Einmal um die ganze Welt

Weltbewegten Hintergrundberichten, die einem Thema ebenso kenntnisreich wie sprachlich gekonnt nachspüren und deren Umfang jedes Sonntagsfeuilleton sprengen würde, begegnet man im Lesealltag nur selten. Doch halb im Verborgenen fristen einige Zeitschriften, die sich solch hochwertigen Texten verschrieben haben, ihre prekäre Existenz. Die schweizerische Zeitschrift „Reportagen“ etwa ist seit fünf Jahren mit Herzblut und Verstand dabei, das „Weltgeschehen im Kleinformat“ lebendig werden zu lassen.

Die Reportage in der Tradition eines Ryszard Kapuściński oder Egon Erwin Kisch ist eine vom Aussterben bedrohte literarische Form aus jenen Tagen, in denen Zeitungen, Zeitschriften und Bücher den Menschen Orientierung gaben und – oft auch politisch aufklärende – Reiseberichte auskömmliche Verkaufszahlen erreichten. Sie einte eins: Kenntnis des Themas und oftmals literarische Brillanz. AutorInnen waren bei ihren Streifzügen durch fremde Länder oder „unentdeckte“ Bezirke der eigenen Kultur das Auge, Herz und Hirn des Lesers, und an ihren Texten schätzte man, was Horaz als „prodesse et delectare“ beschrieb: Sie weiteten den Horizont und erfreuten zugleich.

Von den Färöern bis Singapur

In der Zeitschrift „Reportagen“ allerdings finden sich keine herkömmlichen Reiseberichte, auch wenn darin viel gereist wird, und die meisten Texte dort handeln auch nicht von politischen Großereignissen auf unserem Planeten oder gar dem Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande. „Reportagen“ bietet vielmehr jenen Geschichten eine Heimat, die ein Journalist kaum suchen, sondern nur – in seinen glücklichsten Momenten – finden kann. Natürlich nicht im Elfenbeinturm, sondern auf scheinbaren Nebenschauplätzen unserer widerborstigen Wirklichkeit. Aus den letzten Jahren ist mir etwa noch Milena Mosers eindringlicher Text über das Elend südostasiatischer Hausmädchen in Singapur in Erinnerung, denen gegenüber (ganz durchschnittliche) Expat-Ehepaare aus der ersten Welt gern mal die Herrenmenschen herauskehren, dass es nur so kracht. Dieselben Herrschaften, nette, liberale, oberste Mittelschicht, Funktionseliten halt, würden sich in ihrer Heimat vermutlich ihren Angestellten gegenüber gern genauso aufführen, doch davon ist hier nichts zu lesen. Gute Texte liefern ihre Interpretation eben nicht frei Haus.

Tote Olivenbäume

In der aktuellen Ausgabe geht es unter anderem um das grassierende Olivenbaumsterben in Süditalien. Ein aus Zentralamerika eingeschlepptes Bakterium namens Xylella bedroht Millionen Olivenbäume; Gerichte, Olivenbaumbesitzer und lokale NGOs aber verhindern Quarantäne- und Fällmaßnahmen, mittendrin verordnet auch noch die EU-Bürokratie, was ihr nötig scheint. Die Staatsanwaltschaft gar wollte gegen die untersuchenden Wissenschaftler vorgehen, weil diese das Bakterium fahrlässig bei einem Kongress freigesetzt hätten. Andere wiederum glauben, das Baumsterben gehe auf absichtlich von Mosanto verspritztes Gift zurück, denn dieses Unternehmen wolle die teils über 1000 Jahre alten Bäume töten, um den Olivenbauern dann seine eigenen Neuschöpfungen verkaufen zu können. Eine Geschichte voll knorriger Typen und mit durchaus tragikomischen Zügen also, stets den sich immer weiter verästelnden Wurzeln untergründigen Aberglaubens und inbrünstiger Korruptheit auf der Spur. Oder hat Gott gar das Bakterium als Strafe in den Salento geschickt, weil man einen Homosexuellen zum Regierungspräsidenten gewählt hat? Mea culpa, mea maxima …?

Der Mensch hält für wahr, was ihm nützt, und glaubt das, was er erhofft.

Die Stärke einer solchen Reportage von 16 üppig bedruckten Seiten sind ihre Nähe zum Thema und ihre Vertrautheit mit den handelnden Menschen. Die Charakterisierung verschiedener Persönlichkeiten und ihrer Interessen macht auch die verschiedenen Standpunkte verständlich. Was auf den ersten Blick als Irrwitz und finsterer Mystizismus erscheint, folgt doch einer inneren Logik – nur dass jede Seite ihre eigene hat. „Wo kann man die Ewigkeit sonst so gut spüren wie in einem Olivenhain?“

Nicht minder Leben atmet auch eine Reportage über eine Tschechin, die als Laienköchin bei englischen Verkostungen Preise für ihre Marmeladen erhielt und ein Jahr lang mit Mann und Kleinkind marmeladekochend durch Europa und Nordafrika gezogen ist. Eine schillernde Persönlichkeit, die immer wieder rasante Kippvolten vollzieht. Andere Themen des Heftes sind politischer: Die (scheinbar radikale, aber letztlich nicht sehr aussichtsreiche) Korruptionsbekämpfung in der Polizei von Kiew beispielsweise. Regelrecht verblüffend gar ist ein auf Interviews basierender Comic über Liebe im Iran, der westeuropäische LeserInnen mit Geschlechterrollen konfrontiert, die für uns kaum mehr vorstellbar sind: Unter dem Kopftuch tobt scheint’s die Adenauer-Zeit, außer wenn es um Sex geht.

Eins wird bei der immer spannenden Lektüre schnell deutlich: Eine gute Reportage zu schreiben erfordert viel Vorbereitung und einen erheblichen Zeitaufwand, sie ist damit schlichtweg eine teure Angelegenheit. Mit einem Produktionsrhythmus, der die Zeitung von morgen füllen und regionale Anzeigenkunden zufriedenstellen will, ist diese Art des Schreibens nicht zu vereinbaren. Die AutorInnen brauchen viel Zeit und einiges an Reisespesen, beides Dinge, die bei gewöhnlichen Verlegern verlässlich zu Schnappatmung führen…

Ein weltweites Netzwerk

„Reportagen“ ist übrigens Mitglied von „Select – The Independent Longform Club“, einem „Klub für außergewöhnliche Geschichten aus der ganzen Welt“, in dem sich sechs Zeitschriften aus Frankreich, Italien, USA, Mexico und der Schweiz zusammengefunden haben, um nach Möglichkeit gemeinsam zu recherchieren und Texte untereinander auszutauschen. Alle Mitglieder eint „die kompromisslose Ausrichtung auf lange, narrative und gut recherchierte Texte und unsere Überzeugung, dass sich leidenschaftlich gemachter Journalismus ungeachtet des Medienwandels durchsetzen wird,“ schreibt „Reportagen“-Chefredaktor Daniel Puntas Bernet. Es bleibt nur zu hoffen, dass er mit seiner Überzeugung recht behält, denn die Zeitläufte tendieren eher zum journalistischen Trockenfutter.

Harald Borges

„Reportagen“ wurde nicht nur für seine Inhalte, sondern auch für sein Design ausgezeichnet.

Die Zeitschrift erscheint zweimonatlich und ist gedruckt sowie digital erhältlich. Die Hefte haben jeweils etwa 136 Seiten. Im Kennenlern-Abo gibt es drei Ausgaben für 35,- €.

http://reportagen.com/