Kindheitserinnerungen aus dem Paradies

Erinnerungen sind wie herum irrende Seifenblasen: Hält man sie nicht fest, zer­platzen sie und sind weg – für immer. Das hat auch unseren Gastautor bewogen, ein paar Gedanken aus seiner Kinder- und Jugendzeit im Konstanzer Stadtteil Paradies auf­zu­schreiben, die ihm dieser Tage wieder in den Sinn gekommen sind. Ähnliche Geschichten und Anekdoten werden übrigens auch bei der Ausstellung im Rosgarten­museum über das Tägermoos ausgetauscht, die derzeit zu besichtigen ist und deren Besuch sich wahrlich lohnt. Denn auch dort wird über die Arbeit und das Leben der Paradies-Bauern berichtet, deren Felder im Tägermoos liegen – ein nicht nur staatsrechtliches Unikum. Gestern wie heute.

Ab dem „Eisernen Brunnen“, der heute noch existiert, begann das Paradies. Nur Gemüsefelder bis zur Wallgutschule. Einzige Ausnahme: das Haus von Architekt Fischer, das heute noch steht und in der anderen Richtung der Zimmermeister Marx mit seinem Bernhardiner, auf dem wir sogar, so gutmütig war er, reiten konnten. Im Eisernen Brunnen wären mein Freund Lorenz Rindersbacher und ich beinahe versoffen. Wir stiegen als Winzlinge in den Brunnen, hielten uns an den eisernen Querstäben fest und hatten unseren Spaß. Bis der Lorenz sagte „kasch du no“? Wir konnten beide nicht mehr und ließen los. Glücklicherweise kam ein Bauer daher und zog uns aus dem Wasser.

Stadtmiste am Schänzle

Unser Lieblingsspielplatz war damals die Stadtmiste am Schänzle. Hier fand man nach dem Krieg Revolver, Gewehre, Säbel – kurz: alles was das Herz eines Jungen begehrt. Außerdem war da unten auch der Herr Nerz, der in einem Bootshaus wohnte, wo auch einige Paddelboote geparkt waren und der immer spannende Geschichten auf Lager hatte.

Eine bekannte „Persönlichkeit“ zu unserer Zeit war auch der „Geigenklauer“ – sein richtiger Name: Arthur Kempter. Ich weiß nur noch, wie er bei einigen Minusgraden mit freiem Oberkörper beim Fasnachtsumzug auf seinem Gaul mit ritt. Und wie er an der Fassade der Wallgutschule hoch kletterte, in die Zimmer der Franzosen rein ging und uns Konserven, Kekse und vieles mehr herunter warf. Seinen Übernamen hatte er übrigens, weil er eines Tages bei einem Geigenbauer in der Stadt eine Geige einfach mitnahm und fiedelnd davon ging. Allerdings wurde er dann geschnappt.

Am „See“ unten, im Paradies, waren ja damals Boote nicht erlaubt. Doch wir wussten uns zu helfen: Auf den Autofriedhöfen sägten wir Autodächer ab, füllten die Fensteröffnungen mit zu gesägtem Holz und dichteten sie mit Kitt oder Teer ab. Fertig waren unsere Boote, und nicht selten wurden wir von den Zöllnern gejagt. Doch wir waren immer schneller.

Auf Schweizer Seite – also jenseits des Grenzzauns – lief ein Abwasserrohr, in das Speisereste aus der Schweiz angeschwemmt wurden. Wir gingen dort illegal über die Grenze, zwei oder drei schlugen auf das Rohr und die Wasservögel kamen herausgeschossen und wurden dann teilweise von uns für den häuslichen Herd gefangen.

Hitler-Bild auf dem Geschützturm

An das Kriegsende erinnere ich mich noch genau: Da kam mit zwei Rössern vor einem gummibereiften Wehrmachtswagen der Paule Hörenberg angefahren. „D’Franzose kummed“ warnte er. Immerhin hatte er zwei Rösser und einen passablen Wagen aus dem Krieg mit nach Hause gebracht. Nach weniger als zehn Minuten – verbotenerweise war ich nach wie vor auf der Straße – rollten denn auch die ersten französischen Panzer ins Paradies. Und ich erinnere mich noch genau, wie der erste Panzer – zum Hohn sozusagen – mit einem Hitler-Bild auf dem Geschützturm beim Eisernen Brunnen vorbeifuhr.

Unsere Wohnung wurde dann requiriert. Sieben französische Soldatenfamilien wohnten der Reihe nach darin. Wir hausten in einem Zimmer. Unvergessen in diesem Zusammenhang die marokkanische Frau eines Offiziers, die immer etwas für uns übrig hatte: Etwas Käse, Butter oder sogar Datteln. Wobei sie immer betonte: „Pour le petit Dieter“ – um meine Mutter nicht zu beschämen. Lange Jahre hatten wir mit der Familie Jabet noch Kontakt und sie auch in Lyon besucht. Im Parterre wohnte „Madame Petit“. Die Milch wurde damals noch an der Straße geholt – ca. 25 Meter vom Haus entfernt. Und die wirklich gut aussehende Madame Petit ließ es sich nicht nehmen täglich die Milch zu holen: zur Freude der Männer, die in den Fenstern lagen und die Sicht auf ihr lichtdurchflutetes Negligée genossen.

Übrigens eines ist auch noch erwähnenswert: Vis-á-vis vom alten Gaswerk gab es die Färberei Schindler. Und dort lebte – zu unserer Freude – ein sprechender Papagei. Allerdings hatte man dem armen Kerl den deutschen Gruß „Heil Hitler“ beigebracht. Keine Ahnung, wie und ob er die Nachkriegszeit überlebt hat.

kn_paradies-am-rhein1970erjahreZu meinem Leidwesen kam dann der Umzug in die Schottenstraße – also „weit weg“ vom Paradies! Doch: neue Gegend, neue Freunde, neue Spielplätze. So gab es dort, wo heute Teile der Fachhochschule stehen, das „Rheinwisele“, ein herrlicher Fußballplatz. Und daneben lagen jede Menge entsorgter Grabsteine unterschiedlicher Größe, auf denen wir unser „Steinerfangis“ spielten. Und auch die Altmaterial-Handlung Justin war da. Und wenn wir Geld brauchten, zogen wir an der einen Seite Schwermetall durch den Zaun heraus und brachten es vorne wieder mit dem Leiterwagen ins Büro – gegen Bares natürlich.

Drei Eier für Anwalt Engelsing

Ein Erlebnis ist mir auch noch in Erinnerung. Bei einer Schneeballschlacht war Rollsplit in meinen Schneeball geraten. Die Mutter meines Kontrahenten zeigte uns wegen der Schrammen an. Meine Mutter ging daraufhin zu Rechtsanwalt Engelsing, dem Vater von Tobias Engelsing. Der fragte meine Mutter nach den üblichen Formalitäten. Als sie sagte, ihr Mann sei gefallen, meinte er: gute Frau, sind drei Eier als Honorar zu viel? Natürlich war das mehr als anständig, und wir haben von unserem Kontrahenten nie wieder etwas gehört.

Eine Spitzbüberei, von der der betroffene Lehrer nie etwas erfahren hat: Mit dem „Chef“, wie wir ihn nannten, mit Humboldt-Direktor Dr. Hermann Venedey, ging die Oberstufen-Klasse für acht Tage zum Zelten in das Engadin. Mit dabei ein junger Assessor, der mit seinem Hämmerchen Steine abschlug und sammelte. Ein Klassenkamerad und ich wurden beauftragt, die Steine von ihrem Ankunftsort in Konstanz in die Schule zu holen. Am Bahndamm waren wir der Meinung, dass diese Steine doch auch schön seien, und wir leerten zwei Kartons unserer „Engadin-Steine“ auf den Bahndamm und füllten die Kartons mit „Bahndamm-Steinen“. Der Clou der Geschichte: Mit all diesen Steinen wurde im Humboldt eine Ausstellung gemacht. Titel: Gesteinsformationen im Engadin. Unsere Steine konnten also nicht so schlecht gewesen sein.

Ein Ereignis der besonderen Art war jedes Jahr das Schwimmen von Meersburg nach Staad. Mit Begleitbooten machten sich die Schüler nach vorheriger Untersuchung auf die fünf Kilometer lange Strecke und stanken dann tagelang nach dem Fett, mit dem sie sich als Kälteschutz eingerieben hatten. Heute wäre so etwas wohl kaum mehr möglich. Die Riege der Bedenkenträger ließe so ein „gewagtes“ Unternehmen keinesfalls mehr zu.

Dieter Seewald (Fotos: Heinz Finke, die uns freundlicherweise vom Rosgartenmuseum überlassen wurden).

Das Bild im Teaser zeigt Paradieser Schulbuben, die sich am „Eisernen Brunnen“ laben, der ursprünglich ein Nutzbrunnen der Gemüsegärtner war. Aufnahme um 1960. Das zweite Bild zeigt die Ufermauer am unteren Paradies. Mitte der 1970er Jahre wurde die natürliche Bucht aufgeschüttet und die gemauerte Schänzle-Uferpromenade mit zahlreichen Bootsliegeplätzen angelegt.

Der Autor, ein gebürtiger Konstanzer, war bis zu seiner Pensionierung lange Jahre politischer Redakteur beim Südkurier, darunter zehn Jahre als Chef vom Dienst.