsfraktionen auf Bundesebene haben sich vor wenigen Tagen sehr intensiv mit dem Thema Digitalisierung beschäftigt. Im Koalitionsvertrag der neuen grün-schwarzen Landesregierung kommt die Digitalisierung in fast jedem Kapitel vor. Auf der Hannover Industriemesse stand das Thema Industrie 4.0 im Mittelpunkt, was für die Digitalisierung aller Arbeitsprozesse steht.
Diese Änderungen unserer Lebenswelt haben auch großen Einfluss auf unser Einkaufsverhalten. Auch wenn einzelne Menschen sich dem verschließen, die aktuellen Umsatzzuwächse des Internethandels und die Zukunftsprognosen sprechen für sich.
Das Smartphone, das ja erst wenige Jahre verfügbar ist, hat enorm viel verändert. Viele haben ständig ein Smartphone in der Hand, tippen darauf herum und gehen mit gesenkten Köpfen durch die Stadt. Diese Technologie hat jeden in die Lage versetzt jederzeit und überall einkaufen zu können. Vor wenigen Jahren hätten wir uns das noch nicht vorstellen können und die technischen Innovationen gehen immer schneller voran und wir wissen heute nicht, wie wir in fünf Jahren einkaufen werden.
Deshalb habe ich großen Zweifel, ob die Lösungen von gestern auch die Lösungen für die Zukunft sind?
Auf Seite 41 des Schreibens des Regierungspräsidiums ist folgender Absatz zu lesen:
„Es ist deshalb nicht die Aufgabe der Raumordnung, über den Zeitpunkt des Markteintritts eines Einzelhandelsgroßprojektes bzw. über den aktuellen Prognosezeitpunkt hinaus alle denkbaren künftigen Veränderungsszenarien zu den ökonomischen Rahmenbedingungen zu prüfen und das Vorhaben daran zu messen.“
Natürlich ist es schwer, in die Zukunft zu schauen. Aber die dramatischen Veränderungen gerade im Einzelhandel zu ignorieren, halte ich für fahrlässig. Deshalb bin ich der Meinung, das der Gemeinderat das berücksichtigen muss.
In den Gutachten wurde geprüft, wie viel Kaufkraftverlust für die Nachbarstädte zu erwarten ist. Man nimmt an, dass Verluste kleiner 10% zu verkraften sind und die Innenstädte nicht schädigen. Parallel verlieren aber auch die Nachbarstädte an die virtuellen Einkaufszentren im Internet viel höhere Anteile. Das wird nicht berücksichtigt und nicht zu den Verlusten durch das Einkaufszentrum addiert. Man muss sich schon die Frage stellen, ob diese Art der Raumordnungsverfahren noch zeitgemäß sind.
Kommen wir auf Singen zurück.
Singen hat heute im wichtigsten Einzelhandelssegment Bekleidung knapp 28 000 qm Verkaufsfläche. Durch das Einkaufszentrum sollen nochmals 8500 qm dazu kommen. Das macht in der Summe ca. 36 000 qm Bekleidungsverkaufsfläche. Das sind auf einen Schlag ca. 30% mehr. Das ist kein organisches Wachstum, das ist eine Schocktherapie. Und es ist ja schon klar, dass selbst durch die zusätzliche Kaufkraft, die nach Singen kommen soll, ein Anteil davon nicht mehr gebraucht wird.
Bis 2025 soll sich der Online-Anteil im Bekleidungsbereich von heute ca. 15% auf über 40% erhöhen. Und das wird so auch in der Schweiz kommen. Das heißt, rein rechnerisch reduziert sich der Umsatz im stationären Einzelhandel nochmals um ca 25%. Das ist gleichbedeutend mit einem Überhang an Verkaufsflächen. Auch wenn jetzt Firmen auf die Multi Channel Schiene setzen und auch Online aktiv werden, dafür brauchen sie kaum Verkaufs- sondern Lagerfläche.
Selbst wenn man noch das geringe Bevölkerungs- und Realeinkommenswachstum berücksichtigt, dann bleibt ein erheblicher Leerstand übrig. Leerstände galten bisher als Gift in einer Innenstadt und ein Grund für trading down Effekte. Leerstand in diesem Umfang kann keine Stadt durch städtebauliche Maßnahmen kompensieren. Das Einkaufen wird sich auf einen Kernbereich zurückziehen.
Der Verzicht auf ein solches überdimensioniertes Einkaufszentrum heißt ja nicht, das man gegenüber dem Onlinehandel aufgibt.
Sicher hat der Singener Einzelhandel aufgrund der aktuell guten Konjunkturlage und der Schweizer Kunden nicht den Druck, schnell auf die sich ändernden Bedingungen zu reagieren. Einige haben aber doch schon reagiert, andere müssen sicherlich bald folgen. Und entgegen den Aussagen von Gutachtern, dass kleinere und mittlere Betriebe sich das nicht leisten können, gibt es Beispiele aus Singen. Foto Wöhrstein verkauft seit Jahren sehr erfolgreich Fotoapparate im Internet, bei Buch Greuter kann man auch schon seit einigen Jahren Bücher online bestellen und beim Fahrradgeschäft Stroppa kann man seit kurzem Fahrräder online kaufen. Und keine dieser eher kleineren Firmen hat dafür eine große IT Abteilung aufbauen müssen.
Der Gemeinderat ist sicherlich nicht der Schutzpatron des Singener Einzelhandels. Aber wir waren alle viele Jahre stolz auf die sehr hohe Zentralität, die ja nicht gottgegeben ist, sondern bedeutet, dass doch vieles vom Einzelhandel richtig gemacht worden ist. Deshalb habe ich das Vertrauen in den existierenden Einzelhandel, dass er das Bestmögliche aus dieser Situation machen wird.
Ich möchte nur noch einen weiteren Punkt ansprechen. Wenn ECE kommt, gehen 47 Wohnungen verloren. Das sind eher kleine Wohnungen und nicht im besten Zustand. Aber auch sie werden gebraucht. Bevor die Stadt die Grundstücke am Zollareal übernommen hat, haben wir beantragt zu prüfen, ob auch eine andere Verwendung als ein Einkaufszentrum zu bauen möglich ist. Die Stadtplanung der Stadt Singen hat ein paar grobe Entwürfe gemacht und eine Wohnbebauung an dieser Stelle für machbar gehalten. Wohnraum ist etwas, was wir aktuell viel dringender brauchen als ein Einkaufszentrum.
Meine Damen und Herren, wir sollten jetzt zusammen die Stadt und den Einzelhandel fit für das digitale Zeitalter machen. Und da sollte der existierende Einzelhandel seine Ressourcen nicht in einem innerstädtischen Konkurrenzkampf mit einem überdimensionierten Einkaufszentrum vergeuden, sondern sich gezielt auf den Wettbewerb mit dem Online Handel vorbereiten.
Ich bin davon überzeugt, dass es Singen ohne ECE in Zukunft besser gehen wird!
Deshalb werde ich dem Einkaufszentrum nicht zustimmen.
Eberhard Röhm
ECE-Singen: SWR2-Sendung vom 13. Juli
MM/hpk